Von Marianne Apfelstedt

Mit zitternden Händen öffnet Lena die Verpackung. Erst beim zweiten Versuch gelingt es ihr, dass schützende Zellophan, zu zerreißen. Sie taucht den Kunststoff Applikator in die Flüssigkeit und legt ihn auf das Waschbecken. Um nicht die endlosen drei Minuten im Bad zu stehen, räumt sie in der Küche die Spülmaschine aus. Jetzt ist sie fertig, sie muss sich den Tatsachen stellen. 

 

Das Ergebnis ist eindeutig. 

 

Negativ. 

 

Die Hände halten den Körper umfangen, der ihr fremd ist, der immer mehr zum Feind wird. Schon spürt sie, wie sich heiße Tränen Bahn brechen. Sie ist ausgebrannt und leer. Die Zeit steht still, da ist nur Schmerz.

 

Ich fühl mich wie die Maus im Hamsterrad, jetzt ist Schluss.

 

Wütend bricht sie das Plastik entzwei und steckt alles in den Mülleimer. Sie schrubbt die Hände mit Seife und spült die Tränen mit einem Schwall Wasser davon.

 

***

 

Mit lauter Musik und einem Glas Merlot, bereitet sie das Abendessen zu. Als sie Josch an der Haustür hört, schenkt sie ein zweites Glas Rotwein ein.

 

„Wow hier riecht es lecker, ich würde sagen Zitronenrisotto. Womit hab ich das verdient?“, schmunzelt Josch.

 

„Es wird noch besser, Wein für dich und Eis zum Nachtisch“, nuschelt Lena.

 

Josch sieht hinter die aufgekratzte Fassade und bemerkt, dass Lena schon mehr als ein Glas Wein getrunken hat. Sanft nimmt er ihr das Glas aus der Hand, zieht sie zu sich, hält sie und streicht ihr beruhigend über den Rücken. Langsam sinkt ihr Kopf an seine Brust, erst als die Tränen versiegen, spürt er, wie sie sich entspannt.

 

Die letzten Jahre waren ein Auf und Ab. Nach unzähligen Untersuchungen konnte sich kein Arzt erklären, warum es mit der Schwangerschaft nicht klappt. Nach der Hormontherapie hatten sie beschlossen nicht mehr als vier künstliche Befruchtungen zu versuchen. Bei jedem Misserfolg fiel Lena in ein tiefes Loch. 

 

Seine lebenslustige Gefährtin leiden zu sehen, zermürbt ihn. Deshalb hatte er sich über eine Adoption informiert. Bis jetzt wusste er nur nicht, wie Lena darauf reagieren würde. 

 

„Was hältst du von einem Adoptionsantrag? Es gibt in Deutschland Babys, die ein Zuhause suchen.“

 

***

 

„Puh“, stöhnt Josch, „jetzt haben wir seitenweise bürokratische Formulare gelesen und endlose Seiten Papier ausgefüllt, ich glaube, wir haben alles beieinander.“ 

 

„Ja, alles da. Fragebogen, Lohnbescheinigung, Lebenslauf, und die Führungszeugnisse habe ich schon in die Mappe gelegt. Wir haben ja Übermorgen um 13.00 Uhr den Termin beim Jugendamt.“ Lena grinst ihn glücklich an.

 

„Was hältst du von Pizza zur Belohnung?“

 

„Prima Idee, wir gehen zu Luigi, mir ist nach leckerer Tristi Pasti. Gib mir zehn Minuten, dann werf ich mich für dich in Schale, Herr Kunze“.

 

Lächelnd sieht er Lena hinterher, wie sie mit kokettem Hüftschwung im Schlafzimmer verschwindet. Seit die Erfüllung des Kinderwunsches in greifbare Nähe rückt, ist Lena wieder die strahlende Frau, in die er sich verliebt hat. 

 

Ob ich ein fremdes Kind lieben kann?

 

***

 

Schon an der Eingangstür hört Lena ein Klingeln. Mit fliegenden Händen öffnet sie die Tür, hastet zum Telefon und sprudelt hervor,

 

„Lena Kunze!“

 

„Hallo Frau Kunze, prima das sie zu Hause sind. Ihre Unterlagen für die Adoption sind jetzt komplett. Mir wurde ein Termin für heute Nachmittag abgesagt. Ich würde gerne so gegen 17.00 Uhr vorbeikommen, dann könnten wir den Hausbesuch gleich abhaken. Laut meinen Unterlagen fliegen sie ja nächste Woche in den Urlaub.“

 

„Ja ich bin da, Sie können gern vorbeikommen. Josch sollte bis dahin auch zu Hause sein. Dann bis nachher.“

 

Schnell schreibt sie eine Nachricht an Josch.

 

„Frau Lehner vom Jugendamt kommt um 17.00 Uhr zum Hausbesuch. Kochen fällt aus, muss aufräumen. Sorry!“

 

Schwungvoll vor sich hin summend räumt Lena das Geschirr vom Vorabend in die Spülmaschine, die Schmutzwäsche wird aus dem Bad in die Waschküche verbannt. Das jetzige Arbeitszimmer, derzeitige Baustelle und werdendes Kinderzimmer wird kurz gelüftet, als es schon an der Tür klingelt.

