Von Ralf Rodrigues da Silva

Wochenanfang. Es war einer jener Tage, an denen man sich am liebsten zuhause im Bett verkrümelt hätte; ein Schoko-Croissant in der einen Hand, einen Café au lait in der anderen – , begleitet vom wohltuend vertrauten Sound des Heimatsenders als einzigem Gegenüber.

 

Ein bedauernswerter Blick aus dem Fenster brachte Gewissheit: Ein trüber Tag lag vor ihm. Zudem, Ernüchterung: Adressiert an all’ die unzähligen Fremden, die sich bei diesem Grauschleier, bei diesem Regen mehr klamm, als heimlich auf ihren Weg zur Arbeit gemacht hatten. Er fragte sich, ob er in etwa zwanzig Minuten als Teil der anonymen Masse dazugehören würde zu diesem Gesamtkunstwerk einer Schirmenformation: Mit zeitweise herausragenden Gummistiefelhälsen, Partikeln von Aktentaschenriemen und Typografiefragmenten ungelesener  Journale. Oder würde er doch eher eigenwillig ausscheren aus der weisshäutig aufgezwungenen Choreografie, Pfützen grösstenteils umgehen? Würde in ihm gar ein unnachahmlicher Fred Astaire erwachen, der samt extravaganter Schirmherrschaft sein angeborenes Takt- und Rhythmusgefühl zum Leben erweckte, um die spiegelnassen Flächen mit umzirkelnden Schwung einfach zu vertanzen?

 

Er musste angesichts seiner nougatbraunen Hautfarbe kurz bittersüss schmunzeln, ob dieser übermütig selbstinszenierten Vorstellung. Und er pendelte ebenso kurz mit einem Tropfen-getränkten Croissant im Café mal wieder zwischen Vision und Wirklichkeit. Wahrscheinlicher war, dass er als lebensfroher Regentänzer von skeptisch diffamierenden Blicken begleitet würde. „C’est la vie!“ Dennoch: Kein Grund, sein lustvolles Kopfkino strassenjenseitig so kurz vor dem Eintauchen in den Ernst des Lebens auszuschalten.

 

Noch ein letztes mal lehnte sich seine Gastarbeiter-Seele gegen das Zeitdiktat auf. Und so las er noch soeben die fremdgegangenen Schokoreste vom erkalteten Laken mit dem speichelbenetzten Zeigefinger auf, um sie genüsslich den getupften Vorreitern beizugesellen. Sie wollten eben nicht, dass die deutschsprachig disziplinierte Pflicht zum Dienstbeginn einfach etwas zu laut nach ihnen rief. Ein Vielleicht stand im Raum: Eines, mit dem sich der Weg aus der kleinen Mansarde nach draussen mit dem getunkten Krümel- und Schokopuzzle noch ein wenig versüssen liess; eines, das dadurch noch irgendwie den Zeitdruck etwas nach hinten zu verlagern vermochte….?! Im Ringen zwischen „Carpe diem“ und „Carpe gusto“, ging dann doch ersterer als Sieger hervor: Schliesslich wollte er seine Kollegen nicht im Regen stehen lassen.

 

Francoise löste sich von der tropfnasigen Fensterfront, machte sich auf den Weg: Eins ums andere mal, umrundete er mit einem augenzwinkernden Hüftschwung ovales Regennass, das ihn spiegeleierflächengleich einspurte. Manchmal wich ihm sogar extra jemand aus, um Platz zu machen, damit er seine vermeintlich durchkomponierten Schrittfolgen nicht unnötig unterbrechen musste. Ihm war es egal, ob diese Fremdlinge sich aus Angst vor direkter Konfrontation zurückzogen, oder weil sie ihn für einen unberechenbaren, übermütigen und weltentrückt-befremdlichen Außenseiter im eigenen Land einstuften. Irgendwie hatte für ihn heute alles etwas von einer gastfreundlichen Geste.

