von Lauretta Hickman

 

42° C, Mitte Mai in Berlin. Das neue Normal.
Was er im biosensitiven Kampfsuit nicht spürte. Hautkontakt wies den Anzug an, zu wärmen; zu kühlen; zu filtern; er galt sogar als antiradioaktiv, bezog Energie und Informationen aus der Umgebung und gab sie an den Körper ab. Im Briefing hatten sie es kurz erklärt: Neueste Raumfahrtfaser, wochenlang gelegen in einem Konverter aus Nullpunktteilchenbeschleuniger, Hybridkammer und…? Das dritte hatte er vergessen. Jedenfalls wurden darin die Grundmoleküle dauerhaft verändert.

Das mit dem Kühlen klappte. Um sein wild klopfendes Herz durfte er sich selbst kümmern.

Markus atmete bauchtief: Auf 7 Zeiten ein – 7 halten – 7 Zeiten aus – 7 halten.
Dabei hörte er sich über die Ohrknospen seines Multifuncthelms mit unwirklich verzerrtem Hall. Durch den Okularspalt sah er aufs HapticHolo in seinem Handschuh: Mikro an. Ja, sollte ja so.

Um sich herum fühlte er die anderen mehr, als dass er sie sah. Minuspunkt für den Helm. Wenn nicht auf 360°virtual eingestellt, war die Sicht zu eng. Merken fürs Protokoll.
Mit ihm am flimmernden Spreeufer standen Kollegen aus Afrika, Südamerika, USA und Europa. Sie waren seine Familie, brutal zusammengeschweißt im Camp bei Strasbourg. Und sie waren EUCO: Die geheime, länderübergreifende Müllabfuhr Europas, seit 2029 eingedampfte Sondereinheit aus EuroGendfors, European Battlegroups, ehemaligen Polizisten und Blackwaters.
Als mobile hochmoderne Einsatztruppe, ausschließlich EU-Befehl unterstehend, machten sie europaweit den Dreck weg: unkooperative Gruppen; unsolidarische Sozialkreditverweigerer; Chipsabotniks; Terroristen; Leute, die lieber demonstrierten, statt zu arbeiten – Socvirs eben. Zack, einsacken. Manchmal auch: Zack, auslöschen. Die schlanke Befugnis hatten sie jedenfalls. Ohne dass sich die jeweilige Nation dafür zu verantworten brauchte, recht praktisch, eigentlich.
Nicht zu vergessen die neuen rOfficers, ebenfalls im Test. Pro 25 Mann einer, somit in seiner Truppe zwei. Sie steuerten heute auch die Drohnen. Mal sehen, wie die Plastikhums, so ihr Spitzname, sich machten.

Außer seinem Nukleus warteten noch fünf weitere um die Treptowers auf ihr Kommando. Gesamt 250 Mann. Neben dem Test der ultramodernen Ausrüstung, der Zusammenarbeit, neuer Formen des Stürmens und Eliminierens machte noch ein Umstand diesen Tag heiß für ihn: es war die letzte Übung seines praktischen Teils. Und die letzte überhaupt. Seine Meisterprüfung quasi. Danach war er Commander europaweit mit uneingeschränkten Befugnissen.

Viel wusste er nicht über den Task heute. Die Treptowers hatten einige Jahre leergestanden wegen Kontamination, waren Ende der 30er in EU-Besitz gefallen und wurden wohl unter anderem für Einsätze wie diesen genutzt. Die Simulation für seine Truppe war: Occupas; Darknet-Terroristen und eine unter falschem Namen registrierte Alternativgemeinschaft, die sich widerrechtlich im oberen Teil des höchsten Gebäudes eingenistet hatten. Ironischerweise dort, wo früher das BKA beheimatet gewesen war, wenn er das korrekt erinnerte. Ab Zutritt hatten sie zwanzig Minuten, um die Banden festzusetzen und drei Rädelsführer auszuschalten. Machten sie das Zeitlimit nicht, entflohen die drei durchs Fenster mit Aerosuits. Damit wäre der Einsatz gelaufen. So wie sein Abschluss.

