Von Peter Burkhard

 

An diesem Spätnachmittag Ende September ging Thabo schneller heimwärts als sonst.
Der Wetterdienst hatte eine Regenfront auf den späteren Abend angekündigt. Zudem wollte er keinesfalls das Spiel der Springboks gegen den Titelverteidiger Neuseeland verpassen. Am meisten aber beflügelte ihn sein Tagesverdienst. Nie zuvor hatte er an der Straße mehr eingenommen als an diesem Samstag: Hundertachtzig Rand. Das war mehr, als Umama jeweils von ihrer strengen Arbeit heimbrachte.
Thabo lebte mit seiner Mutter und der jüngeren Schwester in Noshita, einem unbedeutenden Ort in der südafrikanischen Provinz KwaZulu-Natal. Die zehnjährige Ayanda besuchte die Grundschule und die Mutter arbeitete im Lager eines nahe gelegenen Supermarktes. Seinen Vater hatte er seit Monaten nicht mehr gesehen. „Er schuftet im Zuckerrohr“, nahm ihn Umama in Schutz. Er saufe in Durban herum, hieß es im Dorf. Geld schickte er jedenfalls nie.
Der Junge war sechzehn, ein Alter, in dem einige seiner Freunde einer einfachen Arbeit nachgingen. Die meisten seiner Altersgenossen hingegen bevorzugten es, dies- oder jenseits des Randes zur Kriminalität etwas Geld für ihre Familien zu beschaffen. Thabo hatte sich für einen halbwegs legalen Mittelweg entschieden.

* * *

„Thabo, steh auf, es ist halb fünf. Wenn du bei Sonnenaufgang auf dem Platz sein willst, musst du jetzt los.“ Umama hasste es, ihren Sohn so früh wecken zu müssen. Trotzdem erhob sie sich jeden Tag zeitig, um ihm nebst etwas Biltong, Brot und Wasser ihre moralische Unterstützung mit auf den Weg zu geben. So auch an diesem Sonntagmorgen.
Schlaftrunken und widerstandslos schlüpfte der Junge in seine Hose und zog sich sein verschlissenes Springbok T-Shirt über den Kopf. Heute sollten es alle sehen, die es nicht wussten, dass in seinem Körper grünes Blut floss. Denn seine Boks hatten am Abend zuvor die All Blacks besiegt. Knapp, aber unbestritten, welcher Triumph!
Thabo stand bereits in der Tür, als er kehrtmachte und zu seiner Schlafstätte zurückging. Er zog einen Baumwollbeutel unter dem Kopfkissen hervor und entnahm ihm einige Noten. Den Rest des Geldes legte er unbemerkt unter die Matratze.
„Umama, hier ist noch mein Verdienst von gestern. Den habe ich vor Aufregung um das Gewitter und den Match völlig vergessen. Es lief super, es sind hundertzwanzig Rand. Vielleicht ist das Grund genug, dass du heute weniger lang arbeiten und dafür leckeren Mielie Pap und etwas Fisch zubereiten könntest.“
Die Mutter stellte ihre Kaffeetasse auf den Tisch und fuhr ihrem Sohn liebevoll durchs Haar. „Werde nur nicht übermütig, junger Mann und schau, dass du heute nicht wieder so durchnässt nach Hause kommst. Und jetzt geh Thabo, es dämmert bereits.“

