Von Veronika Beckmann

Eine Absperrung blockierte die Hauptstraße und als der Bus nach rechts abbog, sah Uwe durch die regennasse Scheibe den großen gelben Pfeil. Umleitung. 

Sie fuhren über die Ringstraße, die wie eine Trennlinie zwischen den Häusern der Stadt und den angrenzenden Feldern erschien. Die Ackerflächen neben der Straße lagen brach. Schwere Maschinen hatten die Erde aufgewühlt und ein riesiges Loch im Boden zeigte die Ausdehnung eines neuen Bauprojektes, bei dem auf mehreren Etagen großzügige Gewerbeflächen entstehen sollten.
Seitdem die Bauarbeiten begonnen hatten, waren große Mengen Erdreich weggeschafft worden. Jetzt fuhren Kipplaster über eine schlammige Rampe zur Sohle der Baugrube, wo Bagger Gräben für die Fundamente aushoben. Am oberen Rand der Böschung standen Bürocontainer und Kräne.

„Cool, so einen Bagger will ich auch mal fahren.“
Uwe zuckte zusammen, die Stimme war nah an seinem Ohr. Genervt beugte er sich vor und drehte sich um. Der Junge aus der Sitzreihe hinter ihm hatte sich nach vorne gelehnt, legte jetzt seine Unterarme auf die Rückenlehne von Uwes Nebensitz und sah ihn durch dicke Brillengläser an. Er war vielleicht acht oder neun Jahre alt und hatte ein blasses rundes Gesicht. Sein Schulranzen stand neben ihm am Fenster.
Bestimmt einer, mit dem niemand spielen will, dachte Uwe. Normale Kinder beschäftigen sich im Bus mit ihrem Smartphone und quatschen nicht Erwachsene an.
„Musst du nicht in der Schule sein?“, blaffte er gereizt zurück.
Der Junge presste die Lippen aufeinander, drehte sich weg und sah aus dem Fenster. Uwe lehnte sich wieder in seinen Sitz. Außer ihm und dem Jungen saßen noch zwei Frauen vorne im Bus, die lange Mänteln und Kopftücher trugen. Zu der einen Frau gehörten wohl die beiden Kinder, die bei ihnen waren. Die andere war älter.
Asylanten oder aus der Türkei, dachte er. 

Am späten Vormittag fuhren nicht viele Menschen mit dem Bus in die Stadt. Er wäre jetzt auch nicht hier, wenn die Nervensäge vom Jobcenter ihn nicht schon wieder „eingeladen“ hätte.
Bier trinken, Filme gucken, an Mehmets Büdchen Nachschub holen und vielleicht eine Zigarette schnorren, so sah ein normaler Tag bei ihm aus. Er brauchte nicht viel Abwechslung.
„Sie haben sich selbst in diese Sackgasse manövriert“, hatte die Frau, die aussah wie Jennifer Lawrence, beim letzten Mal hinter ihrem Schreibtisch gesagt.
Jemand, der aussieht wie eine Top-Schauspielerin und höchstens fünfundzwanzig ist, hat keine Ahnung, hatte er gedacht. Die weiß nicht, wie das ist, Frau weg, Job weg, jede Menge Schulden und Blagen, die nur auftauchen, wenn sie Geld brauchen. 

Noah legte einen Arm auf den Tornister, stützte das Kinn auf und sah durch das Fenster hinaus. Er kniff die Augen mehrmals zu. Manchmal half das Blinzeln gegen die Bauchschmerzen. Schon beim Aufstehen hatte er heute das Ziehen gespürt und dann beim Frühstück nicht einmal den Joghurt herunter bekommen, wie fast jeden Tag. Seine Mutter hatte ihm besorgt die ersten Stunden frei gegeben, aber dann musste sie zu einem wichtigen Termin und bis heute Nachmittag konnte er nicht alleine bleiben.
„Melde dich bei Frau Jung, wenn es schlimmer wird. Dann darfst du in den Ruheraum“, hatte sie zu ihm gesagt.
Er würde nicht nach dem Ruheraum fragen, das machte es nur noch schlimmer. Finn und Leon waren letztes Mal echt gemein gewesen und Frau Jung hatte ihm gesagt, der Raum sei nur für Notfälle gedacht. Wenn er krank wäre, solle er lieber zuhause bleiben.