Markus’ Nerven flirrten. 7 ein – 7
„Uuuunnd… Zugriff!“, schnarrte es metallen via Helm ins Ohr.

Markus gab den Befehl an seine Truppe weiter, sie trabten geschlossen los, auf den Haupteingang des Gebäudes zu. Und gleich die erste Irritation: Gerangel an den Flügeltüren. Dabei war die Reihenfolge klar geregelt gewesen: Markus’ Truppe sollte N° 2 sein. N°1 war wohl nicht schnell genug gewesen, N°3 hatte sich dazwischen geworfen. Nun versuchten alle gleichzeitig, ins Gebäude zu kommen. Markus tippte rasch aufs HapticHolo, um Verbindung zu den anderen Lead Officers herzustellen – eine schmerzhafte Kakophonie aus Rauschen, Knattern und blechernem Gebrüll im Helm war die Ernte. Er spähte nach den Signs auf dem Rücken. Da, das war der Chief von N°3. Markus fasste ihm an die Schulter und sagte: „Wir sind da und wir sind dran. Lasst uns vorbei!“, sich selbst dabei in unangenehm lauter Rückkopplung hörend. Alles nicht gut. Der Kollege hatte ihn scheinbar verstanden, immerhin. N°1 war durch die Türen, dann sie. Drinnen surround sichern und direkt zu den Aufzügen. Acht waren es gesamt, mit 25 Personen zulässigem Gesamtgewicht. N°1 verteilte sich in den ersten beiden, er gab seiner Truppe Zeichen, sich ebenfalls zu teilen, sie betraten Aufzug drei und vier, mit jeweils einer „plastikbehummten“ Drohne. Markus drückte Stockwerk 32. Und spürte den intensiven Aufwärtssog. Gut! Erster Punkt geschafft.

Just als er anhob, die Truppe zu instruieren, wie sie gleich auf 32 vorgehen würden, erlosch das Licht. Der Aufzug stoppte abrupt mit einem scharfen Kreischgeräusch.

Was war das denn jetzt? Teil der Übung? Eine Panne, ein echtes Problem? In Markus kochten Wut und Ungeduld nach oben. Den Erfolg dieser Übung würde er sich nicht nehmen lassen, unter keinen Bedingungen.

Licht! Als erstes brauchten sie Licht. Seine Wut nach unten gängelnd gab er dem HapticHolo den Befehl: NightLED/ Helm/ an! Keine Reaktion. Das Holo selbst leuchtete aber. Markus war das ein Rätsel. Als sie die Suits „trocken“ trainiert hatten, war alles reibungslos gelaufen. Übles ahnend, versuchte er dennoch, akustische Verbindung zur Einsatzleitung, den anderen Chiefs herzustellen. Ergebnislos. Er hörte sich selbst im Helm auch nur mit normaler Stimme, ohne Hall.

Sein Adrenalinspiegel stieg. Er war der Chief. Musste Herr der Lage sein. Klar, aber vor allem schnell denken jetzt!

Ok, Helm runter.
Stockdunkel war es um ihn. Und gespenstisch still.

Er griff zum Körper neben sich, dann nach oben und klopfte auf dessen Helm. Er spürte, wie der Mann ihn abnahm. „Identifizieren!“ sagte Markus. Pierre, einer der Franzosen. Daneben Ogambo, ein Fastfreund aus Ghana. Der Dritte um ihn war ausgerechnet der Plastikhum. Ihn fragte er, ob er Licht machen könne. Das klappte, seltsamerweise. Er wies die beiden Männer an, alle die Helme abnehmen zu lassen. Nach und nach wurde menschliches Atmen hörbar. Der taghelle, schmale Lichtstrahl des Plastikhums sorgte für ein bizarres Ambiente.
Markus glaubte, bereits zu spüren, wie Sauerstoff knapper und sein Kopf wärmer wurden, im Gegensatz zum Körper, dank der Raumfaser nach wie vor wohltemperiert.