Der Weg entlang der Straße bis zum Margate Country Club betrug etwa sechs Kilometer. Obwohl der Golfplatz durch die Felder viel näher gelegen hätte, ging Thabo auf der Straße. Die Abkürzung war zu gefährlich. Noch riskanter, als es sein Arbeitsweg ohnehin war, auch ohne Dickicht und Tiere. Bereits zweimal hatten ihm Unbekannte aufgelauert und ihm seinen ganzen Verdienst geraubt. Dabei hatte er Glück, dass sie ihn beide Male am Leben ließen. Thabo marschierte zügig und erreichte die Fairways nach einer knappen Stunde. Unter einer großen metallenen Tafel, die das erste Sonnenlicht reflektierte, hockte er sich kurz ins Gras. Das Schild warnte Passanten, die am Rand des Golfgeländes vorbeikamen: ‚Warnung! Achten Sie auf fliegende Golfbälle, Krokodile und Hippos. Schwimmen in den Gewässern verboten!‘
All diese Gefahren waren dem Jungen bewusst. Trotzdem musste er sich bei seiner Arbeit den Risiken aussetzen, denn viele der begehrten Exemplare befanden sich an den seichten Uferrändern oder im knietiefen Wasser. Einmal hatte ihn ein Krokodil aus der Ufervegetation angefaucht und regelmäßig vernahm er das nahe laute Grunzen der gefährlichen Flusspferde. Er hasste seinen Job, doch es blieb ihm keine Wahl.
Sie waren zu viert oder zu fünft, welche auf dem weiten Gelände des mondänen Country Clubs die verstreuten Golfbälle zusammenlasen. Thabo wusste es nicht genau, denn die Sammler gingen sich tunlichst aus dem Weg. Über die Monate und Jahre hatten sich Reviere ergeben, deren ungefähre Grenzen man besser nicht übertrat. Der einzige Rivale, den Thabo kannte und den er nicht riechen konnte, war Junior, sein ehemaliger Klassenkamerad. Ihre Sammelgebiete überschnitten sich teilweise und schon mehrmals waren sie sich deswegen in die Haare geraten. Selbst am Highway, der R61, kam es unter den beiden oft zu Auseinandersetzungen. Dort, am Rand der staubigen Schnellstraße verkauften die Jugendlichen ihre gefundenen Bälle, gereinigt und in billige Netzchen verpackt. Dazu holte Thabo an trockenen Tagen einen großen, beschrifteten Karton aus seinem Versteck. Mit dem selbsterdachten Slogan ‚Lakeballs – Golfbälle mit Erfahrung‘ gelang es ihm gelegentlich neue Kunden zu ködern, einige wiederum schauten regelmäßig vorbei.

* * *

Thabo trat von einem knallroten BMW zurück, dessen Fahrer seinen Boliden mit quietschenden Reifen auf die Gegenfahrbahn lenkte und davonbrauste.
Plötzliches lautes Geschrei durchbrach seine Gedanken zum guten Deal, den er eben getätigt hatte. Es kam aus der Richtung, wo Junior seine Geschäfte normalerweise abwickelte. Thabo versuchte das Lamento zu ignorieren und hockte sich wieder neben seinen Werbekarton. Als ob nichts wäre, stapelte er seine mit sechs oder zehn Bällen gefüllten Netzchen aufeinander. Noch waren es vier, die er unbedingt loswerden wollte.
Das Schreien seines verpönten Konkurrenten riss nicht ab, im Gegenteil. Er brüllte um Hilfe, als ob es um sein Leben ginge.
Widerwillig entschloss sich Thabo nachzusehen.
Was er entdeckte, schockierte ihn zutiefst: Junior lag rücklings, mit zerfetzten Hosen und stark blutenden Gliedmaßen wehrlos in einem ausgetrockneten Wasserlauf.
„Hilf mir, Thabo, bitte, hol mich hier raus.“ Junior versuchte sich aufzurichten, doch er sackte auf den Boden zurück.
„Verdammt, was ist passiert? Hat dich ein Tier angegriffen?“ Zuerst dachte Thabo an eine große Raubkatze, aber die kamen hier nicht vor.
„Ja, ein Ratel. Einer dieser verfickten Honigdachse ist auf mich losgegangen, weil ich meinen Proviant verteidigen wollte.“ Junior wand sich wimmernd, gepeinigt von Schmerz und Zorn.
Als Thabo den zerrissenen Rucksack unter dem Körper des Schwerverletzten entdeckte, war ihm alles klar
„Du Idiot, warum wehrst du dich gegen einen Ratel? Das konnte nie und nimmer gut gehen. Lass mich deine Wunden sehen.“
Junior schrie auf, als sein Helfer einige mit den offenen Stellen verklebte Stofffetzen anhob. An beiden Beinen und Händen hatte der aggressive Marder heftig blutende Bissverletzungen und tiefe Fleischwunden mit seinen Krallen hinterlassen.
Thabo war klar: Ohne schnelle ärztliche Hilfe schwebte sein Erzrivale in ernsthafter, wenn nicht tödlicher Gefahr.
„Bleib ruhig! Bleib da liegen, ich hole Unterstützung.“ Er rückte vorsichtig den Rucksack unter den Kopf des
Verletzten, riss sich los und rannte auf die Straße hinaus …