Nadia hielt ihre Tochter auf dem Schoß und drückte die Lippen in das Haar der Kleinen. Vor drei Jahren waren sie hier angekommen und es gab noch so viele Probleme.
Rafiq lernte nur langsam Deutsch und hatte keine Geduld mehr. Er wollte arbeiten, eine Wohnung mieten und seine Familie rausholen aus den engen Zimmern der städtischen Unterkunft. Zu oft wurde er nun wütend und suchte Streit.
Ami war immer krank. Sie hatten einen Arzt gefunden, der ihre Sprache sprach. Nur gesund machen konnte er ihre Mutter nicht. Die letzten Jahre waren sehr schwer für sie gewesen und jetzt, wo Ami in Sicherheit war und ausruhen konnte, ließ ihre Traurigkeit sie nicht mehr los. Nadia hoffte immer noch, dass ihre Familie hier eine neue Heimat finden würde.

Das laute Krachen einer Explosion riss Uwe aus seinen Gedanken, auf der Baustelle war etwas passiert. Entsetzt schrien die Frauen und Kinder auf. In voller Fahrt begann der Bus zu schlingern. Die junge Mutter rief den Kindern etwas zu, dann kamen sie von der Fahrbahn ab und holperten einige Meter über unebenen Boden. Als das Fahrzeug in die Absperrung geriet, kratzten die zwei Meter hohen Metallgitter mit einem schrillen Quietschen an der Außenseite entlang. Die Reifen überrollten die flachen Betonblöcke, die den Zaun hielten, und Uwe wurde gegen die Fensterscheibe geschleudert. Hart stieß er mit der Schulter an. Schließlich kam der Bus zum Stehen. 

Es herrschte eine unheimliche Stille. Das einzige Geräusch war das Weinen der älteren Frau, die in den Armen der Jungen lag. Die Kinder waren nicht mehr zu sehen und der Busfahrer krümmte sich über dem Steuer. Uwe löste seine Hand von der Lehne des vorderen Sitzes, die er umklammert hatte, und stand auf.
Raus. Sofort.
Er wollte raus, aber dicht vor den Türen stand der Bauzaun und versperrte den Weg.
Suchend sah er sich um, er musste eine Scheibe einschlagen. Sein Blick fiel auf die Straße. Die Menschen dort draußen schauten entsetzt in den grauen Himmel. Sie riefen sich etwas zu und deuteten mit ihren Händen nach oben. Dann rannten sie weg, ließen ihn und die anderen eingesperrt in dem Bus zurück.
Der Junge hatte das Geschehen auf der Straße ebenfalls beobachtet, rutschte nun rasch auf einen Sitz an der anderen Seite des Busses und sah aus dem Fenster.
„Was ist los?“, fragte Uwe verwirrt.
„Da hinten, der Kran. Ich glaube, er kippt.“
Hinter den Brillengläsern wirkten seine aufgerissenen Augen unnatürlich groß. 

Uwe sah von dem Jungen zu den Frauen und zu dem Busfahrer, der sich langsam bewegte und mühsam aufrichtete. Für einen Augenblick erschien ihm die Szene, wie aus einem Actionfilm, nur dass er selbst jetzt der Hauptdarsteller war.
Mit großen Schritten eilte er durch den Mittelgang nach vorn zu dem Fahrer, der mit schmerzverzerrtem Gesicht eine Hand auf seine Brust presste.
„Können Sie noch fahren?“
„Mein Herz …“, stöhnte der Mann und krümmte sich wieder.
„Dann machen Sie Platz.“
Ungeduldig zerrte Uwe den anderen vom Sitz, setzte sich selbst hinter das Steuer und legte den Rückwärtsgang ein. Schwerfällig und mit einem unangenehm knirschenden Geräusch löste sich der Bus von dem Metallgitter. Nach ein paar Metern wechselte Uwe unsanft in den ersten Gang und trieb das Fahrzeug mit leicht durchdrehenden Rädern vorwärts. Dann lag die feuchte und lehmbeschmierte Fahrbahn vor ihm. Er trat das Gaspedal herunter, schaltete hoch und fuhr mit Vollgas, bis er die Baustelle weit hinter sich gelassen hatte. 