 

Er lag trotz der Kapriolen gut in der Zeit und sein Monatslohn winkte. Und so wollte „son coeur“ sich kurzfristig für einen sprichwörtlich genossenen Espresso erwärmen, bevor das unausweichliche Ziel seinen Endpunkt fand. Von geschmackserlebnishaften Barrista-Künsten war aber bedauerlicherweise weit und breit nichts zu bemerken. Er würde wohl auf ein gezuckertes Mittelbraun nationaler Provenienz ausweichen müssen.

 

Ein gleichfalls anmutendes Eingangsschild einer lokalen Kaffee-Kette stellte sich ihm überraschend in den Weg. Riss ihn aus seinem Gedankenexperiment. Und es wirkte fast eher, wie eine heimliche Warnung, denn als Einladung, für die, die nicht dazugehörten.

 

Hinter der Glasscheibe präsentierte sich auf der einen Seite ein internationales Gewebe-Gemisch aus Figuren und Frisuren, Feinleinen und feinsten soziokulturellen Unterschieden. Dem gegenüber erhob sich ein ebenso erwartungsfrohes wie farbloses „Uni“, gepaart mit monochromer Gleichgültigkeit. Und dennoch: Dieser Einheitslook der anderen Seite hatte offenkundig die Oberhoheit über das Machtgefälle und fungierte merklich als „Gate-keeper“ für sein Objekt der Begierde. Augenblicklich wich Beklemmung seinem bisherigen Hochgefühl. Er wusste, sein Deutsch würde von den Ichs jenseits der sogenannten Kunden nur mühsam milde belächelt; seine Oberflächentextur als Rechtfertigung für sprachliche Grenzverletzungen von ihnen rücksichtslos in den Ring geworfen. Und seine Bestellung, da war er sich ebenso sicher, würde am Ende halbherzig ausgeführt, und zwar in gleichlautend gebrochenem Deutsch: Als unverbrüchliches Zeichen von mitfühlender Solidarität.

 

Nachdem er sich zentimeterweise von seiner Seite zum Glastresen durchgekämpft hatte, fühlte er sich jetzt durchleuchtet. Die Muster der Andersartigkeit, die eingangs noch „Vielfalt“ riefen, mutierten an der Glasfront zu abschätzenden Blicken. Und sie schienen lauthals aufzuschreien: „Multikultinomaden!“ Ganz so, als hätten seine Werte und Kultur an der Glastheke ihre Unschuld verloren. Weggeblasen! Gefragt war Platz für andere. Platz für anderes. Er war genau in diesem Moment Platzhalter geworden für alle Projektionen, die dem Einwanderungsland ebenso ungefragt in den Kopf gestiegen waren.. Urplötzlich ertönte die alles überstrahlende Masterfrage; sie sollte zugleich mitentscheidend werden für eine tieferliegende Zugehörigkeit: „Kann ich helfen?!“, war das durchdringende Resultat wechselseitiger Annäherung. Und es beschallte unüberhörbar den Raum.

 

„Merkwürdig“, dachte er, „sehe ich so aus, als wenn ich nicht zurechtkomme? Als wüsste ich nicht, was ich weiss?“ Und die personifizierte Serviceoffensive vervollkommnete flugs ihr Angebot, legte variationsreich nach: „Was kann ich für Sie tun?“

 

Froh über die scheinbar unvoreingenommene Hinwendung der Tresenkraft übermannte ihn ein klitzekleines Überlegenheitsgefühl, das in diesem weiblichen „Ausbund an Höflichkeit“ auf der anderen Seite offengelegt wurde: Sicher, sie hatte sich mit der fraglichen Zweitfassung rollengemäss korrekt verhalten. Aber hatte sie sich damit nicht gleichfalls in seine Dienste gestellt? Sich ihm zwar profihaft und dienstbeflissen angenähert, aber sich doch dabei auch ausdrücklich für seine Zwecke hingegeben? Die Gastgeberin des Thekenreichs hatte sich geradewegs zu einem Arbeiter für den Gast entwickelt, so Francoise’ scharfsinnige Diagnose. Und fast ein wenig trotzig schnellte seine Antwort auf sie zu: „Non, isch brauch’ e kein’ ‚Ilf’! Isch nähm un Café  mit Milsch, bitte.“ Sie verstand.

