Von Gabriele Sodeur                                                                                                                                           

Und eines Tages, es muss so 1958 gewesen sein, hatte sie auch einen „Persianer“ bekommen, meine Mutter.

Es war ein Mantel aus grauem Lammfell und endlich einer, der wirklich warm  hielt. Ein bisschen schwer, ja, das war er schon. Aber meine Mutter liebte ihn  über alles und ich ihn an ihr, wenn sie ihn trug! 

Er war robust und fleckabweisend, herrlich herumtollen konnte ich mit meiner Mutter, wenn sie diesen wunderbaren „Persianer“, wie wir ihn ein bisschen spöttelnd nannten, trug! 

Die Jahre vergingen und eines Tages war der „Persianer“ nicht mehr in Mode und verschwand in Mutters Schrank, aufgehoben für schlechte Zeiten – man konnte ja nie wissen…

 

1996 wollte mein Vater, gerade 75 geworden, eine Reise nach Ostpreußen machen. Dorthin, wo er vor 57 Jahren meine Mutter kennengelernt hatte, und so fragte er sie, ob sie nicht mitfahren wolle. Einmal noch die alten Plätze wieder aufsuchen, die sie in jungen Jahren so geliebt hatten und dann ein paar Tage Urlaub machen an der kurischen Nehrung, auch das in Erinnerung an früher. 

Meine Mutter wollte ihr ganzes Leben lang nie Ostpreußen wieder sehen, Königsberg, ihre Heimat. Sie wollte alles so in Erinnerung behalten, wie sie es von früher her kannte. 

Jetzt im Alter war es für sie erst recht nicht mehr wichtig, solche Erinnerungsplätze noch einmal aufzusuchen, denn sie hatte sie ja sowieso immer bei sich, in ihrem Herzen.

„Nein, lieber nicht, ich muss auch nicht noch mal an die Ostsee. 

Lass uns lieber an den Bodensee fahren, da hab ich doch dann auch Wasser…“  

Noch im selben Sommer starb meine Mutter und so machte mein Vater diese Reise in die Vergangenheit mit seinen Kindern, meinem Bruder und mir.

 

Mein Vater hatte alles gut vorbereitet: 

„Wir fliegen zunächst nach Königsberg und werden dort von einem  deutschsprechenden Litauer abgeholt, der uns einen ganzen Tag lang an alle meine Erinnerungsplätze in Königsberg führen wird.

Danach fahren wir mit ihm auf die kurische Nehrung und machen 10 Tage Urlaub in seiner Pension an der Ostsee.“   

Am 4. September, dem Geburtstag meiner Mutter, waren wir ihr ganz nah, als wir Richtung Königsberg durch die Wolken flogen. 

  

„Ich muss nochmal kurz weg, bin gleich wieder da“,

hatte mein Vater vor unserer Abfahrt daheim gesagt, als wir schon alle im Auto saßen. Er stieg also noch einmal aus und verschwand im Haus.

Es dauerte dann doch etwas länger und als er wieder heraus kam, trug er unterm Arm eine pralle Plastiktüte, die notdürftig mit einer Schnur umwickelt war. 

„Nee oder? Was nimmst Du denn so eine olle Tüte jetzt mit auf die Flugreise?“   

„Die muss mit“, war die schlichte Antwort meines Vaters.                   

                                                                                                                                                             

Ich kann gar nicht sagen, wie ich mich in dem Moment genierte, als der Steward dieses verschnürte Bündel oben im Gepäckfach verstaute.

Warum hatte mein Vater diese Plastiktüte bloß mitnehmen müssen?

Als sie ihm beim Aussteigen wieder gereicht wurde, nahm sie mein Vater fast feierlich entgegen:                                                          

„Ich muss ihn nach Hause bringen.“ 

Da sah ich erst, was da aus der Tüte seitlich hervorquoll: 

Es war der mausgraue, widerspenstig gewordene, alte Schafpelzmantel meiner Mutter, ihr „Persianer“.

