Von Franck Sezelli

Cucugnan – der Name kommt vielen bekannt vor,  Literaturfreunden, Theologen, Frankreichkennern und anderen. Dabei war es eher ein seltsamer Zufall, der dieses verschlafene kleine Winzerdorf im Bergland der Corbières im Languedoc praktisch weltbekannt gemacht hat, sodass es heute Scharen von Touristen anzieht. Alles begann mit einer Predigt.

 

»Meine lieben Schäfchen«, rief Pfarrer Martin, der Curé von Cucugnan, von seiner Kanzel. »Ihr wisst, ich liebe euch alle. Aber ich mache mir deswegen auch große Sorgen um euch. An vielen Sonntagen bleibt die Kirche halbleer, schon lange war niemand mehr in meinem Beichtstuhl, die Hostien verstauben selbst zum heiligen Osterfest. Ich fürchte um euer aller Seelenheil. So darf das nicht weitergehen!

Und siehe, unser Herr in seiner Gnade und Weisheit, hat mir einen Traum geschickt, den ich euch unbedingt erzählen muss. 

Ihr könnt mir glauben oder nicht – jedenfalls stand ich gestern Nacht vor Petrus’ Himmelspforte. Auf meine Bitte und Frage hin holte er das dicke Buch und suchte mit mir nach den Namen der Cucugnaner, die Eingang ins Paradies gefunden haben. Und, oh Schreck, kein Einziger aus Cucugnan war im Paradies!

›Aber wo sind denn alle meine Cucugnaner?‹, habe ich den heiligen Petrus gefragt. Da verwies mich der Hüter der Paradiespforte auf einen steinigen, langen und sehr beschwerlichen Weg, der mich mit kratzigen Sträuchern und zischenden Schlangen bedrohte. Dank schützender Sandalen, die mir Petrus auf den Weg gab, erreichte ich eine Tür, hinter der sich das Fegefeuer befindet. Sollten die armen Seelen meiner Cucugnaner noch der Läuterung unterzogen werden, bevor sie ins Paradies dürfen?, fragte ich mich. Doch der Engel Gottes, der das Eingangsbuch des Purgatoriums führte, fand keinen Eintrag aus Cucugnan. Mit der Nase stieß er mich auf die schreckliche Erkenntnis: Wer nicht im Paradies zu finden ist und auch nicht im Fegefeuer, der kann nur in der Hölle sein!

Auf mein Flehen hin beschrieb mir der gute Engel den Weg. Über glühende Kohlen wankte ich mehr als dass ich lief, nur dank der schützenden Sandalen, die mir Petrus gegeben hatte, verbrannte ich mir nicht die Füße. Schweißüberströmt, vor Angst schlotternd und gequält von großer Hitze und schrecklichem Durst erreichte ich das Höllentor. Dort gab es kein Register, aber ein furchteinflößender schwarzer und gehörnter Dämon ließ mich, vor Schadenfreude kichernd, in das entsetzliche Flammenmeer hineinschauen.

Es roch erbärmlich nach verbranntem Fleisch, ich hörte Jammern, Wehklagen, Schreie und Flüche – und ich erkannte sie alle, angefangen von Coq-Galline, der so oft betrunken war und seine Frau misshandelte, über Pascal Doigt-de-Poix, der die Oliven der Nachbarin für sein eigenes Öl stahl, bis zu Tortillard, der mich, seinen guten Pfarrer, nie grüßte. Alle, alle Cucugnaner waren ins Höllenfeuer verbannt.«

Der Abbé Martin berichtete von weiteren Einwohnern Cucugnans, die er dort gefunden hatte. Alle Zuhörer waren bleich vor Schreck, erkannten sie doch ihre verstorbenen Eltern, Tanten, Nichten, Onkel, Geschwister und Nachbarn und wussten um ihre Sünden, ihre großen und kleinen Betrügereien und ihre mangelnde Frömmigkeit.

Zum Trost für seine Schutzbefohlenen wusste der gute Dorfpfarrer aber einen Ausweg. Er befahl alle seine Schäfchen zur Beichte, gleich in der nächsten Woche, schön geordnet der Reihe nach. Montags die Alten, dienstags die Kinder und so weiter die ganze Woche durch. Für die jungen Burschen und Mädchen nahm er sich besonders viel Zeit und für den Müller reservierte er den ganzen Samstag – er wusste wohl, weshalb.

Und so kam es auch. Es wurde viel schmutzige Wäsche gewaschen – aber danach glänzten das Dorf und seine Bewohner in tugendhafter Reinheit. In der Folge waren die Cucugnaner so fromm, dass sich dies weit in der Gegend herumsprach.

Der Pfarrer Martin und seine Gemeinde lebten fortan glücklich miteinander und freuten sich auf das künftige Leben im Paradies.

 

Diese Geschichte, die ich hier mit meinen eigenen Worten und sehr verkürzt wiedergegeben habe, hörte im Jahr 1858 der Reisende Auguste Blanchot de Brenas und veröffentlichte sie 1859 in einer literarischen Wochenzeitung. Um niemandem zu nahe zu treten, nannte er das Dorf, in dem die Anekdote spielte, einer zufälligen Eingebung folgend, Cucugnan. In der Armana Prouvençau erschien 1866 eine provenzalische Version dieser Erzählung, verfasst von Joseph Roumanille.  

Es war Alphonse Daudet, der den Text von Roumanille ins Französische übertrug und im Oktober 1866 als einen der Lettres de mon moulin veröffentlichte. Der Pfarrer von Cucugnan ist die zwölfte Episode in diesen Briefen aus meiner Mühle.

Dadurch wurde der Ortsname Cucugnan, den es nur ein einziges Mal in Frankreich gibt, weltbekannt. Obwohl die schöne Turmwindmühle des Ortes, in dem die literarisch in die Irre  geführten Touristen meinen, auf den Spuren des bekannten französischen Dichters zu wandeln, natürlich nicht diejenige ist, die Daudet als seine Inspiration benutzte und angeblich in ihr seine Briefe schrieb.

Das ist aber nicht weiter tragisch, denn nicht einmal in dem wahren Vorbild für die in den Lettres beschriebene Mühle in Fontvieille in der Provence hat Daudet jemals etwas geschrieben, geschweige gewohnt!