Von Ingo Pietsch

 

Das Segelboot mit Namen Albatros glitt über die fast spiegelglatte Oberfläche der Ostsee.

Patrick stand am Steuer und Lisa ließ sich an Deck von der Mittagssonne verwöhnen.

Das junge Pärchen war von Grömitz aus gestartet und wollte, immer der Küste folgend, bis nach Polen und wieder zurück.

An Land wären es wahrscheinlich weit über dreißig Grad, doch auf dem Meer des Windes wegen kühler, aber immer noch so angenehm, um sich mit kurzer Sommerkleidung keine Erkältung zu holen.

Laut Navi hatten sie fast Rostock erreicht und würden sich am Abend einen windgeschützten Hafen suchen.

Da die Küste stets in Sichtweite war, kreuzten immer wieder andere Segelschiffe, Tretboote und sogar Jetski-Fahrer ihren Kurs.

Patrick sah zu seiner attraktiven Frau hinunter und grinste verschmitzt. Er machte mit dem Steuerrad einen leichten Schlenker und Wasser spritzte aufs Deck.

Lisa sprang wütend auf: „Patrick! Das Wasser ist eisig kalt!“

„Sorry, ich musste einer Robbe ausweichen“, entschuldigte er sich.

Sie hatte ihre Sonnenbrille abgenommen und starrte ihn ungläubig an.

„Warte, ich hole dir ein trockenes Handtuch.“ Patrick schaltete den Motor des Segelbootes aus und drückte den Knopf für den Anker, damit das Schiff nicht von der Strömung abgetrieben werden konnte.

Ein kleiner Ruck ging durch das Schiff und Patrick wäre deswegen beinahe die drei Sprossen der Leiter heruntergefallen, die zum Deck führte.

Unsanft landete er auf seinem Hosenboden.

Jetzt musste Lisa lachen. „Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort.“

Patrick rappelte sich auf und legte seiner Frau das Handtuch um.

Sie standen sich gegenüber und er rubbelte ihre Schultern und den Rücken trocken.

Lisa griff Patricks Kopf und sie küssten sich. Der Moment schien leidenschaftlich, bis Lisa Patricks Finger an ihrem Bikini-Oberteil nesteln fühlte. Lockend wich Lisa zurück.

„Hat sich der werte Herr das etwa mit seiner Aktion verdient?“, fragte sie mit großem Augenaufschlag.

„Welche Aktion? Das war ein Unfall. Und die verletzte Person braucht seelische Unterstützung und körperliche Nähe.“

„Dann muss ich meinem Retter wohl Dank und Anerkennung zollen. Wie könnte ich mich bloß erkenntlich zeigen?“

Patrick überlegte nicht lange, nahm sie auf seine Arme und trug sie unter Deck.

Einen Augenblick später wurden die beiden von ihrem Bett geworfen, als die Albatros sich auf die Seite neigte und wieder zurückschaukelte.

„Meinst du, das war das Kielwasser eines Tankers oder so?“, fragte Lisa, während sie sich Shorts und ein T-Shirt anzog.

„Vielleicht ein Blauwal?“

Lisa warf Patrick ein Kissen an den Kopf. „Du machst dich über mich lustig.“

„Naja, für einen Tanker sind wir zu dicht an der Küste. Der würde locker auf Grund laufen. Sehen wir einfach nach.“

Oben an Deck war aber nichts zu sehen. Überhaupt nichts.

Nebel hatte das ganze Boot eingehüllt. Sie konnten gerade noch die Reling erkennen, die Spitze des Segelmastes jedoch nicht mehr.

„Wo kommt denn diese Suppe auf einmal her?“, wollte Lisa wissen.

„Ich habe nicht geringste Ahnung. Hörst du das?“

„Nein, gar nichts. Was meinst du denn?“

Patrick ging an ihr vorbei, sie ergriff ängstlich seine Hand und er zog sie mit.

Wo sich Lisa eben noch gesonnt hatte, stand ein kleiner Weltempfänger, der unablässig deutsche moderne Schlager vor sich hingedudelt hatte. Doch der war jetzt still, obwohl er eingeschaltet war.

Patrick drückte den Knopf für den Sendersuchlauf, aber es gab nicht einmal ein Rauschen.

„Was geschieht hier?“, fragte Lisa mit zittriger Stimme.

„Mein Handy!“ Sie kletterten zusammen auf die Flybridge. Patrick schaute aufs Display – kein Empfang. Das Navi zeigte nur eine blaue Fläche und keine Küste. Der Kompass drehte sich im Kreis, die Zeiger der Uhr daneben liefen mal vorwärts und dann wieder rückwärts.

„Irgendwie ist die ganze Technik gestört, funktioniert aber noch. Da der Nebel sich kaum bewegt, ist unser Segel wohl auch nutzlos. Aber mit dem Hilfsmotor kommen wir ein Stück weiter, auch wenn der Tank nur noch auf Halb steht.“ Patrick klopfte gegen die Anzeige, die sich nicht bewegte.

„Dann mach schon. Ich will so schnell wie möglich von hier weg.“ Lisa hatte Gänsehaut.

Patrick startete den Motor, der erstaunlicherweise ansprang, und fuhr langsam ein Stück zurück, damit der Anker sich löste und er ihn einholen konnte.

Mit langsamer Fahrt bewegten sie sich vorwärts, aber nichts änderte sich an der Nebelwand.

Das düstere Dämmerlicht war allgegenwärtig.

„Ich schlage vor, wie hauen uns erstmal aufs Ohr. Es müsste jetzt abends sein.“ Patrick schaltete alles bis auf die Notbeleuchtung aus.

