Von Raina Bodyk

Große Geister beherrschen die Epoche. Es ist die Zeit eines Kopernikus, Kolumbus, Gutenberg, Riemenschneider, Dürer. Ein mit dem Kirchenbann belegter Ketzer namens Martin Luther spaltet die Kirche. Wissenschaft, Glauben und Aberglauben existieren neben- und gegeneinander.

Einer dieser begnadeten Köpfe ist Pastor Michael Stifel aus Lochau, der wohl größte Mathematiker des Jahrhunderts, befreundet mit jenem Ketzer. Seine leidenschaftliche Liebe zu den Zahlen lässt ihn eines Tages auf Abwege geraten …

 

1532 

„Heureka!“, jubelt Stifel so laut in seiner Pfarrstube, dass sein Weib vor Schreck die schwere, gusseiserne Pfanne in der Küche fallen lässt. 

„Beim Archimedes, ich hab’s!“ 

Er springt in fast kindlicher Freude in die Küche und umarmt glücklich seine Frau. Die schüttelt nachsichtig den Kopf. Sie kennt seine Tollheiten. Wahrscheinlich hat er wieder eins seiner seltsamen Zahlenspielchen entdeckt. Wie kann man sich wegen ein paar Ziffern nur so närrisch aufführen!

„Gret, jetzt muss Martin einsehen, dass ich recht hatte! Ich kann es beweisen! Ich muss sofort zu ihm.“ Es hat Stifel tief verletzt, als Luther ihm vor Jahren dringend geraten hat, diesen Unsinn mit der Wortrechnung zu lassen. Michael ist besessen davon, dass sich in der Bibel geheime Botschaften finden lassen, die hinter Zahlen und Buchstaben verborgen sind. Vor kurzem ist er ‚rückfällig‘ geworden. 

 

***

 

„Martin! Ich hab die Formel gefunden! Nächstes Jahr am 19. Oktober geht die Welt unter.“

„Nicht schon wieder! Das ist doch blanker Unsinn! So etwas kann man nicht berechnen. Mir scheint zwar auch, dass der Untergang nicht mehr sehr fern sein kann, wenn ich die Dummheit und schlimmer, die Grausamkeit der Menschen sehe, aber ausrechnen? Nein!“

„Doch! Lass dir erklären. Sieh her, wenn du die Worte des Johannes19, Vers 37 nimmst und …“

Luther schüttelt den Kopf, will nichts hören. 

Seine vergeblichen Versuche, den eigentlich scharfsinnigen Mann von seinen Phantastereien abzubringen, endet in einem bösen Streit.

„Du wirst es erleben! Ich bin auserwählt, als letzter Engel die siebente Posaune zu blasen. Und bei Gott, ich werde sie blasen! Niemand soll mich davon abhalten.“ 

„Michael …“

„Ach! Du bist doch nicht besser als Herodes oder Pilatus, der unseren Herrn zum Tode verurteilte – aus Feigheit!“

Seine Stimme trieft vor Verachtung und er schlägt die schwere Holztür mit lautem Knall und vernichtendem Blick hinter sich zu. 

 

***

 

Erbost über die Verbohrtheit seines Freundes marschiert der Pastor mit weit ausgreifenden Schritten nach Lochau zurück. 

Dort predigt er von nun an eindringlich und unermüdlich den Weltuntergang. Seine Kirche wird schnell zu klein für die wachsende Hörerschaft und er geht dazu über, sie auf dem Marktplatz zu beschwören, zu warnen, zu trösten. Die Botschaft verbreitet sich unaufhaltsam weiter. Immer mehr Menschen strömen von nah und fern herbei, um sich auf das Jüngste Gericht vorzubereiten. 

Der begnadete Redner mahnt salbungsvoll zur Umkehr: „Haltet ein, ihr Sünder und Beladenen, damit ihr beim Jüngsten Gericht nicht auf ewig zur schwärzesten Höllenfinsternis verdammt werdet. Nutzet die verbleibende Zeit! Tuet Gutes denen, die nichts haben!“ Er selbst geht mit gutem Beispiel voran und verschenkt all seine geliebten Bücher. 

