Von Helga Rougui

Ich bin immer schon ein Freund von Kreuzworträtseln gewesen – und ein Feind jeglicher geistiger Anstrengung. Ein „gutes“ Buch lesen – zu anspruchsvoll, eine Zeitung durchblättern – zu mühsam, Bilderbücher anschauen  –  zu verwirrend, zu bunt, zu sehr die eigenen Gedanken fordernd.

 

Kreuzworträtsel – angenehm übersichtliche Raster, die keinen verkrampft gewollten Sinnzusammenhang präsentieren.

Kreuzworträtsel – vorzugsweise eher kurze, in ihren Kästchen wohlverwahrte Wörter, die nicht in endlosen Buchstabenschlangen über die Seiten wandern –

 

Schlangen. Auch sie sind mir ein Greuel.

Die glänzende geschuppte Haut, das leise schabende Geräusch, das sie beim Kriechen machen, die unkontrolliert hervorschnellende Zunge – das ist kein Tier, dem ich im Wachen noch im Traum begegnen möchte.

Meine Abneigung geht so weit, daß ich nie einen Zoo besuche – müßte ich mich doch an der Kasse in einer Schlange anstellen, um Einlaß zu finden  – und wie gesagt, ich hasse Schlangen.

 

Sehr enttäuscht war ich von einem Rätselheft, das als attraktive Neuerung ein Kapitel „Schlangenrätsel“ anbot. Sie können sich das Desaster ausmalen – unendliche, sich vor meinen Augen quasi auseinanderrollend windende Buchstabenfolgen, sich zu Wörtern fügend, deren Enden jeweils den Anfang des neuen Wortes bildeten – ich pfefferte den Band in eine Ecke meiner Zelle, und von diesem Zeitpunkt an waren auch Kreuzworträtsel für mich gestorben.

 

Ach ja, zu Schlange und Kreuzworträtsel gesellt sich noch mein drittes bevorzugtes Haßobjekt, brassica oleracea italica oder auch marktgängig Broccoli genannt.

 

Eines Mittags fand ich mich wieder an meine Liege gefesselt, nur weil ich versucht hatte, die langen Stengel brassica etc etc  auszurupfen, die mir im Laufe des Vormittags statt der Haare gewachsen waren. Ich war recht wütend – war es doch nicht das erste Mal, daß mich dieses Gemüse in Schwierigkeiten brachte.

 

Die Tür öffnete sich, und Fräulein Kabee trat ein, einen mit einem Irgendetwas randvoll gefüllten Teller vorsichtig in den Händen tragend wie einen Gral.

 

(Ich bin ein wenig stolz auf mich – diese Assoziation für ein bildungsfernes Wesen, wie ich es vorgebe zu sein, war, so fand ich, recht beachtlich. Allerdings, ohne die Notwendigkeit dieses Hinweises wäre ich tatsächlich Besitzer einer Souveränität, von der ich bislang nur träumen kann. Wobei Souveränität auch so ein zweischneidiges Wortschwert ist – ich denke, es hat etwas mit Freiheit und Gelassenheit zu tun, aber auch mit Hochmut und Unduldsamkeit – aber wie möchten Sie wohl frei sein können, wenn Ihnen jeden zweiten Tag Broccoli auf der Kopfhaut wachsen?)

 

Ich beäugte den Teller, den Fräulein Kabee auf das Tischchen neben meiner Liege gestellt hatte, und fragte:

„Was ist das? Suppe? Etwa Buchstabensuppe? Ich hasse Buchsta …“

„Das ist Kartoffelstampf, und ich hoffe, daß du dran erstickst.“

 

Das hat sie jetzt nicht gesagt, oder? So was darf sie nicht sagen. Das ist verrückt. Irgendeiner vertauscht hier die Rollen. Wie könnte ich Verrücktheit erkennen? Das geht doch gar nicht.

 

Ich starre dem breiten, Richtung Stahltür entschwindenden Rücken des Fräuleins hinterher und versuche mich am Kopf zu kratzen – der Broccoli juckt fürchterlich – aber meine Arme sind gut festgeschnallt.

 

ich komm nicht dran an meinen kopf jetzt weiß ichs sie hat gesagt ich hoffe daß du dirs auf den kopf pickst ah ja damit das broccolijucken nachläßt vielleicht fallen die stengel sogar aus besser ne glatze als so ne frisur

 

Nur – wie soll ich mir die Packung auf den Kopf praktizieren? Meine Arme sind immer noch fixiert. Das macht sie extra, die blöde Kuh.

 

Ich fange an zu schreien.

 

Die Tür geht auf, und der Mann mit den roten Haaren erscheint. Nun wird alles gut.

