Von Eleni Liaskou
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NICHTLESER GESUCHT!
Zuschriften an Chiffre X17735F1
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Chiffre! Als ob eine Kleinanzeige in einer Tageszeitung, auch in einer anspruchsvollen überregionalen, nicht schon altväterlich genug wäre. Das reichte mir vollends aus, um darauf zu antworten. Auf die Frage, warum ich als Nichtleser diese Zeitung läse, würde ich mir etwas einfallen lassen. Nichtleser! Was soll ich denn anderes tun als zu lesen; hier, im Zentralkatalog der Universitäts- und Landesbibliothek! Natürlich nicht das Zeugs, das hier im Regal neben meinem Schreibtisch herumsteht. ‚Leitfaden zur Katalogisierung von…‘ – auch schon lange veraltet, jetzt gibt es natürlich Datenbanken. Nur dass die drei Leihscheine, die jeden Tag hier ankommen, nicht gerade einen achtstündigen Arbeitstag ausfüllen. Ich habe mich damit abgefunden und lese; immer dann, wenn nichts zu tun ist, also eigentlich immer. Ich kenne einige Kolleginnen, die durch solche Arten von Nicht-Arbeit krank geworden sind, zweimal Depression, einmal – das rechne ich einfach dazu – Krebs. Vor zwei Jahren war ich an die Presse gegangen, als die Universitätsbibliothek Tausende von Bänden weggeworfen hatte, darunter einige wertvolle alte; angeblich um Platz zu sparen, tatsächlich aber deswegen, weil sie die Abteilung Altes Buch auflösen wollten. Das war meine Abteilung. Sie hätten mich irgendwann sowieso hierhin abgeschoben.
Noch am selben Tag hatte ich die Zuschrift auf das Inserat eingesandt, natürlich über den Postverteiler der UB. Wozu Geld für eine Briefmarke ausgeben.
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Ich musste drei Wochen warten. Dann kam die Antwort. Sie bestand nur aus diesem Satz:
»Schreiben Sie sechs Begriffe, die ANGST einflößen, auf diese Aufkleber; auf die weiteren Aufkleber sechs Begriffe, die URWÖRTER sind.«
Kein Name, kein Absender. Wieder Chiffre. Ich überlegte. Was mir Angst einflößt, oder was allgemein Angst einflößt? Ich entschied mich nach kurzem Nachdenken für VERWESUNG, AUSLÖSCHUNG, ZERSTÜMMELN, TODESSPINNE, SIECHTUM, UMNACHTUNG und schrieb sie auf die zwei mal zwei Zentimeter großen Aufkleber.
Schon schwieriger waren die »URWÖRTER«. Goethe? Urwörter Orphisch? Warum nicht. Mein Studium, trotz dessen es mich hierhin verschlagen hatte, musste ja zu etwas gut sein. DÄMON, ZUFALL, LIEBE, NÖTIGUNG, HOFFEN. Eins fehlt noch. Freundschaft, Mond, Nacht? NACHT.
* * *
Wieder musste ich drei Wochen warten. Dann die zweite Antwort, ebenso knapp wie die erste: »Kommen Sie am 13. 8. um 9:00 in die Schubertstraße 102. Klingeln Sie beim ersten deutschen Namen, der mit M beginnt. Angemessene Vergütung zu erwarten.« Keine Anrede, kein Name, keine Adresse, keine Möglichkeit, den Termin zu ändern. Oder gar abzusagen.