 

Zwei Monate später …

„Halleluja“, rief Pastor Sipho Nelson Mthembu. „Gott sei gepriesen! Wir danken Dir, Allmächtiger, dass wir uns heute in Deinem Haus versammeln dürfen, um zu feiern.“
„Halleluja“, riefen die anwesenden Kirchgänger begeistert und begannen zu singen. Alle bis auf einen stimmten ein, klatschten und intonierten aus tiefster Seele ‚Blessed Be Your Name‘. Der einzige, der nicht sang, war ein Jüngling in der vordersten Bankreihe des kleinen Gotteshauses. Zusammengesunken und in sich gekehrt saß er da und ließ die Lobgesänge über sich ergehen.

„… so grenzt es an ein Wunder, dass du genesen konntest und heute wieder unter uns weilst.“ Pastor Mthembu trat vom Podium herunter und umarmte Junior, der sich nicht dagegen wehrte. Vielstimmiger Jubel erfüllte den Raum. Dann richtete sich der Prediger auf und hob seinen rechten Arm, worauf der freudige Lärm augenblicklich verstummte.
„Liebe Schwestern und Brüder, jemand fehlt heute in unserem Kreis.“ Er hielt inne.
„Es ist der junge Mann, der durch sein beherztes Handeln Juniors Leben gerettet und ihn in unsere Gemeinschaft zurückgebracht hat. Dieser Held ist heute nicht da. Und warum nicht?“
Die Stimme des Geistlichen überschlug sich. „Weil er arbeitet. Jawohl, Gott sei’s gedankt, Thabo hat Arbeit gefunden in unserem Golfclub, als Anerkennung für seine entschlossene Tat. Halleluja …“

* * *

Thabo konnte die freudigen Gesänge und das rhythmische Klatschen im weit entfernten Gotteshaus nicht hören. Er stand am Rand eines frisch gerechten Bunkers, stützte sich auf sein Arbeitsgerät und betrachtete gelassen sein Werk. Darauf ging er zurück zum Clubhaus, wo er die Gerätschaften versorgte und sich auf sein neues Fahrrad schwang. Für diesen Vormittag war sein Dienst als Hilfs-Assistent des Greenkeepers zu Ende.

Als der Junge eine halbe Stunde später sein Bike in den Sand seiner Lieblingsdüne warf, empfing ihn der Indische Ozean mit Myriaden glitzernder Wellen, die seine Augen blendeten.
Thabo ließ sich fallen und schob seine Springboks-Kappe in die Stirn. Versonnen betrachtete er die feinen Körner, die er langsam auf den leuchtend gelben Golfball zwischen seinen Beinen rieseln ließ.
Er lächelte in sich hinein und schloss die Augen.
Noch ist es keinen Monat her, dass ich im Staub der R61 herumhockte. Und jetzt bin ich hier, habe Arbeit in einem angesehenen Club und ein Rad, für das die Kirchgänger Geld gespendet haben.
Eine Windböe wirbelte ihm Sand ins Gesicht, ohne dass er die geringste Regung zeigte.
Heute Abend werde ich Pastor Mthembu einen kurzen Besuch abstatten und ihm als Dank diesen gelben Lakeball schenken. Und wenn ich meinen Job behalten kann, soll Umama am Wochenende nicht mehr arbeiten müssen. So wahr ich hier sitze.
Nichts, auch nicht der nächste Windstoß, vermochte in diesem Moment an seiner Zufriedenheit zu rütteln.

 

 

 

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