Von Robin A. Frey

Der junge Mann bekreuzigt sich, atmet den Weihrauch tief ein, als würde es ihn berauschen. Er legt das Gebetsbuch auf die Bank vor sich, wo bereits ein zweites liegt. Er kniet nieder, schließt die Augen. Der schwarzgekleidete Alte neben ihm nickt stumm, erfasst das Buch, schlägt es auf, blättert ruhig um, flüstert vor sich hin. Der jüngere lächelt, denn als er die Augen wieder öffnet, erkennt er den prallen Umschlag, der im zweiten Gebetsbuch steckt.

In den alkoholgeschwängerten Nebeln des nächtlichen Berlins, einer Stadt berüchtigt für ihre ausschweifenden Vergnügungen, schwenkt Maxine deReyon ihre langen Beine im Kabarett „Kunst & Seide“ als die gefeiertste Burlesque-Tänzerin der Weimarer Republik.
Doch sie hütet ein dunkles Geheimnis. Nein, nicht, dass sie sich vor der Show den Bart rasiert, und auch nicht, dass sie etwas zu wenig Material im Dekolleté hat, dafür zu viel im Schritt. Nein, Maxine hat ein Geheimnis – Max ist tagsüber Informationsvermittler, die mit den Skandalen und Geheimnissen der Stadtelite handelt, die sie nachts als Maxine, die Gäste bezirzend, erhascht. Eine Flasche Schampus öffnet noch manchem Mann das Herz, und Maxine berührt von etlichen einflussreichen Gästen nicht nur das Herz.

„Da braut sich was zusammen“, reicht Lotte die Zeitung an Maxine, „ich trau den Bonzen nicht“, moniert sie und klaubt eine Zigarette aus dem Etui.
Erstaunt tippt Maxine aufs Bild. „Diese drei Typen kenn ich doch aus dem Publikum.“
„Du gottverdammter Müssiggänger!“, stürmt Erik mit hochrotem Gesicht in die enge Künstlergarderobe rein, „Warum zum Teufel brauchst du so lange, Max?“
„Nenn mich nicht Max, Liebling“, drückt sie den Knauf ihres Flanierstocks dem Kabarett-Direktor auf die Brust, „Nenn mich die göttliche Maxine deReyon.“
Mit divenhafter Eleganz, tritt sie aus der schummrigen Garderobe ins gleissende Scheinwerferlicht der Bühne hinaus. Ihr gehört die Nacht.

Max grübelt im Kerzenschein über den auf dem Küchentisch ausliegenden Notizzetteln. Notizen, die er über die vergangenen Monate gesammelt hat.
Abschriften von denen, die er verkauft hat, dazu die unzähligen, die Namen enthalten, die er für sich behalten hat. Da gibt’s Zusammenhänge: finstere Zusammenhänge, mächtige Zusammenhänge, die Zettel wird er nicht verkaufen. Er wird selbst verhandeln!
Max greift zur Feder und kritzelt hastig einen mutigen Brief an den Beamten, dessen Namen er nur aus den Notizen kennt.

Es hat sich gelohnt. Bereits am nächsten Tag zählt Max auf demselben Tisch die Geldscheine – aber da liegt doch bestimmt noch mehr drin?
Und so treffen sie sich wieder, in der schummrigen Gasse, gleich neben dem Theater. Gehässig reicht der Erpresste Max den Umschlag. „Du Dummkopf, du verstehst nicht, wer dahintersteckt, lass die Finger davon, ich bin bloß ein kleiner Fisch.“
„Ich kenn den ganzen Teich“, blufft Max und wirft seine Zigarette aufs regenfeuchte Kopfsteinpflaster, um die Hand für den Umschlag freizumachen. „Ich hab all die Karten in meiner Hand.“
Eine Figur im Schatten der Laternen beobachtet die beiden.

„Von Strotz hat’s erwischt“, reicht Lotte die Zeitung an Maxine, „aber der war eh zu selten da“, moniert sie und klaubt eine Zigarette aus dem Etui.
Ungläubig fährt Maxine übers Bild. „Wenn dieser Beamte nur ein kleiner Fisch war … verflucht, wer sind denn die großen?“
„Die gottverdammten Bullen!“, stürmt Erik mit leichenblassem Gesicht in die enge Künstlergarderobe rein, „Warum zum Teufel fragen die nach dir, Max?“
„Nenn mich nicht Max, Liebling“, schmeißt sie ihre Perücke auf den Boden, „Nenn mich Graf Zeppelin.“
Mit trapezerartistenerpropter Eleganz, schwingt er sich aus dem Fensterrahmen, in die nebeldichte Nacht hinaus. Ihm gehört die Dunkelheit.

Wieder sitzt er an einem Tisch, diesmal bei Tante Trude, die Morgenpresse nennt Max als Hauptverdächtigen auf der Flucht.
Er brütet über den Informationen, will herausfinden, wer dahintersteckt, wer ihm den Mord des kleinen Fisches anhängen will.
Tante Trude schaut schief über seine Schultern, runzelt die Stirn, schiebt ein paar Notizen zurecht, schaut ihm besorgt ins Gesicht. Er versteht, ein politischer Umsturz steht der Stadt bevor, doch wer steckt dahinter?
Tante Trude tippt wortlos auf einen Zettel. Ein konspirativer Maskenball findet morgen Abend statt.

Die Szenerie nervös beobachtend rührt Maxine ihr Glas Champagner.
Eine elegante Dame mit einer zauberhaften Maske tritt zu ihr. „Wir haben Sie schon erwartet“, spricht sie mit kühler angespannter Stimme: „Sie haben vielleicht unsere Pläne aufgedeckt, Max, aber Sie wissen doch,“ sie seufzt, zuckt die Schultern, „die Bauernopfer im Schach …“
Die Musik stoppt, die Masken fallen.
Maxine erkennt etliche der Anwesenden: Politiker, Adlige, Militärs und Mitglieder der Unterwelt, und alle starren auf sie. Der mächtige Puppenspieler, der diesen Plan inszeniert hat, ist einflussreicher und gerissener, als Maxine es sich jemals vorgestellt hat: nicht nur die Stadt, sondern die ganze Republik, vielleicht sogar die ganze Welt ist nun in Gefahr. Und ihr Leben!
Ihr Herz rast wie der Motor eines Automobils, als sie zu den weißen Türen geleitet wird. Die schweren Flügel schwingen auf, ein Mann in Uniform steht von seinem throngleichen Sessel auf.
„Maxine deReyon“, murmelt frostig die sonore Stimme von Heinrich Prinz von Zedernhausen.

„Eine Nutte wars?“, reicht Lotte ungläubig die Zeitung an Maxine, „das glaub ich nicht, da steckt sonstwer dahinter“, moniert sie und klaubt eine Zigarette aus dem Etui.
Desinteressiert schnippt Maxine mit dem Finger aufs Bild. „Ich spiel gern Schach.“
„Dieses gottverdammte Gemüse!“, stürmt Erik mit einem Bund Rosen in die enge Künstlergarderobe rein, „Warum zum Teufel bringen heute alle diese grässlichen Blumen für dich, Max?“
„Nenn mich nicht Max, Liebling“, streckt sie ihm die Hand mit einem fetten Klunker am Ringfinger entgegen. „Nenn mich Maxine, Prinzessin von Zedernhausen.“
Mit royaler Eleganz, schiebt sie sich zwischen Läufer und Turm auf das schwarz-weiß parkettierte Spielfeld hinaus. Ihr gehört die Welt.

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