Am angegeben Tag klingelte ich um neun Uhr bei Meckler. Wenn ich einen Tag fehle, fällt das im Zentralkatalog niemandem auf. Das Haus war ein schäbiger Wohnblock. Als der Türöffner brummte, ging ich in den vierten Stock. Ich konnte an der Position des Klingelschilds erahnen, dass es der vierte sein musste. Die Wohnungstür war offen. Niemand empfing mich. Ich rief »Hallo?« und ging durch den Flur. Er war völlig kahl, von den weiß gestrichenen Wänden hallte es; nur eine Tür war offen, es war anscheinend eine Ein-Zimmer-Wohnung. Der Raum war genauso kahl wie der Flur, die Einrichtung bestand nur aus einem Schreibtisch mit Stuhl und einem niedrigen Sessel vor einem kleinen Tischchen. Kein Bild an der Wand, geschweige denn eine Grünpflanze. Der Mann hinter dem Schreibtisch trug eine Guy-Fawkes-Maske. Er stellte sich nicht vor, sondern sagte gleich: »Guten Tag. Mein Name tut nichts zur Sache.« Erwartungsvoll schaute ich ihn an. Der Stimme nach und vielleicht auch der Haltung nach hätte er in den Sechzigern sein können. Später erfuhr ich, dass ich richtig lag. Er fuhr fort:
»Ihre Zuschrift hat mein Gefallen gefunden« (Er hätte auch sagen können: »hat mir gefallen«, aber aus der Perspektive seines bisherigen Gehabes empfand ich seine Wortwahl als passend.) »Sie bekommen für Ihre Auswahl 200 Euro, an den zu erwartenden Tantiemen beteilige ich Sie mit 0,7 Prozent.« Ich sagte nichts. Vielleicht würde ich später noch auf das Thema Gehalt zurückkommen, Bibliothekare verdienen nicht viel. »Bitte schreiben Sie jetzt acht internationale Organisationen auf; das können Non-profit-Organisationen sein, staatliche Zusammenschlüsse, Parteien, multinationale Konzerne.« Er reichte mir wieder einen Bogen Aufkleber über den Schreibtisch, diesmal waren sie allerdings grün sowie etwa drei Zentimeter lang und einen halben Zentimeter breit. Ich setzte mich hin und überlegte. Diese Aufgabe fiel mir schon schwerer. GREENPEACE? Zu wenig originell. Trotzdem. UNO, nein zu wenig konkret. Dann schon UNESCO. ÄRZTE OHNE GRENZEN. INTERNATIONALE DOPING-KOMMISSION. LIBRARY OF CONGRESS (die setzt nämlich die Standards, die ein Bibliothekar, ganz gleich wo auf der Welt er sich befindet, benutzen muss.) FIFA. Zu FIFA passend: MAFIA. Nein, zu wenig originell. Dann schon lieber MISS UNIVERSE ORGANIZATION. Noch eine. Ich kaute am Bleistift. In der Zwischenzeit war der Maskierte damit beschäftigt, etwas zu schreiben; allerdings konnte ich von meiner niedrigen Position auf dem kleinen Tischchen nicht auf die Oberfläche des Schreibtisches schauen. INTERNATIONALE POMOLOGEN-VEREINIGUNG. Ich liebe alte Apfelsorten.
Als ich den Bleistift niederlegte, schaute ich zu dem rätselhaften Mann auf. Mit einem knappen Winken deutete er mir an, ihm mein Ergebnis zu überreichen. Er schaute sich kurz meinen Bogen an. Dann legte er mir ein zweites Blatt mit solchen Aufklebern hin. Diesmal waren sie allerdings rot und gelb. Ich wunderte mich schon gar nicht mehr, was das alles sollte. Er sagte:
»Schreiben Sie jetzt zehn benachteiligte Gruppen auf. Fünf auf die roten und fünf auf die gelben.« Eine weitere Erläuterung folgte nicht. Das wahr wohl Absicht. TRANSSEXUELLE, BEHINDERTE … nein, zu wenig konkret, also lieber KRIEGSOPFER MIT FEHLENDEN GLIEDMASSEN. WAISEN, nein, AIDSWAISEN. BORDERLINER. PSYCHOTIKER. Und auf die gelben: GENITALVERSTÜMMELTE, SKLAVENARBEITER, BIBLIOTHEKARE, LINKSHÄNDER, nein, das war nun wirklich zu blöd. NEBENFRAUEN, ALTENPFLEGER. Er nahm das Blatt in Empfang, schaute kurz darauf, dann nickte er und begann, die Aufkleber abzulösen und irgendwo draufzukleben. Ich erhaschte kurz einen Blick auf seinen Schreibtisch und sah: Er klebte die Etiketten auf Rädchen aus Pappe, auf zwei kleinere und ein größeres. Die Rädchen waren am Rand gezahnt. Zahnräder aus Pappe?