7 ein – 7 aus.
Ruhig sagte Markus zur Truppe:„Ehrlicherweise habe ich keine Ahnung, ob das Teil des Einsatzes ist oder eine Panne. In jedem Fall…“
An dieser Stelle löste sich die Drohne, flog unkoordiniert über ihren Köpfen, dotzte mit Hyperspeed an Decke und Wände des Aufzugs und zerlegte sich dabei selbst in Sekunden. Die Teile regneten auf die Männer herab, die sich mit den Händen schützten.

Leichte Verzweiflung ergoss sich in Markus’ Beherrschung.

In diesem Moment hörten sie Klopfgeräusche.
„SOS. Stecken fest“, sagte der Plastikhum mit irritierend eindimensionaler Röchelstimme. Als fehlten ihr Spektren.
„Ach, was!“, sagte Markus.
„Morse. Antiquiertes Meldesystem“, knarrte der Hum.
Markus verstand. Die Kollegen steckten ebenfalls fest. Das beantwortete zwar seine Frage nicht, ob das Ganze eine Panne oder Teil des Einsatzes war. Aber er fühlte leichte Befriedigung. Wenigstens war das Chaos nicht nur sein Misserfolg.

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Nachdem sie alles versucht hatten, von Notfallknopf über forcierte Türaufspreizung bis zur Deckenlukenöffnung, saßen sie eine Stunde später halbwegs bequem ineinander verkeilt auf dem Boden. Immerhin war es dem hum gelungen, die Schäden, die die Drohne hinterlassen hatte, zu größeren Öffnungen zu bohren, so hatten sie Sauerstoffzufuhr. Weiterhin steckten sie fest. Mit heißen Köpfen und gekühlten Körpern.

Die Einsatzleitung hatte inzwischen einen alten CB-Funk aufgetan, das einzige, was zu funktionieren schien. Allerdings nur passiv. Und die Informationen kamen bruchstückhaft an. Was Markus verstand: Gebäude…hermetisch … abgerieg…, … socvirs… nicht fliehen; niemand … ins Gebäude. Such… Ursach

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Fünf Stunden und eine routinierte Körperpositionswechseltechnik später war Durst das Hauptproblem. Wiederum hatten sie soviel voneinander erfahren wie in dem halben Jahr gemeinsamen Camps nicht. Die entstandenen Gespräche offenbarten eine erstaunliche Verbindung, jenseits ihrer Unterschiede in Alter, Herkunft, Kultur und Grundausbildung. Sie waren alle Waisen. Durch Krieg, Verschleppung, Adoption, Flucht und vergleichbaren Gründen. Pierre zum Beispiel hatte seit Geburt eine lange Heimkarriere hinter sich. Ogambos Familie war vor seinen Augen getötet worden durch die Gang eines westlich installierten Warlords. Markus hatte seine Familie damals, 2024, im „gelben Strich“ verloren. Wie so viele.
Ihr Motiv, hier mitzuspielen, war ebenfalls ähnlich: Sicherheit. Die, die ihnen der rückhaltlose, streng strukturierte Zusammenhalt in Ausnahmesituationen gab; und die, die sie Europa gaben. Sowie das Gefühl von Familie. Beides band sie aneinander. Und an die Organisation.

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Die dürftige Zusammenfassung der spektakulären Panne erhielt Markus eine freie Woche später zusammen mit den anderen Chiefs. Die antike Antenne für UKW-Rundfunk auf dem Dach und ein 7G-Sendemast hatten destruktiv interferiert mit den neuen Frequenzen. So wurde eine uralte elektrische Gebäudesicherung ausgelöst, von deren Existenz angeblich niemand gewusst hatte. Auch die Flucht der „Rädelsführer“ war von der automatischen Fensterverriegelung vereitelt worden. Sie hatten zwar Sauerstoff und Wasser, gingen aber in den sechs Stunden fast ein vor Hitze. Die Klimaanlage hing wohl an einem anderen System als die antiquierte Verriegelung.

Als Markus sich später mit seinen Brüdern Ogambo und Pierre traf und ihnen berichtete, sahen sie die schlechte Locationrecherche ihrer Toporganisation gleich kritisch. Es erleichterte ihnen aber ihre eigene geheime, frisch begonnene Ermittlung: Wurden tatsächlich nur Waisen in diesen Dienst aufgenommen? Warum?

 

 

 

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