 

Er verstand immer mehr, dass sich soeben vor beider Augen ein rätselhafter Rollentausch vollzogen hatte. Er spürte sogleich, was es heisst, bedient zu werden, statt bedient zu sein: Müde von stereotypen Antworten, dauerhaft gefangen im vorurteilsbeladenen Schatten vermeintlich hellerer Köpfe! „Festhalten! Wenigstens für diesen einen Moment!“, dachte Francoise, aber da trat schon der wortkarge Rückschlag von Angesicht zu Angesicht ins Feld: „Das macht 3 Eurofünfzig!“

 

Nicht mehr und nicht weniger, als dieser kurze Schlagabtausch katapultierte ihn zurück in die aktuelle Vergangenheit: Er wurde wieder zum Erfüllungsgehilfen zurückgestuft. Degradiert zum Befehlsempfänger; ja, sprachökonomisch zum Vollstrecker erklärt. Er begriff, von Beginn an war eh nur alles als Zwischenlösung angelegt. Alles! Der Kaffee, sein Aufenthalt in der gleichnamigen Kette, seine Bewilligung für dieses Land, in dem nicht nur er diente. Und diese fragwürdige Begegnung.

 

Aber der erlebte Zwischenfall zeigte, dass er die Bedingungen und Verhältnisse auf Zeit durchaus aufbrechen konnte. Er konnte flüchtig ein Anderer, als nur anders sein. Zugehörigkeit und Gleichrangigkeit erleben, jenseits von allen kontinentalen Haltepunkten!

 

Francoise bestritt das Finish – wie aufgetragen – in fremder Währung und war mehr als bereit, sich nach einem gewissen „dolce fa niente“, wie sein Freund zu sagen pflegte, mit überzuckertem Topping weg vom Kaffeestop heiter auf den Weiter-Weg zu machen. Nicht ohne bemerkt zu haben, dass ihn die Kaffee-Queen von gegenüber auch nach der Bestellung die ganze Zeit aus dem Augenwinkel beobachtet hatte: Als habe sie gewusst, dass sich auf eigenem Terrain unter ihrer Beteiligung soeben klammheimlich ein gemischtes „Gastarbeiter-Doppel“ abgespielt hatte. „Avantage Francoise!“

 

Der gläserne Tresen hatte sich also nur anfangs als Grenzlinie erwiesen. Auf den zweiten Blick war er eine durchaus überbrückbare Barriere von überkommenen Konventionen, wechselseitigen Vorverurteilungen und Intoleranz; sie hatte sich augenblicklich wieder zu einem „zollfreien Schlagbaum“ ausgewachsen – offen für Devisen aller Art: Zuwendung und Einfühlung, Wohlgefallen und Wertschätzung. Und über allem lag das beiderseitige Streben nach kompromisslos durchlässiger Integration. Aus dem „Coffee to go“ war unmerklich ein gemeinschaftsfähiges „Coffee to grow“ geworden. Und mit ihm und seinen geschmacks-verstärkenden Aromen war Francoise der vielfarbige Duft von „Zugehörigkeit“ und „gelingendem Leben“ in seine Nase gezogen und würde sich fortan unentbehrlich in sein Gedächtnis gegraben haben.

 

Und draussen? Der Regen, endgültig verzogen. Die Pfützen: Regenbogen-gefärbte Einladungen. Er: Ein kaffeetrunkener Heimkehrer; irgendwie doch nur auf dem Weg zur Arbeit.