Von Peter Burkhard

Mit der zittrigen Hand eines greisen Mannes, aber prägnant und mit sorgfältiger Schrift, schrieb Martin die Zeile auf einen Fetzen Papier: „Ich muss nochmals weg“. Danach legte er den Zettel auf die Kommode im Flur und beschwerte ihn mit einem glänzend polierten Stein.

Er fühlte sich bereit für sein Vorhaben und ging früh zu Bett.

 

Als Martin am folgenden Morgen die Lamellen der Schlafzimmerjalousien etwas anhob, bemerkte der Frühaufsteher als Erstes die Spatzen vor seinem Fens­ter und er sah, dass die Sonne schien. Das war schon einmal besser, als wenn es an diesem Tag geregnet hät­te. Mehrmals zupfte der alte Mann die Decke auf seinem Bett zurecht, kontrollierte, ob nirgends mehr Strom floss, zog die Badezimmertüre zu und ging.

Den Entschluss dazu hatte er zwei Tage zuvor gefasst, am Abend seines 86. Geburtstages. Der Jubilar hatte den ganzen Tag allein verbracht, niemand hatte ihn besucht oder angerufen. Keine einzige Glückwunschkarte hatte ihn erreicht, auch kein Brief und keine E-Mails, es schien so, als hätte man ihn ganz einfach vergessen.

Die letzten zehn Monate waren schwer zu ertragen gewesen, seit sie ihn allein zurückgelassen hatte. Schon lange hatte er mit seinem Schicksal gehadert, nun aber war ihm endgültig klar geworden, dass er für die andern nicht mehr existierte. Was also hätte ihn noch halten sollen?

 

Martin überlegte nicht lange. Ohne einen Plan ging er zum See und folgte dessen linkem Ufer, seeabwärts. Als er das Ende des Gewässers erreicht hatte, folgte er dessen Ausfluss, bis dieser in den nächstgrösseren Fluss mündete. Nun hielt sich der Wanderer an diesen, bis auch dessen Wasser sich mit den Massen eines noch grösse­ren Wasserlaufs vermengten.

So ging er während Tagen und Wochen, immer den Ufern nach. Er ging allein, sprach mit niemandem, ausser hie und da mit sich selbst, obwohl er auch den Sinn dieser Selbstgespräche anzweifelte.

Zuerst noch fragte er sich, ob vielleicht doch jemand bemerkt haben könnte, dass der Alte weg war? „Wohl kaum“, dachte er, „denn sonst hätte mich sicher die Polizei aufgehalten, um mir mitzuteilen, dass ich vermisst werde und um mich zu fragen, wohin ich gehe.“ Aber es fragte ihn niemand danach.

Mit jedem Tag wurden seine Schritte beim Marschieren leichter, seine starren Gelenke, die versteiften Muskeln, alle seine alten Körperteile begannen sich zu entkrampfen und machten ihm das Gehen je länger je einfacher. Und wenn es ihm doch einmal schwerfiel oder das Wetter nicht mitspielte, dann nahm er sich die Zeit und legte eine Pause ein. Nichts trieb ihn, nichts hinderte ihn, nichts hielt ihn auf, Martin ging und folgte dem Lauf des Was­sers.

 

Manches, was der rüstige Alte beim Gehen am Weg sah, rief Dinge in ihm wach, die einmal in seinem Leben wichtig gewesen waren. Vieles aber nahm er gar nicht wahr, weil sein Denken sich lieber in Erinnerungen verstrickte, in Rückblenden, für die er jetzt alle Zeit der Welt hatte. Immer und immer wieder kehrten seine Gedanken in die Vergangenheit zurück, fanden sich in seiner Jugendzeit wieder oder verweilten bei all den schönen Momenten, mit denen sein Leben reich gesegnet war.

Nur wenn Familienmitglieder versuchten, in seine Gedankenwelt vorzudringen, vertrieb er diese fest entschlossen, seine Angehörigen hatten in seinen Lebensbildern nichts mehr verloren.

Manchmal waren es Strassennamen, gelegentlich Wirtshausschilder, hie und da nur kleine Begebenheiten am Wegrand, welche die Schubladen seines Gedächtnisses öffneten und kleine, witzige oder traurige Geschichten hervorholten.

