Von Ingo Pietsch

 

Annegret blickte stolz durch das Schaufenster des Reformhauses.

Dort präsentierten sich die Kirschkernkissen, die sie selbst genäht hatte. Liegend, an Holzwürfeln lehnend und einige „schwebten“ sogar hängend an unsichtbaren Nylonfäden, leicht schwingend von der Heizungsluft bewegt.

Es gab sie mit Streifen, Karos, in Regenbogenfarben oder in uni Color.

Sie erinnerte sich daran, wie vor zehn Jahren alles begonnen hatte.

Annegret war in den wohlverdienten Ruhestand gegangen. Sie hatte ihr ganzes Arbeitsleben als Sekretärin in einer einzigen Firma gearbeitet und war dort sehr geschätzt gewesen.

So wie ihr beliebter Kirschkuchen. Der Kuchen mit den besonderen Kirschen und dem besonderen Etwas.

„Annis Kirschkuchen“ war er einfach genannt worden.

Das waren zwei Dinge, denen sie sich neben der Arbeit verschrieben hatte: Backen und Schneidern.

Da sie keine Familie außer ihren Verwandten besaß und auch sonst keinen weiteren Hobbys frönte, hatte sie eine Menge Zeit.

Dann nähte sie für eine Bekannte, die an regelmäßigen Muskel- und Regelschmerzen litt, ein Kirschkernkissen.

Aufgrund der hohen Qualität des Kissens empfahl sie die Bekannte weiter und durch alleinige Mundpropaganda kam Annegret dazu, eine kleine eigene Kollektion herauszubringen, die sie ganz alleine fertigte.

So verband sie beide Talente miteinander.

Doch auf Dauer war ihr das Kirschenentsteinen mit dem Kirschentkerner zu mühselig. Sie hatte ein Handgerät und ihre Handgelenke begannen nach längerer Tätigkeit zu schmerzen.

Außerdem konnte sie in der Zwischenzeit nichts anderes tun, da sie voll mit dem Entsteinen beschäftigt war.

Annegret wollte aber auch kein elektrisches Gerät benutzen, da die Kirschen oft beschädigt wurden und nicht mehr so ansehnlich waren.

Kirschen aus dem Glas kamen auf keinen Fall in Frage, da sie durch das Einlegen eh schon so matschig waren.

Nach langem Überlegen kam sie auf eine Idee.

Umso mehr freute sie sich, dass sogar Leute, die sie gar nicht mochte, davon profitierten.

Sie brachte eines Abends den Biomüll nach unten, als sie sich wieder einmal über den Nachbarsjungen ärgerte.

Ständig stibitzte er verschiedene Dekorationsartikel vor ihrer Wohnungstür. Herbstkränze, Vasen mit Blumen oder Figuren, die sie auf ihre Fußmatte gestellt hatte.

Sie hatte ihn oft durch den Türspion beobachtet, war aber nie schnell genug gewesen, ihn einzuholen und ihm `lange Ohren zu machen`. Das hätte Annegret natürlich nie getan, aber vorgestellt hatte sie es sich schon.

Als sie die Mutter des Jungen darauf angesprochen hatte, war diese sehr empört gewesen, da sie sich das bei ihm gar nicht vorstellen konnte, dass er so etwas machte.

So entschied Annegret es einfach zu dulden.

Sie ging die Treppe herunter, als der Junge an ihr vorbeihastete und ihr den Bio-Beutel aus der Hand riss.

Erschrocken klammerte sie sich an das Treppengeländer und begann, als sie sich von dem Schrecken erholt hatte, innerlich zu grinsen.

Das Säckchen war randvoll mit Nusskernen gewesen, die Annegret nicht mehr benötigte.

 

Am nächsten Tag klingelte es an Annegrets Tür. Der Junge von nebenan stand dort mit dem Cappy in der Hand und entschuldigte sich kleinlaut für sein Verhalten und fragte, ob sie nicht noch mehr Nusskerne für ihn habe.

Annegret ging in die Küche holte noch einen Beutel, den sie eigentlich hatte entsorgen wollen.

Zumeist handelte es sich um Mandeln und Erdnüsse.

Sie konnte keine Nüsse mehr essen, da ihre Zähne doch hohen Zuckerkonsum in jungen Jahren schon stark angegriffen waren.

Annegret freute sich. Anscheinend war hier eine Win-Win-Sitution entstanden.

Was der Junge allerdings nicht wusste, war, warum Annegret Nüsse in hohen Mengen hortete.

Da Annegret ja Probleme mit dem Kirschentsteinen hatte, war ihr die Idee gekommen, die Kirschen mit dem Mund zu entkernen.

Da frische Kirschen, insbesondere im Winter sehr teuer waren, hatte sie damit begonnen, Nussschokolade und Nussdragees zu kaufen und die Nüsse herauszulutschen.

Nach diesen Übungen gelang es ihr, innerhalb kürzester Zeit Kirschen fast ohne sichtbare Spuren zu entkernen.

Und sie hatte die Hände für andere Dinge frei.

Natürlich wusch sie die Kirschen im Anschluss noch einmal ab. Aber man konnte behaupten, dass ein Teil von ihr in jedem Kirschkuchen steckte.

Und weil ihr das so viel Spaß machte, überlegte sie sogar, ob sie im nächsten Jahr nicht sogar damit anfangen sollte, Zwetschenkuchen zu backen und Zwetschenkernkissen zu produzieren und vielleicht noch jemanden einzustellen, der ihr beim Entkernen half …

 

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