Am Rand eines Feldes stellte er den Motor aus, starrte eine Weile auf das Armaturenbrett, ohne etwas wahrzunehmen, und rieb sich dann mit beiden Händen müde durch das Gesicht.
Verwundert hörte er hinter sich eine Kinderstimme singen.
„Alle Leut‘, alle Leut‘ gehn jetzt nach Haus. Große Leut‘, kleine Leut‘,…“
Er drehte sich um und sah den Jungen mit der Brille auf dem Boden sitzen. Unter der Bank neben ihm lagen das kleine Mädchen und ihr Bruder eng an den Boden gepresst. Dunkle Augen folgten gespannt seinen Bewegungen, als er die Arme hob und senkte, zeigte wie groß oder klein, dick oder dünn die Leute waren.
Uwe musste lächeln. Vor vielen Jahren hatte seine Tochter vor ihm gestanden, hatte mit großer Ernsthaftigkeit den Kindergarten-Evergreen gesungen und die kleinen Hände nach oben und unten bewegt.
Er stand auf, ging zur Tür und riss sie mit Schwung auf. Draußen fiel ein leichter Nieselregen.
Auf dem Randstreifen stehend sah er zurück. Drei Kräne markierten das Areal der Baustelle. Einer von ihnen stand etwas schief und neigte sich über die Grube hinweg in Richtung der Straße.
Er hörte Martinshörner näherkommen. Schon rasten die ersten Polizeiwagen und Feuerwehrautos an ihm vorbei zum Ort des Geschehens. Wahrscheinlich musste er einen eigenen Notruf abgeben, damit sich jemand um den Busfahrer und die ältere Frau kümmern konnte.

Nadia und ihre Mutter hörten ebenso wie die Kinder dem singenden Jungen zu, der gerade passend zur dritten Strophe des Liedes freundlich winkte.
„…sagen auf Wiedersehn, die Zeit mit euch war schön.“
Als das Lied zu Ende war, stand Noah auf. Nadia sah ihn an und lächelte.
„Danke schön.“
„Schon gut.“ Noah grinste.
Dann holte er seinen Tornister und stieg aus dem Bus.
Der Mann, der sie gerettet hatte, telefonierte noch mit der Notrufzentrale.
„Alles okay bei dir?“, fragte er den Jungen kurz darauf.
„Alles okay.“
Die Antwort sollte locker klingen, aber er merkte, dass es ihm wirklich gut ging. Die Bauchschmerzen waren weg und er freute sich auf die Schule. Eine wahnsinnig coole Geschichte hatte er heute erlebt, Finn und Leon würden staunen.

Er stellte sich neben Uwe und sie sahen beide hinüber zu der Baustelle.
„Das war extrem cool, wie Sie uns da rausgeholt haben“, sagte Noah.
Uwe schwieg.
Er wollte sich gerne bei dem Jungen entschuldigen, weil er so unfreundlich gewesen war, aber ihm fielen nicht die richtigen Worte ein. Zögerlich rieb er mit den Fingerspitzen durch die Bartstoppel an seiner Wange.
„Du machst das gut, das mit den Kindern. Kann nicht jeder.“
Dann, nach einer kurzen Pause.
„Und ist genauso cool wie Baggerfahren.“
Von der Baustelle her kam ein Polizeiauto auf sie zu und hielt wenig später hinter dem Bus. Ein Mann und eine Frau stiegen aus.
Uwe und Noah sahen sich an, grinsten und gingen zusammen auf die Beamten zu.