So wie die zwei Rockertypen, welche ihn mit dem Wummern und Krachen ihrer Motorräder zurückversetzten zu jenem 29. Mai, seinem Geburtstag. Das war der Tag, als ihn seine Schulklasse damit überrumpelte, dass er mit einer geliehenen Harley-Davidson zweimal um das ganze Dorf donnern durfte, bis weit den Berg hinan, um die entfernteste Ecke der Gemeinde und wieder zurück zum See. Diese Geste seiner Schüler war das umwerfendste Geburtstagsgeschenk, das er je erhalten hatte.

Keine Erinnerungen aber vermochten ihn glücklicher zu stimmen, als die, an seine unzähligen Reisen in die Länder aller Kontinente. Ob allein, auf Fotopirsch im südlichen Afrika oder noch lieber mit ihr, auf den Vulkanen Ja­vas, in den Wüsten des Omans oder an den Salzseen der chilenischen Anden, Reisen war seine Passion gewesen. Mit ihr an seiner Seite, hatte er grosse Abenteuer erlebt, welche die Welt ihm zu Füssen gelegt hatte. Sie war nicht nur eine verläss­liche, unkomplizierte Reisebegleiterin gewesen, sondern sein Lebensquell bis zu ihrem letzten Tag. Umso trauriger stimmte es ihn nun, dass ihm ihr Name für immer entfallen war.

 

Der wackere Wanderer war im Frühsommer, zur Blütezeit des Schwarzen Holunders losgezogen, unterdessen stand die Sonne senkrecht am Mittagshimmel. Sie zwang ihn, an heissen Tagen eine Mittagspause einzulegen und sich im Schatten der Bäume am Weg auszuruhen. Er ging zwar noch immer unentwegt und sicheren Schrit­tes, stets entlang den Ufern eines ruhig dahinfliessenden Stromes. Aber er war nicht mehr so schnell unterwegs, wie dies noch zu Beginn dieser, seiner letzten Reise der Fall gewesen war. Martin fühlte sich nicht einsam, obwohl er es war und noch keine Sekunde hatte er sein Weggehen bereut. Nicht im Geringsten vermisste er die heimischen Gefil­de und schon gar nicht die Gespräche mit den Menschen, denen er einst vertraut hatte. Es fiel ihm auch nicht auf, dass nicht nur er selbst mit niemandem sprach, sondern kein Mensch das Wort an ihn richtete oder ge­richtet hatte, auf seinem ganzen langen Weg entlang des grossen Wassers.

 

Hatte er die Menschen entlang seines Pfades, wenn sie untereinander sprachen, bis anhin verstanden, so hörte er nun plötzlich Wortfetzen und Ausrufe, deren Bedeutung und Sinn sich ihm nicht mehr erschlossen.

Der grosse Strom, dem der greise Mann während Wochen gefolgt war, veränderte sich. Die Fluten verteilten sich nun auf viele Wasserarme, bevor sie sich, kraftlos und träge in den Wellen des Meeres verloren.

Mit dem Verschwinden des Flusses verliess ihn nicht nur sein treuer Weggefährte, der ihm die Richtung vorgegeben und den Weg gewiesen hatte, Martin begann sich viel­mehr zu fragen, ob und wenn ja, wohin er überhaupt weitergehen solle.

Nach kurzem Zögern wandte er sich gegen Norden und folgte der Küste. Auf dem sandigen Boden wurden seine Schritte schwerer, die Dünen zu erklimmen erschöpfte ihn und sein Körper zeigte Ermüdungserscheinungen.

Sein Denken liess nach und sein Gehen erlahmte vollends.

Sein Wille erstarb im Sand.

 

Der müde, alte Mann öffnete seinen Stoffbeutel, den er seit Wochen mit sich getragen hatte, entnahm ihm ein paar wenige Sachen und durchwühlte den Rest. Dabei stiess er auf ein Stück sorgfältig zusammengelegtes Papier, das er verwundert und neugierig auseinanderfaltete, bevor er es las.

Die Zeilen verwirrten ihn. Mehr noch, Martin konnte den Sinn dessen, was er las nicht mehr begreifen. Er verstand nicht, dass es seine eigene Todesanzeige war, die er in seinen zittrigen Händen hielt.

 

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