Trotz des drohenden Unheils genießt er die Aufmerksamkeit, die demütigen Blicke der Hilfesuchenden, denen er Zuversicht geben will. Wenn er ihnen die Angst nehmen kann, ihre Dankbarkeit sieht, fühl er sich gesegnet.

 

*** 

 

1533

Drei Wochen vor dem errechneten Tag begibt sich Luther noch einmal besorgt nach Lochau. Er erkennt den kleinen Ort kaum wieder. Es wimmelt von Menschen, die außer Rand und Band zu sein scheinen. Vor den beiden Gasthäusern haben sich dichte Menschentrauben gebildet. Die Wirte laden alle Leute ein, kostenlos bei ihnen zu trinken, so viel sie wollen. Alte Schuldenzettel werden feierlich verbrannt.

„Das ist ja ein einziger Tollhaufen!“, murmelt Martin sichtlich erschreckt. 

Neben dem Wirtshaus sieht er eine verheulte Frau mit strähnigen Haaren und verquollenen Augen an der Mauer lehnen. „Kann ich Euch helfen?“

„Nein, dafür ist es zu spät. Ich dumme Kuh habe, um mit reiner Seele vor dem Weltenlenker zu stehen, meinem Gemahl vom Ehebruch mit dem Schneider erzählt. Er hat mich kurzerhand rausgeschmissen – ohne alles! Ich wollte doch nur seine Vergebung!“ Der Reformator, sichtlich überfordert von der bekennenden Sünderin, geht rasch weiter.

Plötzlich kommt ein Zimmermann aus der gegenüberliegenden Gasse gerannt, offensichtlich zwei Spitzbuben hinterher, und schreit: „Haltet die Diebe!“

Die Umstehenden lachen nur und halten statt der Gauner den braven Mann fest: „Pfeif auf dein Geld! Was willst du noch damit? Saufen? Kannst du umsonst! Es gibt auch genug Weiber, die sich vor dem Ende noch mal amüsieren wollen. Du musst nur zupacken. Du bist im Paradies! Wer weiß, was morgen ist!“

Eine Mamsell sieht sich einen der Übeltäter genauer an. „Mensch, den kenn ich doch! Der stand vor ein paar Wochen vor Gericht. Der müsste doch hinter Gittern sitzen!“ 

Die neben ihr stehende Nachbarin klärt sie auf: „Habt Ihr nicht gehört, dass der Richter alle Strafgefangenen freigelassen hat, damit sie noch Buße tun können?“ 

„Genau! Sogar die Reichen, diese ach so guten Menschen, haben offenbar Vergehen gutzumachen! Stellt Euch vor, die dickgefressenen Kaufleute verteilen ihr Vermögen!“

Eine Dritte mischt sich ein: „Die gierigen Geldverleiher, es ist kaum zu glauben, erlassen den Leuten ihre Schulden!“


Endlich erspäht Luther den Freund. Stifel steht auf einem Podest neben dem Rathaus und verkündet weithin hallend seine Vorhersage. Als Martin sich nähert, macht er nur eine wegwerfende Handbewegung und wendet sich betont ab. Anscheinend ist er immer noch beleidigt und will nicht mit ihm sprechen.

 

*** 

 

Zurück in Wittenberg, sitzt der Reformator mit besorgt gerunzelter Stirn seiner Frau am Tisch gegenüber: „Wie soll das nur werden? Die Stadt ist ein riesiger Ameisenhaufen. Ich weiß gar nicht, wo all die Menschen herkommen. So geht das jetzt schon seit Monaten. Merkt Michael überhaupt nicht, was er da anrichtet?“

Bekümmert legt ihm die Gattin ihre warme Hand tröstend auf den Arm.

„Ich frag dich, Katharina, was werden diese Leute anstellen, wenn sie merken, dass der Jüngste Tag nicht stattgefunden hat? Sie sind dann so arm wie die Kirchenmäuse. Sie schenken alles her! Selbst die Halunken wollen bereuen und zeigen sich selbst an. Der Richter lässt sie dennoch alle laufen – um reuig Gutes zu tun! Du hättest das viele Gesindel sehen sollen! Gaukler, Hellseher, Würfelspieler. Sie alle lügen, betrügen und nehmen sich, was sie kriegen können. Die glauben bestimmt nicht an den Jüngsten Tag! Den Leuten ist alles egal, weil sie glauben, in drei Wochen ist sowieso alles zu Ende. Welch ein Elend!“ Martin kann seine Fassungslosigkeit und Erbitterung nicht verhehlen.