Er brauchte zehn Minuten, um mit seinen Vorrichtungen zu einem Ende zu kommen. Ich sah noch, dass er etwas faltete und zusammenklebte. Er legte es auf die linke Ecke des Schreibtisches, so weit weg von mir wie möglich. Dann schob er etwas zu mir hin auf die Kante des Schreibtisches: Es waren zwei Würfel, deutlich größer als diejenigen, die man fürs Mensch-ärgere-dich-nicht braucht. Auf den Flächen waren meine Begriffe aufgeklebt, und zwar diejenigen, die ich ihm vorher zugeschickt hatte, meine Angst- und Urwörter (im Grunde mehrheitlich Goethes Urwörter). Daneben stand ein enormer Würfelbecher.
»Würfeln Sie einmal mit dem schwarzen, dann einmal mit dem weißen Würfel. Aber mit Schwung. Und jedesmal, wenn Sie gewürfelt haben, schieben Sie mir den Becher hinüber, ohne die Würfel einzusehen.«
Ich würfelte. Als ich den Becher auf den Tisch knallen ließ, gab es einen Riesenlärm, der von den kahlen Wänden widerhallte. Ich schob ihm den Becher zu, er sah sich das Ergebnis an und notierte es.
Dann überreichte er mir das, worauf er vorhin die grünen, roten und gelben Etiketten geklebt hatte und dann auf die Ecke des Schreibtisches gelegt hatte.
»Jetzt drehen Sie die Räder. Aber nicht umdrehen. Jedes Rad einmal.« Er legte einen Gegenstand aus Pappe auf die Tischkante. Er sah aus wie ein DIN-A-5-Umschlag aus fester Pappe, war aber deutlich länger. Aus dieser Art Brief ragten oben die drei Zahnräder heraus, auf die er meine grünen, roten und gelben Begriffe geklebt hatte.
»Gleichfalls mit Schwung!« sagte die Guy-Fawkes-Maske.
Ich drehte erst das eine, größere, Rad und dann die anderen beiden. Ich reichte ihm den Umschlag über die Schreibtischkante, ohne auf die andere Seite zu schauen. Er sah sich das Ergebnis an und nickte. Dann schrieb er es auf und sagte: »Ich danke Ihnen. Sie werden von mir hören, Ihre Adresse habe ich ja. Das Erfolgshonorar wird Ihnen zugesandt.« Er schaute mich so lange an, bis ich verstanden hatte, dass ich gehen sollte. Ich verabschiedete mich und ging aus der Wohnung.
* * *
Ein halbes Jahr später bekam ich ein Päckchen. Ich machte es nicht auf, sondern nahm es mit in die Bibliothek. Ich schaute einmal über meinen wie immer leeren Schreibtisch, setzte mich und öffnete das Päckchen. Es war ein dickes Buch mit dem Titel: DER VERSTÜMMELTE DÄMON. Geschrieben vom berühmten Thriller-Autor Ray MacLerrit. Ich sah mir den Klappentext an und blätterte ein wenig im Inneren des Buches: Die Heldin war eine transsexuelle Psychotikerin, die die furchtbaren Machenschaften von Ärzte ohne Grenzen in Afrika aufdeckte. Zwischen den Seiten lag ein Scheck über 500 Dollar. Eine Widmung mit einem Autogramm fand ich nicht.
Ich lachte und druckte ein Etikett aus – ein weißes! – und klebte es auf den Buchrücken. Die Signatur, die ich vergeben hatte, lautete 2016 MacL 500.
Dritte Fassung