Lisa nickte nur stumm und sie gingen unter Deck. Sie lagen noch lange wach und schliefen dann eng aneinandergekuschelt ein.

 

Am Morgen sah die Welt gleich ganz anders aus: Statt des Nebels lag vor ihnen die sonnenbeschienene offene See. Kein Lüftchen regte sich und der Horizont wirkte unendlich weit entfernt.

Patrick wanderte mit seinem Fernglas von einer Seite der Albatros zur anderen.

„Nichts“, murmelte er.

„So riesig ist die Ostsee auch wieder nicht. Irgendwas muss doch zu sehen sein.“ Lisa war ganz aufgedreht.

„Moment, ich glaube, ich sehe da hinten was.“ Er zeigte in die Richtung. „Es könnte ein Segel sein.“ Patrick legte das Glas weg und hastete zum Kapitänsstand.

Dann fuhren sie auf ihr Ziel zu.

 

Tatsächlich entpuppte sich ihr Ziel als riesige Segelyacht. Die Farbe blätterte ab und die Taue und das Segeltuch waren ausgefranst.

„Ein Geisterschiff?“, Patrick zuckte mit den Achseln und warf gleich darauf ein Tau hoch an Deck, das sofort Halt fand.

Dann kletterten die beiden am Tau nach oben.

„Hallo, ist hier jemand?“, rief Lisa quer über das Deck.

Wie für ein Geisterschiff üblich antwortete niemand.

Nach und nach durchsuchten sie das ganze Schiff. Es machte einen gepflegten, aber dem Zerfall preisgegebenen Zustand. Die Betten waren gemacht, alles war aufgeräumt. Vorräte gab es keine mehr.

„Der Technik nach zu urteilen, ist die Yacht schon etwas älter“, meinte Patrick.

Lisa fuhr sich durch die Haare, ging in die Knie und fing an zu weinen.

Patrick zog sie wieder hoch und umarmte sie.

Er streichelte ihr Haar und meinte: „Das ist sicher nur ein Wetterphänomen und es sucht sicher schon jemand nach uns. Außerdem haben wir Lebensmittel für mindestens eine Woche an Bord. Was ist das?“ Er hatte sich umgesehen und auf einem Tisch ein Buch entdeckt.

Lisa hatte sich umgedreht: „Ist das ein Tagebuch?“

Sie schnappte es sich und blätterte darin.

„Und was Interessantes darin gefunden?“, fragte Patrick.

Lisa überflog die Seiten.

„Ein Reisetagebuch. Ein Paar wie wir. Hier steht nicht wie sie heißen, aber sie sind ebenfalls von Grömitz aus losgefahren. Waren vor der SS auf der Flucht und wollten um Dänemark herum nach England fahren.“ Hochkonzentriert las und erzählte sie weiter: „Sie haben das selbe Phänomen erlebt wie wir. Wegen der ständigen Flaute ging ihnen das Benzin nach einer Woche aus. Die Sonne ging niemals unter. Es gab keine Wolken, keinen Regen. Weder Vögel waren zu sehen, noch hatten sie beim Angeln Erfolg. Hier schreibt sie, dass sie trotz Rationierung vielleicht noch für zwei Wochen Lebensmittel haben. Nein!“ Lisa ließ das Buch fallen und schlug sich die Hände vor den Mund. „Er hat sich, als sie schlief, erschossen, damit sie länger überlebt.“

Patrick las weiter: „Der nächste Eintrag ist vier Wochen später. Das Wasser ist verbraucht und sie ist dem Wahnsinn nahe. Sie gibt zu, ihren Mann selbst umgebracht zu haben. Sie entdeckt ein dahintreibendes Segelboot. Niemand ist an Bord.“ Patrick hielt inne. „Das kann nicht sein. Es heißt auch Albatros. Meint sie unser Schiff? Aber das war vor über achtzig Jahren!“

Beide sahen sich an.

„Ich will weg von hier!“, kreischte Lisa.

Patrick nickte nur stumm.

Plötzlich quietschte eine Tür weiter hinten auf dem Schiff.

Lisa und Patrick hasteten zum Haltetau, während schlurfende Schritte sie verfolgten.

Sie rutschten das Seil hinab und verbrannten sich die Hände dabei.

Patrick startete so schnell wie möglich den Motor, während Lisa mit einer kleinen Notaxt das Tau durchtrennte.

Oben an Deck war vage eine ausgemergelte Frauengestalt in zerrissener Kleidung zu erkennen, die die Arme in den Himmel riss und bitterlich schrie.

Doch kein Laut drang zur Albatros hinüber.

Patrick fuhr, bis der Motor mit einem Röcheln erstarb.

Die Yacht war längst nicht mehr zu sehen.

„Wir sollten uns ein wenig ausruhen.“ Patrick schloss Lisa in eine Umarmung und sie gingen in die Koje, um ihre Erlebnisse zu verarbeiten. Erschöpft schliefen sie ein.

 

Lisa und Patrick wurden durch lautes Rufen geweckt. Es war mitten in der Nacht. Ein Suchscheinwerfer war auf die Albatros gerichtet: „Hier spricht die Küstenwache! Ist jemand an Bord? Ich wiederhole. Hier ist die Küstenwache …“

Lisa atmete tief durch: „Zum Glück haben wir alles nur geträumt!“

Patrick entgegnete: „Dann hatten wir wahrscheinlich beide denselben Traum!“

Erleichtert küssten sie sich.

Dabei fiel etwas von der Bettdecke zu Boden.

Beide beugten sich über den Bettrand. Dort lag das Tagebuch von der Yacht.

Und draußen tönte es wieder: „Hier spricht die Küstenwache des Großdeutschen Reiches. Wir kommen an Bord!“