 

„So, Frau .m..b.l..l..m, nun wollen wir erst mal den Kohl von Ihrem Kopf entfernen – “

 

Ich nicke erleichtert. Obwohl ich den Namen nicht verstanden habe, mit dem er mich angeredet hat, merke ich, daß ich gemeint bin, und ich merke, daß er mir – wieder einmal? – versucht zu helfen. Gleich darauf spüre ich einen leichten Stich, und alsbald fällt der Broccoli zu Boden, meine Arme sind frei, und ich setze mich auf.

 

Ich esse den Kartoffelstampf, der ist echt lecker ist der, und dann fährt man mich zurück in mein Zimmer, laufen kann ich schon lange nicht mehr, aber so eine Liege ist ja auch sehr bequem, ich kann überall hin, und immer wenn ich erscheine, machen alle Platz, das ist sehr angenehm, ich habe immer die erste Reihe im Fernsehzimmer, und es stört mich auch nicht, wenn die Leute mich hinter meinem Rücken der „Kleine Häwelmann“ nennen – ich meine, wer weiß denn heute noch, wer der „Kleine Häwelmann“ ist? die leute offenbar aber ich beschließe daß dieser logische fehler mich jetzt mal nicht stört  Sie könnten mich auch Marilyn Monroe nennen – ich weiß nicht, warum sie es nicht tun – die kennt heute auch keiner mehr.

 

Belanglos.

Fakt ist, daß mich niemand bei meinem richtigen Namen nennt, und so habe ich ihn vergessen, oder ich erkenne ihn nicht mehr – wie eben, als mich der rothaarige Mann angesprochen hat.

Namen sind nicht wichtig, Namen sind Buchstaben, ich hasse Buchstaben.

 

Das Stück Mensch, das mir jeden Morgen aus dem Spiegel entgegenblickt, verliert jeden Tag ein wenig mehr das Recht auf eine Bezeichnung, die es für eine Teilnahme am aktiven Leben legitimiert – das Alter ist, egal wie man es dreht und wendet, das mehr oder weniger kurze Schweineschwänzchen der Lebensphase, in der man vor lauter Machen, Tun und Treiben alles beiseite schieben konnte, was mit der Endlichkeit unseres menschlichen Seins zu tun hat – nun aber, ohne die tägliche Tretmühle, geliebt oder ungeliebt, trennt den alten Menschen nichts mehr von der freien unverstellten Sicht auf ein endgültiges Ende, ohne daß er eine Chance hätte, den Blick abzuwenden – dafür ist der Nacken zu steif und die Gelenke sind eingerostet und der Rücken schmerzt. Körperliche Defizite füllen die Tage aus wie vormals der Dienst an der Gesellschaft oder deren Ausbeutung oder Belustigung.

 

Ich starre in den Spiegel, sehe das junge Mädchen, das ich einmal war – und werde von dieser Welt gehen, ohne daß ich das Rätsel, das ich mir bin, gelöst haben werde.

Die Zukunft der Vergangenheit, für einen winzigen, meinen letzten Moment.

Mehr gibt es nicht.

Für keinen.

 

***

 

Das ist das Ende dieser Beinahe-Geschichte, würde aber dem Prinzip meines Daseins widersprechen – solange noch irgendwas da ist, wird es ergriffen, seien es nun Jahre, Monate, Tage, Stunden, Minuten – oder wie hier Zeichen, die übrig sind und die man nicht umkommen lassen sollte.

 

Was weiß ich, ob ich die sein werde, die mit Schlangen im Haar in irgendeiner Klapse enden wird? Oder werde ich Broccoli essend, vegan, keimfrei und völlig gesund auf meinem Balkon meinen letzten Atemzug in ein halbvolles – und bis zum Schluß niemals halbleeres – Glas schweren spanischen Rotweins hineinhauchen – darin wird er gut aufgehoben sein für eine kleine Weile und sanft verströmen, wenn man denn das Glas in den Ausguß entleert. Ich werde es nicht mehr sein, die dieses Glas leert – und die vielen Gläser, die ich vorab geleert habe, werden Vergangenheit sein, keine, die die Historiker untersuchen, aber meine ganz persönliche, uninteressante, eigene Vergangenheit.

Wieviel Erleben ging seit Anfang der Menschheitsgeschichte unerkannt und unerinnert den Bach runter … Leben ist Schall und Rauch, das ist tatsächlich so und besser hat es noch keiner gesagt.

 

Da könnt ihr VHS-Kurse belegen oder endlich endlich außerhalb der Hochsaison in die Urlaubsbrennpunkte fahren – ihr zaubert euch jede Menge Neuanfänge, um das unerbittliche Ende schön zu schminken.

 

Nun ja. Wems hilft.

Oder man stelle sich der Realität und verzichte auf diese letzte Illusion von Unendlichkeit.

 

***

 

Noch immer sind Zeichen übrig. Ich denke, ich gebe nach. Wo ist mein Kamm? Ich nehme ihn zur Hand und beginne langsam die Broccoli auf meinem Kopf zu striegeln, auf daß sie weich werden und ich mich endlich mit ihnen befreunden kann.