Ein Gedanke lässt seine Gemahlin nicht ruhen und sie fragt ihren gestrengen Mann zögerlich: „Könnte Michael nicht doch recht haben?“ 

„Ganz bestimmt nicht! In der Bibel steht, dass niemand außer Gottvater den Tag kennt.“

Ganz überzeugt ist Katharina nicht. Könnte nicht Gott dem Johannes …

Ihr fällt etwas anderes ein: „Eine Freundin hat mir erzählt, dass ein Tagelöhner und ein Bauer ihre Häuser, die sie mit ihrer Hände Arbeit aufgebaut haben, angezündet haben, um sich für ihr verbleibendes Stückchen Leben von allem Weltlichen loszusagen. Einige Personen sollen sich sogar vor lauter Panik umgebracht haben, um nicht noch wochenlang in ständiger Furcht leben zu müssen. Die Leute malen sich das Jüngste Gericht in den schrecklichsten Bildern aus, wie sich die Gräber öffnen, die bleichen, halb verwesten Toten sich erheben und zusammen mit den noch Lebenden bang ihr Urteil erwarten.“ Sie schaudert.

Luther fährt empört fort: „Wie kann Michael so völlig unbelehrbar sein!? Er will einfach nicht sehen, was für ein Chaos vor seinen Augen abläuft und noch ablaufen wird.“

 

*** 

 

Der letzte Tag … 

Stifel hält am frühen Morgen in der Kirche eine bis ins Innerste tief bewegende Predigt und endet mit den bedeutungsschwangeren Worten: „Der Herr wird kommen!“ 

Nach der Verteilung des Abendmahls steigt er wieder erwartungsvoll auf die Kanzel, um in den Herzen die Freude auf die kommende, beseligende Ewigkeit zu wecken.

Eine Stunde geht vorbei. Die Turmuhr schlägt die achte Stunde. Alle erstarren vor Furcht. 

 

Nichts. 

 

Kurz darauf zieht ein schweres Gewitter auf. Die Menschen, erschreckt von Dunkelheit, Blitz und Donner, fallen auf die Knie und fangen an zu beten. Der Pastor verkündet laut: „Das ist das erste Zeichen! Erhebet eure Herzen gemeinsam mit denen, die jetzt aus den Gräbern steigen. Macht euch bereit für das letzte Gericht. Gott sei uns allen gnädig.“

 

Nach zwei Stunden scheint die Sonne wieder. Das Vieh grast friedlich auf den üppigen Weiden. Nichts ist geschehen. 

 

Da entlädt sich die erlebte Höllenangst in einem Sturm der Wut: „Du Scharlatan! Betrüger! Antichrist!“ 

Die Kirchgänger zerren den Prediger von der Kanzel, wollen es ihm heimzahlen. 

 

***

 

Hier könnte die Geschichte zu Ende sein – aber es geschieht doch noch ein kleines ‚Wunder‘, Stifels ganz eigenes Mirakel.

Der Allmächtige zeigt nämlich erbarmend ein Einsehen mit dem armseligen Pastor – in Gestalt des Amtmanns aus Wittenberg. Der kommt mit einem Trupp Soldaten gerade noch rechtzeitig, um ihn in Schutzhaft zu nehmen und ihn damit vor des Volkes Zorn zu retten.

 

Der Herrgott gewährt ihm sogar noch eine zweite Gnade – diesmal in Gestalt Martin Luthers, der dem Unglücklichen die Treue hält. Ihm gelingt es, beim Kurfürsten ein gutes Wort für seinen Freund einzulegen: „Er Michael Stiefel hat ein „kleines Anfechtlein bekommen, aber es soll ihm nicht schaden, Gottlob, sondern nütze seyn.“ (1)

Und so kommt es, dass der Herrscher unerwartet Mitleid mit dem Einfältigen aus Lochau und seiner teuflischen Versuchung hat und ihn nach vier Wochen Haft freilässt. Die kurfürstliche Amtskasse kommt für den entstandenen Schaden auf.

 

  1. B. Raupach: Evangelisches Oesterreich … Bd 1. Hamburg, 1741