Von Karolina Kaiser-Cichocka

Der Garten ist atemberaubend! Alles ist hier perfekt: das Gras tanzend in der Brise, die Sonne – goldig und warm, der Mond im Kranz aus Sternen, die Blütenpracht, die Paradiesvogel, die Flüsse voller Fische. Und die Menschen: fröhlich und lachend. Ach, so ein Leben möchte jeder haben. Alles ist perfekt. Perfekt!
Hier zu spazieren ist ein Segen, für den jeder dankbar sein sollte. Und unter einem Apfelbaum zu sitzen ist, als würde man in einer Kathedrale beten. Wie die Sonne durch die Blätter glitzert. Das ist Kunst. Hier kann man auch die warmen Nächte verbringen und in den funkenden Sternenhimmel eintauchen. Hier fließt das Glück in den Adern.

Oh, die Äpfel sind rubinrot, bestimmt reif. Darf man sie pflücken? Es gibt kein Schild, der das verbieten würde. Was hat man mir am Anfang gesagt? „Du darfst von jedem Baum, von jedem Busch die Früchte pflücken, außer von einem. Der Baum ist verboten.“ War das dieser Baum? Es ist doch nicht schlimm, wenn nur ein Apfel fehlen wird. Es sind noch so viele.

Nein, das darf man nicht. Oder? Der Apfel ist so schön und glatt. Wie schmeckt er wohl? Ohne zu probieren, findet man das nicht heraus. Pflücken oder nicht pflücken, das ist hier die Frage.

Pflücken.

Ach, die Süße, der Duft, excellence! Der ist mit Sicherheit nicht verboten. Ich habe Recht.

Was ist los? Ich fühle mich irgendwie eigenartig. Meine Haut…sie stört mich. Nein! Ich bin nackt! Wessen Idee war denn das?! Ich möchte mich anziehen! Die großen Blätter dort, aus denen mache ich mir Kleidung. So ist es besser, noch nicht perfekt, aber besser.

Ich habe so einen Durst. Der Apfel war doch sehr süß. Trinken, sofort trinken. Aus dem Fluss? Das Wasser ist klar und ruhig. Sehr ruhig. Zu ruhig. Was, wenn ein Tiger auf mich lauert? Und mich…tötet? Hier ist es nicht sicher. Ich brauche Waffen, ich muss einen Unterschlupf bauen. Schnell, schnell. 

 

„Habt ihr es gesehen? Er hat von dem Baum gegessen.“
„Wir haben es gesehen.“
„Wie kann es sein, dass es immer so endet? Die Menschen bekommen alles was sie brauchen, wir verbieten ihnen nur eine einzige Sache und doch brechen sie das Verbot. Obwohl wir schon so lange existieren, verstehen wir es nicht.“
„Trotzdem ist es immer interessant zu beobachten, wie ähnlich sie reagieren. Wir dachten es könnte an der Rasse der Menschen liegen, an der Hautfarbe oder Kultur. Und doch ist das Ergebnis immer dasselbe. Faszinierend.“
„Vielleicht ist der Drang zur Freiheit und der freie Wille zu stark in ihnen und sie können nicht hierbleiben. Vielleicht brauchen sie die Umleitung zur Sterblichkeit, um die Ewigkeit akzeptieren zu können?“
„Das ist schon mal eine gute Vermutung. Wir kennen die Sterblichkeit nicht und das könnte der Grund sein, wieso wir die Menschen nicht verstehen.“
„Wir sind auch anders: wir sind Eins und doch viele. Und wir kennen die Einsamkeit und Angst nicht. Aber nun ruft uns die Pflicht. Er ist zu menschlich geworden und wir müssen ihn weiterschicken.“
„Was sollen wir ihm sagen? Die Menschen glühen vor Wut, wenn sie erfahren, dass sie von hier wegmüssen.“
„Wir können uns einen kleinen Scherz gönnen. Sagt ihm, er wird umgeleitet in eine neue experimentelle Schule, die eine Weile dauern wird. Er wird dort sich selbst besser kennenlernen und alles über sein neues Wissen, und Gefühle erfahren. Und er trifft dort den besten Lehrer: das Leben.“

 

Kleidung, Speer, Feuer. Gut, das Wichtigste habe ich. Noch ein Dach über dem Kopf und ich werde überleben. Nach dem Vernaschen des Apfels sehe ich alles ganz anders. Ich verstehe das nicht. Bis jetzt war alles für mich klar, doch nun habe ich mehr Fragen, als Antworten. Es ist beunruhigend.

„Es ist beunruhigend, weil du es noch nicht kennst. Aber das wird sich bald ändern.“

Wer ist da?! Ich warne dich, ich kann mich verteidigen. Ich habe einen Sperr und ich zögere nicht ihn zu benutzen. Siehst du? Ich weiß, wie man kurze Stiche macht. Ich kann ihn auch werfen.

„Immer mit der Ruhe. Deine Angst betrübt dir die Sinne. Wir wollen dir nichts tun. Erinnerst du dich? Wir haben dich aus dem Anfang geholt und alles gezeigt. Wir wissen, dass du von dem Baum gegessen hast und wir wissen, was du jetzt fühlst. Es ist für dich an der Zeit weiter zu gehen und deinen Weg als Lehrling zu beginnen.“

Als Lehrling? Klingt interessant. Wenn ich also lernen soll, dann erklärt mir eine Sache: wieso erinnere ich mich an euch, als Lichtgestalten, ohne Anfang und ohne Ende. Euer Licht war warm und ich fühlte mich geborgen. Jetzt sehe ich euch als Menschen mit Flügeln. Das Licht ist verschwunden.

