Von Dagmar Droste

Matthias und ich hatten nach dem Studium Kontakt gehalten. Heute führte uns das Ergebnis unserer damaligen Projektarbeit zum Rockkonzert in den Musikkeller. Wir waren aufgeregt, beglückt und ein bisschen stolz auf uns. „Da ist er!“ Matthias zog mich an der Hand zur Bühne. Im Hintergrund der farbig ausgeleuchteten Bühne „Soul ear“, schwarze Lettern auf weißem Grund, direkt davor der Drummer, ein unverschämt gutaussehender jugendlicher Typ, lockiges, halblanges Haar, schwarze Jeans, schwarzes Hemd. Vor der Bühne junge Mädchen, die ihm flirtend etwas zuriefen. Matthias und ich sahen uns lächelnd an.

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Er begegnete uns im Alter von zehn Jahren, quirlig, impulsiv. Um ihn herum Stille, in ihm Aufruhr, Unruhe, Lebendigkeit.

 

„Robert ist ein schwieriger Fall, nicht zu bändigen, verhaltensauffällig, schwer integrierbar“, setzte uns die Internatsleiterin in Kenntnis. „Weihnachten aß er Blätter des Weihnachtssternes, er musste im Krankenhaus behandelt werden. Seine Klassenkameraden beklagen sich. Er schlägt und umarmt sie mit ungeheurer Kraft, rennt herum. Er bedarf der ständigen Aufsicht.“

 

Als wir ihn sahen, war klar, mit ihm wollten wir im Rahmen eines Projektes arbeiten. Unser Enthusiasmus kannte keine Grenzen. Eine genaue Vorstellung von der Förderung hatten wir nicht, dafür ein übervolles, empfindsames Herz. Ihr seid das Hauptmedium, vermittelten uns die begleitenden Dozenten. Formuliert eure Ziele. Nonverbale Kommunikation. Eine Beziehung herzustellen, das ist eure Aufgabe.

 

Unbedarft, ohne tatsächlichen Durchblick, schlugen wir vor, Robert einmal in der Woche in den Musikraum der Uni zu bringen. Es lag nicht in unserem Sinne, Klangkörper für ihn auszuwählen. Welches Musikinstrument entsprach ihm?

 

Er eilte zielstrebig, hingerissen von der Vielfalt der Instrumente, in den Raum, probierte eins nach dem anderen aus. Sein Körper, sein Gang, Mimik und Gestik zeigten Begeisterung und Freude. Er erfasste jedes Musikinstrument in seiner Ganzheit, es gab kein Herantasten, er griff in die Klaviertasten, betätigte Pedale, spielte rhythmisch unterschiedliche Akkorde mit beiden Händen. Er wandte sich dem Schlagzeug zu, Bass Drums steuerte er mit einem Fuß, während der andere im Takt wippte, die locker in den Händen gehaltenen Sticks bearbeiteten das Schlagwerk. Sein ganzer Körper war in Aktion.

 

Ein Schlagstock zerbrach. Aufgeregt rannte er durch den Saal, wischte hier und dort kleinere Klangkörper vom Tisch, schmiss sich auf den Boden, stieß undefinierbare Laute aus und war außer Rand und Band.

 

Was hatte Robert wahrgenommen, dass er in Ekstase geriet? Sein Verhalten war nicht von Aggressionen getragen, jedoch von einer enormen Kraft. Uns erreichte eine Ahnung, wie schwierig sich der Alltag mit ihm gestalten würde. Wohin mit seiner Energie? Welcher Mitschüler zeigte dafür Verständnis? Welcher Lehrer bändigte ihn innerhalb einer Klasse? Stigmatisierung und Ausgrenzung erschienen logisch, ebenso seine Kontaktaufnahme über Schlagen und Umarmen.

 

Wie verschafften wir uns nonverbal Autorität? Wie vermittelten wir ihm unsere Haltung und welche vertraten wir überhaupt? Wie setzten wir ihm Grenzen? Wollten wir ihn verändern, anpassen oder ihn annehmen, wie er war? Beziehungsaufbau nannten es unsere Dozenten und fügten hinzu: „Das Wichtigste!“ Arbeit an uns stand an. Für welche Werte standen wir? Verfolgten Matthias und ich die gleichen Ziele?

 

Wir feilten an unserer Körpersprache, grübelten, analysierten, redeten uns die Köpfe heiß, steckten uns Ohropax in die Ohren, um seinen Empfindungen nachzuspüren.

 

Robert verfügte über ein ausdrucksstarkes Rhythmusgefühl. Der Schlüssel zu seinem Wesen, zu seinem Ausdruck? Wir akzeptierten ihn, wie er war. Kraftvoll, ungestüm, liebenswürdig, hilflos nach einem Weg suchend, sich auszudrücken.

 

Sein Instrument war das Schlagzeug. Zunehmend häufiger gelang es uns, mit ihm gemeinsam zu spielen. Robert erfasste unser Spiel über die Schwingungen, die seinen Körper erreichten und durch genaues Beobachten. Er verblüffte durch sein durchdringendes Spiel, seine Wahrnehmungs- und Lernfähigkeit. Es entwickelte sich ein vertrauensvolles Miteinander, die Grundlage für seine Weiterentwicklung.

 

Wir begleiteten ihn zweimal in der Woche im Unterricht. So konnten wir auf sein Verhalten Einfluss nehmen. Ihm seine Reaktion und die seines Gegenübers verdeutlichen. Für uns war es häufig nicht leicht, seinem Tun zuzuschauen, es so zu akzeptieren, ihn die Konsequenzen erfahren zu lassen. Langsam veränderte sich sein Umgang mit Klassenkameraden positiv. Sein Selbstvertrauen wuchs und Verhaltensweisen, die er benötigte, um sichtbar zu werden, verloren an Kraft. Was wir für uns für ein halbes Jahr geplant hatten, endete nach drei Jahren.

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Nun standen wir voller Erwartung hier. Wir hatten an ihn geglaubt, versucht, ihm einen Weg zu zeigen. Was wir von ihm wussten, war, dass er in seinem ehemaligen Internat als Praktikant arbeitete und in einer Band spielte, mit der er nach Japan auf Tournee gehen würde.

 

Selbstbewusst, mit einem breiten Grinsen und ausgebreiteten Armen, kam er auf uns zu. Vorbei an jungen Mädchen, die ihm kreischend etwas zuriefen. Sie sahen seine Gestalt, ahnten aber nichts von der äußeren Stille, die ihn umgab.

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Drei Wochen später erreichte uns diese Nachricht:

 

Nachruf

Mit Trauer erfüllt uns die Nachricht vom

Tod unseres ehemaligen Schülers und

Mitarbeiters,

 

Robert Sinner

 

Auf dem Weg in eine hoffnungsvolle Zukunft

wurde er durch einen Flugzeugabsturz aus

dem Leben gerissen.

 

Wir sind traurig

Schüler, Mitarbeiter und Geschäftsführung

des Internats für Gehörgeschädigte