 

„Guten Tag, Susanne Lehnert. Freut mich, dass wir uns endlich kennenlernen.“

 

***

 

Lena sieht wieder zum Fenster hinaus, es ist kein roter Golf zu sehen. 

 

Hoffentlich kriegen wir das hin.

 

„Auf den Fotos sieht sie so winzig aus, meinst du, das Babybett ist nicht zu groß für sie? Was machen wir, wenn sie bei uns nicht schlafen kann?“

 

Joschs tiefes Lachen beruhigt ihre flatternden Nerven.

 

„Dann singst du ihr ein Schlaflied, oder ich trage sie spazieren und rezitiere derweil den Zauberlehrling, dann fallen ihr sicher die Augen zu“, schmunzelt er.

 

Jetzt können wir nicht mehr zurück.

 

„Komm, setz dich zu mir aufs Sofa.“ 

 

Mit einem Seufzer lässt sich Lena zu ihm aufs Sofa fallen. Liebevoll legt sie ihm die Hand auf den Oberschenkel. Heute begann das große Abenteuer, das Abenteuer Eltern. Erstmal nur für die Adoptionspflegezeit von einem Jahr. In regelmäßigen Abständen wird das Jugendamt kommen um nach dem Rechten zu sehen. Dann, nach einem Jahr, kann das Familiengericht den Adoptionsbeschluss erteilen.

 

Als endlich Frau Lehner mit der schlafenden Tabea im Maxi-Cosi in ihrem Hausflur steht, ist Lena nervös und fahrig, Josch ist wie immer der Ruhepol.

 

„Die kleine Maus ist beim Autofahren eingeschlafen,“ erklärt sie.

 

„Kommen Sie doch mit, dann kann sie gleich in ihrem Bettchen weiterschlafen,“

 

Josch öffnet die Tür zum Kinderzimmer. Als der Blick von Frau Lehner auf eine Wand in zartem Grün mit einer Bordüre aus Libellen und Fröschen in bunten Badehosen fällt, meint sie freundlich,

 

„Wie originell, Tabea werden die Frösche gefallen.“

 

Nach einer Tasse Tee und Smalltalk, hauptsächlich zwischen Josch und Frau Lehner, die ihnen vertraulich das Du und Susanne angeboten hat, sind die frischgebackenen Eltern allein mit Tabea. Die Kleine schläft wie ein Murmeltier. Staunend steht Lena am Türrahmen, leise wie eine Katze nähert sie sich dem schlafenden Kind. Sie schaut auf feines dunkelblondes Haar, verstrubbelt vom Schlaf. Wie von Magneten angezogen steht sie am Bettchen, so nah, dass sie sieht, wie sich die kleine Brust bei jedem Atemzug leicht anhebt. Sie verliert jegliches Zeitgefühl und ist gefangen in diesem Augenblick. Vorsichtig streicht sie eine Haarsträhne von der rosigen Wange, so zart wie Seide. Die Hand wandert weiter zu den winzigen, perfekten Fingern. Als sie den Blick hebt, bemerkt sie klare blaue Augen, die ihr entgegenblicken. Wie selbstverständlich nimmt sie Tabea aus dem Bettchen, als sie sich umdreht, steht im Türrahmen ein strahlender Josch.

 

„Meinst du, Tabea hat schon Hunger? Ich versuche mich mal als Milchkoch.“

 

Sie sieht so glücklich aus.

 

Lena setzt sich mit dem Baby auf den Küchenstuhl. Die Wärme der kleinen Tabea, dringt durch die Kleidung direkt in ihr Herz. Jetzt ist sie Mutter.

 

 

***

 

„Tea Kuchen!“ 

 

„Guten Morgen Tabea. Alles Gute zum Geburtstag!“

 

Lena drückt Tabea an sich und wirbelt sie dann wie ein Karussell um sich herum, die Kleine kichert und quietscht vergnügt.

 

„Landung im Kinderstuhl, gleich kommt das Frühstück!“

 

Auf dem Tisch steht ein Gugelhupf mit dickem Schokoguss. Lena schneidet ein fingerdickes Stück aus dem Kuchen und gibt es auf einen Teller. Mit einem Becher Kaba stellt sie alles auf Tabeas Tischchen am Kinderstuhl. 

 

„Komm, wir machen ein Foto für Papa, weil er schon beim Arbeiten ist.“ 

 

Unter das Foto schreibt sie, unser Sonnenschein ist schon wach. Wir heben dir Kuchen auf. Kuss bis später. 

 

Mit einer Tasse Kaffee setzt sie sich zu Tabea, zündet die beiden Kerzen in der Geburtstagsraupe an und genießt den harmonischen Morgen.

 

***

 

Im warmen Wasser fühlt Lena, wie der Schmerz mit jedem Atemzug zurückweicht. Die Hebamme legt ihr Marie auf die Brust. Fasziniert streicht sie zart über das Köpfchen, das zum Teil mit Käseschmiere bedeckt ist. Winzige perfekt geformte Finger finden ihre Haut. Lenas Blick wird gefangen von Augen so weise und jung.

 

„Willkommen Marie ich bin deine Mama. Ich habe so lange darauf gewartet, dass du zu mir findest“ flüstert sie ganz leise.

 

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