„Das Licht würde dich jetzt blenden, darum haben wir eine andere Form angenommen. Das ist auch, weshalb du ein Dach über dem Kopf haben willst. Das Licht der Sonne, des Mondes und der Sterne stören deine Augen. Du kannst mehr sehen und doch siehst du weniger.“

Werde ich eines Tages auch so klug und rätselhaft sprechen? Ich möchte das können. Wer von euch wird mein Lehrer sein? 

„Keiner von uns nimmt diesen Platz ein. Du musst an einen speziellen Ort, denn man Schule nennt. Es ist nicht weit. Komm mit. Den Hügel runter und dann in den Wald. Du wirst vor allem einen Lehrer haben und es hängt von dir ab, was du von ihm lernen wirst. Manche lernen sehr viel und mache hören nicht richtig zu. Er kann sehr streng und schwierig sein, manchmal braucht man ein wenig Geduld. Aber dann kommt das Wissen.“

Sind dort auch andere Menschen?

„Sehr viele. Wir versichern dich: es wird nie langweilig sein. Wir sind angekommen. Hier verabschieden wir uns. Folge dem Pfad und du findest die Schule.“

Da wird es recht dunkel. Seid ihr sicher, dass das der richtige Weg ist? 

„Wir sind, wer wir sind und wir irren uns nicht. Das ist die richtige Umleitung. Und nun geh. Möge der Segen mit dir sein.“

Ehm…mit euch auch? Nein, das klang irgendwie nicht passend. Ist eh nicht mehr wichtig. Ich bin allein geblieben. Im Wald. Im dunklen Wald. Auf einem dunklen Weg. Ich hoffe, dass die Schule nicht weit ist. Wie mag sie wohl aussehen? Eigentlich möchte ich zurück unter meinen Apfelbaum, aber ich will lernen. Tja, auf geht’s!
Eigentlich ist es sehr angenehm hier zu wandern. Die Sonne strahlt durch das Laub und die kühle Luft tut mir gut. Ich frage mich nur, was sie mit dem Wort „Umleitung“ gemeint haben. Eine Schule ist doch keine Umleitung. Oder doch?
Oh, die Baumkrone wird immer undurchdringlicher. Das gefällt mir nicht. Ich kann keinen Sonnenstrahl mehr sehen. Was ist das? Ich höre ein rhythmisches Schlagen? Ticken? Mir fällt das Wort „Uhr“ ein. Gehört sie zu der Schule? Dann muss es nicht mehr weit sein. Das freut mich. Hier ist es unheimlich. 

Wie lange bin ich schon unterwegs? Es fühlt sich wie eine kleine Ewigkeit an.

Komisch, die Bäume stehen immer dichter aneinander. Wieso muss ich mich durch sie zwängen? Jemand sollte sich besser um den Weg kümmern. Es ist zu eng. Und das Schlagen, es wird immer lauter. Es klingt…wie ein Herz?! Wie ist das möglich? Bin ich nicht mehr allein?
Hallo?! Ist hier jemand? Hallo!!

Ich habe Angst. Es ist so finster und eng. Ich will raus! Hilfe! Hilfe! 

Ich muss herumtreten, dann komme ich vielleicht aus der verzwickten Lage raus. Wie wenig Platz ich habe. Treten, treten. Ich schaffe das. Oh! Da, ein kleines Licht. Ich muss zu ihm. Weiter, nicht aufgeben. Es fehlt mir an Luft, doch noch ein kleines bisschen und ich bin frei. Ahh! Der Schmerz! Mein Körper! Er wird zerquetscht! Tut das weh! Das Drücken fühle ich von jeder Seite. Das Licht wird größer! Ja! Nur noch ein kleines Stück, noch ein Stück und ich bin frei! Ich bin…

 

„Herzlichen Glückwunsch. Es ist ein Junge.“

„Unser Sohn. Ist er nicht süß?“
„Ich würde eher sagen: verwundert und entsetzt? Ich gratuliere dir, Schatz: du hast einen kleinen Erwachsenen zur Welt gebracht.“
„Das ist nur der Schock der Geburt. Mein kleiner Liebling, hab keine Angst. Mama ist da.“
„Und Papa auch. Wir werden dich beschützen. Aber keine Sorge, die Welt ist nicht so schlimm.“
„Oh, die kleinen Fingerchen, das Näschen. Er ist so perfekt. Und er wird schon entspannter.“
„Ja, als würde er gerade etwas vergessen wollen: die Geborgenheit des Bauchparadieses.“
„Was ist nur los mit dir? Du alberst herum. Freust du dich nicht?“
„Doch. Ich drehe nur durch vor lauter Papa Gefühlen und Müdigkeit. Ich bin überglücklich.“
„Ja, ich auch. Er ist so klein und zerbrechlich. Nach neun Monaten halte ich ihn endlich in den Armen. Dieses Gefühl kann ich nicht mal beschreiben. Schau nur, er ist eingeschlafen.“


„Wie wollen sie ihn nennen? Bekommt er einen Namen nach dem Großvater?“


„Nein. Wir haben uns etwas anderes gedacht. Ich glaube, der Name wird zu ihm passen.“
„Wir gehen ganz zu dem Anfang, wo alles begonnen hat. Wir nennen ihn: Adam.“

 

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