Von Herbert Glaser
Ganz vorsichtig sperrte Anneliese die Eingangstür auf, weil sie wusste, wie gerne sich ihr Vater um diese Zeit ein Nickerchen gönnte. Sie hängte ihre Jacke an den Haken der antiken Garderobe und schlich langsam, einen Fuß vor den anderen setzend, über den hölzernen Boden ins Wohnzimmer. Wolfgang ruhte halb sitzend, halb liegend, mit geschlossenen Augen und mit auf die Stirn hochgeschobener Brille auf der Couch. In der aufgeschlagenen Zeitung neben ihm war eine Anzeige angestrichen, mit der ein Zirkus um Besucher warb.
Kurz bevor sie den Sessel erreichte, in dem sie auf das Aufwachen ihres Vaters warten wollte, trat sie auf eine Stelle, an der die Dielen unter ihrem Gewicht vernehmlich aufstöhnten.
„Bist du das, Liebes?“ Wolfgang richtete sich auf, massierte seine Augen mit Daumen und Zeigefinger und setzte die Brille auf die Nase.
Ertappt verzog Anneliese das Gesicht.
„Ich war schon wach“, schwindelte er, „Schön, dich zu sehen.“
Nachdem sich die beiden einige Neuigkeiten erzählt hatten, runzelte Wolfgang die Stirn und sah seiner Tochter ernst in die Augen.
„Dich bedrückt doch irgendetwas.“
Anneliese atmete tief durch.
„Na ja, eigentlich ist es nichts Ernstes … wenn man sich vorstellt, was sonst so alles passiert, aber … “
„Na komm schon, raus mit der Sprache.“
„Es ist wegen Andreas.“
Wolfgang straffte sich.
„Ist etwas passiert … ist er krank?“
„Nein, keine Sorge, deinem Enkel geht es gut. Es ist nur … du weißt doch, wie sehr er das Schwimmen liebt.“
„Na klar, er ist eine richtige Wasserratte. Hat er nicht schon ein paar Schwimmabzeichen gemacht?“
„Genau, das Seepferdchen hat er schon ganz früh gemacht und danach noch das Jugendschwimmabzeichen in Bronze und sogar in Silber … war überhaupt kein Problem für ihn … bis …“
„Bis …? Wollte er nicht in diesem Jahr noch das Abzeichen in Gold erwerben?“
„Ja genau. Dafür muss man mindestens neun Jahre alt sein. Er hat es gleich nach seinem Geburtstag versucht und … es hat nicht geklappt.“
„Und wo liegt das Problem? Man kann die Prüfung doch sicher wiederholen, oder?“
„Sicher, aber er traut sich nicht mehr. Die Prüfung zum goldenen Abzeichen ist ganz schön anspruchsvoll, weißt du. Die Kinder müssen verschieden lange Strecken mit unterschiedlichen Schwimmstilen hinter sich bringen … teilweise noch mit einer Zeitvorgabe. Andreas hat das alles ganz leicht geschafft. Aber dann kam das Tauchen. Man muss in maximal drei Tauchgängen drei Gegenstände aus zwei Metern Tiefe heraufholen und das innerhalb von drei Minuten. Und dabei ist es passiert … er hat sich so verschluckt, dass er nicht mehr weitermachen konnte. Die Prüfer hätten ihm sogar einen zweiten Versuch eingeräumt, aber es ging nicht mehr. Ich glaube, er hat sich geschämt, weil seine Freunde alles mit angesehen haben.“
Wolfgang fuhr sich mit einer Hand über das Kinn.
„Und er will sich nicht noch einmal anmelden?“
„Nein, das ist es ja eben. Er nimmt sich das wirklich sehr zu Herzen.“
„Verstehe … und wie kann ich dabei helfen?“
„Andreas sieht zu dir auf, vielleicht solltest du mit ihm reden. Die Eltern sind da oft nicht die richtigen Ansprechpartner. Es ist doch etwas ganz anderes, wenn der Großvater einen Rat gibt, oder ermuntert.“
Wolfgangs Blick fiel auf das Inserat in der Zeitung, dann hellte sich seine Miene auf.
