Von Daniel Schuhmann

„Ruhe!“ Ihre Stimme donnerte durch die kleine Wohnung. Stefan war sich sicher, dass die Schale auf der Vitrine gegenüber leicht vibriert hatte.

„Euer ständiges Gejammer geht mir auf die Nerven, ich bekomme schon wieder Kopfschmerzen“, zeterte sie weiter und rieb sich die Stirn.

„Aber Mutter…“ Stefan hob den Finger, um sich zu verteidigen.

„Ihr Drückeberger seid um keine Ausrede verlegen. Ihr liegt mir schon wieder seit Monaten auf der Tasche und ich habe es endgültig satt.“

Mario hatte den Blick seit einiger Zeit zu Boden gerichtet und zuckte immer wieder kurz zusammen, wenn die kreischende Stimme seiner Mutter einsetzte.

„Raus!“, spie sie ein letztes Mal und die beiden Brüder verließen mit hängenden Schultern die Wohnung.

 

„Hör zu! Wenn er gleich kommt, dann verhalte dich normal!“ Stefan schob sich die Sonnenbrille trotz eisiger Kälte auf seine Nase.

„Zuhause hast du gesagt, wir müssen abgebrüht sein.“ Er tat es seinem Bruder gleich und ließ seinen Blick über die Parklandschaft vor ihm schweifen. Zentimeterdick lag der Schnee auf Wegen und Wiesen vor ihnen.

„Entspann dich, das ist doch nicht so schwer“, stieß Stefan genervt hervor.

„Entspannt? Was jetzt?“, erwiderte Mario. Stefan drehte sich langsam zu Mario und blickte ihn angestrengt an.

„Ist deine Hose auch so nass?“ Mario fasste sich an seine Hose und Stefan konnte den dunklen Rand sehen, der sich gebildet hatte.

„Hätte ich den Schnee vorher runterwischen sollen?“ Mario rutschte auf der Parkbank Hin und Her und verzog dabei das Gesicht. „Bist du dir wirklich sicher, dass wir das tun sollen?“

„Fachgerechte Entsorgung und diskrete Bearbeitung. So stand es in der Anzeige. Bobby hat uns doch erzählt, dass wir nach diesen Codewörtern Ausschau halten müssen.“ Stefan wischte Marios Zweifel mit einer abwehrenden Handbewegung weg.

Knirschende Schritte waren plötzlich zu hören und ihre Blicke wendeten sich in Richtung des Parkeingangs. Ein dunkel gekleideter Mann schritt langsam auf die Brüder zu. Auf der Hälfte des Weges blieb er stehen und zündete sich eine Zigarette an. Das Streichholz, welches er zum Anzünden verwendet hatte, schnippte er in hohem Bogen von sich fort, bevor er den ersten Stoß Rauch in die kalte Luft stieß.

„Verdammt ist der abgebrüht“. Mario nickte anerkennend.

Die Brüder verharrten fast regungslos, bis der Mann schließlich auf der Höhe der Parkbank war und weiterging. Sie schauten sich ratlos an.

„Weißt du eigentlich, wie er aussieht?“, fragte Mario.

„Wir haben telefoniert. Er hat sich groß angehört.“

„Groß?“

„Na ja, halt ein Typ mit dunkler Stimme. Ich glaube, er ist ein Riese.“

„Ihr hättet ein Erkennungszeichen ausmachen sollen. Ne Feder zum Beispiel.“

„Eine Feder?“

„Ja, eine Rote. Die kann man sich dann in den Hut stecken.“

„Dafür bräuchten wir aber auch Hüte.“

„Ich habe zuhause einen Schönen, eigentlich mehr was für den Sommer …“

„Entschuldigen Sie bitte“, hörten sie plötzlich eine Stimme neben sich.

Stefan griff erschrocken mit seinen Händen in den Schnee neben sich und Mario quiekte leise. Vor Ihnen stand ein Mann, der sie fragend anblickte.

„Haben sie mich wegen der Auflösung angerufen?“, wollte der kleingewachsene und untersetzte Mann von den Brüdern wissen.

Stefan räusperte sich und griff sich an die Sonnenbrille. Mario tat es ihm gleich, bis er bemerkte, dass er keine Sonnenbrille trug und sich stattdessen an der Nase kratzte.

„Geht es Ihnen gut?“, fragte der Mann mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Wollen sie sich setzen?“, entgegnete Stefan stattdessen und rutschte ein Stück zur Seite.

Der Blick des Mannes blieb auf der durchnässten Hose Marios hängen. Er schüttelte den Kopf.