„Ich hätte da eine Idee!“
Andreas konnte auf der Zuschauerbank kaum stillsitzen, als ein Elefant während der Vorstellung sein ungeheueres Gewicht, seine eindrucksvolle Größe und seine Kraft zur Schau stellte.
Begeistert applaudierte er, als das riesige Tier die Arena verließ.
Wolfgang beugte sich zu ihm.
„Sollen wir nachher noch den kleinen Zirkuszoo besuchen?“
Andreas nickte energisch.
„Darf ich den Elefanten auch füttern?“
Alle Tiere aus der Vorstellung waren zu sehen, als die wenigen Besucher zwischen den Gehegen hindurch schlenderten. Die größte Attraktion war zweifellos der Dickhäuter, dessen linker Hinterfuß an einem kleinen Pflock angekettet war.
Andreas gab dem Tier vorsichtig einen Apfel in den Rüssel. Ein Zirkusangestellter hielt sich zur Sicherheit in der Nähe auf.
Wolfgang legte seinem Enkel die Hand auf die Schulter.
„Hast du vorhin gesehen, wie stark der Elefant ist?“
Andreas nickte nur.
„Schau mal.“
Der Großvater deutete auf den Boden.
„Der Pflock da ist nur ein kleines Stück Holz und steckt höchstens ein paar Zentimeter im Boden. Kannst du dir vorstellen, warum ihn der Elefant nicht herauszieht, und davonläuft … stark genug ist er doch?“
„Na, vielleicht will er gar nicht weglaufen.“
„Überleg mal, Andreas. Wenn er nicht fliehen will, warum ist er dann überhaupt angekettet?“
Andreas sah mit großen Augen zu seinem Opa hoch und zuckte mit den Schultern.
„Ich habe mich das auch sehr lange gefragt, bis es mir jemand erklärt hat, der sich mit dem Abrichten von Tieren gut auskennt. Der Elefant flieht nicht, da er schon seit frühester Kindheit angekettet ist.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Stell dir ein Elefantenbaby an einem massiven Pflock vor, der fest in der Erde verankert ist. Es wird ziehen und zerren, aber der Pflock bewegt sich nicht. Irgendwann wird das Kleine erschöpft einschlafen und es am nächsten Tag wieder probieren. Und am nächsten Tag auch … immer wieder … bis das Tier eines Tages aufgibt und sich in sein Schicksal fügt.“
Wolfgang ging in die Hocke, auf Augenhöhe mit seinem Enkel.
„Dieser riesige, starke Elefant flieht nicht, weil der Ärmste glaubt, dass er es nicht kann. Die Erinnerung an seine Hilflosigkeit hat sich in sein Gedächtnis gebrannt. Das Schlimme dabei ist, dass er diese Erinnerung nie wieder ernsthaft hinterfragt hat. Nie wieder hat er versucht, seine Kraft auf die Probe zu stellen.“
Mit feuchten Augen beobachtete Andreas das Tier.
„Dabei müsste er es doch nur nochmal versuchen.“
„Richtig, Andreas. Uns allen geht es oft auch so wie diesem Zirkuselefanten. Wir bewegen uns in der Welt, als wären wir an viele Pflöcke gekettet. Wir glauben, einen ganzen Haufen Dinge nicht zu können, weil wir sie mal ausprobiert haben und gescheitert sind.“
Lange sah Andreas seinen Opa an.
„Mama hat mit dir geredet, oder?“
„Du bist ein wirklich kluger Kerl, ich bin sehr stolz auf dich.“
Die beiden umarmten sich.
„Wenn wir nächste Woche zusammen ins Schwimmbad gehen“, schlug Wolfgang vor, „könntest du ein bisschen üben.“
„Und es vielleicht nochmal versuchen“, ergänzte Andreas.
ENDE
Version 2