„Ich würde gerne direkt zum Geschäftlichen kommen, ich habe noch weitere Termine heute.“

Mario blickte mit großen Augen zu ihm auf und ließ seinen Mund offen stehen, während Stefan aus seiner Tasche ein Bild und einen Umschlag hervorholte. Er blickte sich zu beiden Seiten um und reichte dann Bild und Umschlag weiter.

„Auf der Rückseite des Bildes steht die Adresse“, flüsterte Stefan. „Wenn sie möchten, verbrenne ich das Bild auch gleich wieder.“

„Warum sollten sie das tun?“, fragte der Mann ungläubig, während er den Inhalt des Umschlags prüfte.

„Merken sie sich solche Informationen nicht direkt?“

„Terminvorschläge von ihrer Seite aus?“, überging der Angesprochene die Frage.

„Sobald wie möglich.“

„Gut, dann kommen ich und meine Männer in zwei Tagen, 9 Uhr in der Früh?“

„Ja, schätze, das passt, aber ist das nicht eigentlich ein Job nur für einen Mann?“

„Wenn es nicht den ganzen Tag dauern soll, nein.“, erwiderte der Mann gereizt. „Meine Telefonnummer haben sie ja“, beendete er die Unterhaltung und ließ die Brüder auf der Parkbank zurück.  

 

„Auch wenn wir an das ganze Ersparte und die Lebensversicherung von Mutter rankommen, ist mir nicht wohl dabei, wenn wir von hier aus zusehen“, sagte Mario und setzte sich im Autositz auf seine Hände.

„Du warst doch auch dafür, dass Mutter nicht mehr über unser Leben bestimmen soll, oder?“, entgegnete Stefan.

Sie blickten aus dem Auto auf die vor ihnen liegende Straße. Als ein großer Kastenwagen langsamer fuhr und auf der gegenüber liegenden Straßenseite parkte, rutschten sie wie abgesprochen in ihren Sitzen nach unten.

„Ich glaube, das ist er“, bestätigte Stefan seine Vermutung.

„Hast du gesehen, ob er reingegangen ist?“

„Öhm… nein“, brachte er hervor und drückte sich langsam wieder nach oben und ließ sich gleich wieder in den Sitz fallen. Er nickte.

„Ich muss mal auf Toilette“, meldete sich Mario, nachdem sie einige Zeit wort- und ereignislos in den Sitzen liegend die Fenster in der ersten Etage beobachtet hatten.

„Nimm dir die Flasche aus dem Fußraum“, antwortete Stefan und zeigte auf eine alte Plastikflasche, als plötzlich ein Klingeln zu hören war. Hektisch fingerte Stefan in seinen Jackentaschen herum, bis er sein Mobiltelefon herauszog.

„Hallo?“

„Hier ist noch jemand in der Wohnung“, hörte er eine wütende Stimme. „So können meine Männer und ich unsere Arbeit nicht ausführen.“

„Es ist noch jemand in der Wohnung“, flüsterte Stefan jetzt Mario zu, während er seine Hand auf das Telefon drückte. Aus dem Hintergrund konnte er gedämpft die aufgeregte Stimme seiner Mutter hören.

„Vielleicht ist Onkel Tom zu Besuch vorbeigekommen“, riet Mario.

„Das hätte Mutter uns doch breit und lang am Telefon erklärt“, entgegnete Stefan.

„Sind sie noch dran? Am besten sie kommen persönlich vorbei und klären das selber“, meldete sich wieder der Mann am anderen Ende der Leitung.

„Er meint, wir sollen es tun“, flüsterte Stefan erneut in Marios Richtung.

„Onkel Tom und Mutter?“ Mario ließ die Plastikflasche fallen, die er gerade in Richtung seines geöffneten Hosenschlitzes führen wollte.

 

„So nette junge Männer“, flötete sie. „Am Anfang hätte ich fast die Polizei gerufen. Tauchen hier unangemeldet auf und sprechen ständig von einer Wohnungsauflösung.“ Stefan und Mario saßen nebeneinander auf dem kleinen Ledersofa.

„Wie oft habe ich euch erzählt, dass ich den Keller ausmisten will. Dann hat mir der nette Herr mitgeteilt,  dass zwei junge Männer den Auftrag schon bezahlt haben.“ Sie lächelte und blickte ihre beiden Söhne erfreut an. „Nachdem alles erledigt war, ist er dann sogar noch auf einen Kaffee geblieben. Und das Schönste daran ist, wir treffen uns wieder.“ Ihre Mutter strahlte förmlich. „Und weil ihr so nett wart, habe ich euch eure liebste Suppe zubereitet. Lasst es euch schmecken.“

Aschgraues Fleisch zog seine Runden in einer versalzenen Brühe, als Stefan seinen Löffel in die lauwarme Suppe tunkte.

„Ja, Mutter“, bestätigten die Brüder tonlos.

 

VERSION 2