Mir wurde schwindelig.

Nur schnell aus dem Flugzeug raus, vorbei an dem Stewart – schaute der mich nicht mitleidig an?

Weit hinter mir stiegen mein Vater und Bruder aus dem Flugzeug, mein Vater das Pelzbündel fest unterm Arm.     

                                                                             

Aber da werden wir auch schon von unserem litauischen Chauffeur am Flughafen in Königsberg erwartet.                                                                                            

Klemas heißt er und sein Deutsch ist für uns gut verständlich, da er jahrelang als Fernfahrer in Deutschland unterwegs gewesen ist und, da er Russisch in der Schule gelernt hat, beherrscht er auch die russische Schrift, für uns ein Buch mit sieben Siegeln.

 

Wir drei und unser Gepäck werden also in seinem Wagen verstaut und dann chauffiert Klemas uns an alle Orte, die ihm mein Vater nennt. Zum Schluss soll er uns zu dem Häuschen fahren, in dem meine Mutter mit ihren Eltern vor ihrer Flucht 1945 gewohnt hatte. 

Mein Vater hat ein Fotoalbum dabei mit Bildern dieser Straße:  

Der Blick die Straße hinunter, am Häuschen vorbei, meine Cousine im Garten. Sogar die Straßennummer kann man erkennen: 

Es ist eine 24. Stieglitzweg 24 war es damals.                                                                                            

Mein Vater hält jetzt das Persianerbündel fest auf dem Schoß.

Langsam fahren wir durch verschiedene Ansiedlungen am Rande  Königsbergs, vorbei am Aschmannpark, durch den mein Vater als Zwanzigjähriger  immer von der Straßenbahnhaltestelle aus gelaufen ist, um meine Mutter zu besuchen. Wir fahren an kleinen Siedlungshäusern vorbei. Ich sehe miniberockte Russinen mit hohen Absätzen die Straße entlangstöckeln.

Immer tiefer drück ich mich in die Ecke der engen Rücksitzbank. 

Was würde so jemand schon mit diesem „Persianer“ anfangen? 

Wenn es wenigstens ein echter gewesen wäre. 

Zwischendurch hält Klemas an und fragt nach der Straße, auf Russisch. 

Ich hoffe, diese Aktion würde so schnell wie möglich enden. 

Irgendwann, für mich nach gefühlten Stunden, hält er an, steigt erst einmal allein aus und geht zu einem Häuschen mit einem alten, verblichenen Hausnummernschild. Es ist eine 24. 

Dort geht er die Treppe hinauf und klingelt. Im Auto halten wir alle die Luft an. 

Es dauert eine Weile, dann kommt er mit mehreren Leuten wieder die Treppe herunter, darunter eine ältere Frau.

Er bedeutet uns, auszusteigen. 

 

Wir, mein Bruder, ich und allen voran mein Vater mit dem Bündel unterm Arm,  steigen aus und gehen langsam zu der Familie, die uns fast angstvoll entgegen blickt.

Unser Fahrer spricht nun leise mit ihnen auf Russisch und erklärt uns dann in seinem etwas gebrochenen Deutsch:

„Die Leute habe Angst, wohne hier schon lange, wolle nicht mehr weg, wolle nicht, dass Sie ins Haus komme.“

„Vadder, dann gehn wir halt wieder, dann ist das hier eben beendet!“ 

Ziemlich genervt, will ich mich umdrehen.

 

Da macht mein Vater langsam einen Schritt auf die Leute zu und dann noch einen und noch einen und streckt ihnen das Pelzbündel entgegen.                                                    

Er lässt Klemas erklären, was es damit auf sich hat, und da sehe ich, wie bei der älteren Frau für einen kurzen Moment, ein zögerliches Lächeln über ihr rundes bäuerliches Gesicht huscht.   

Sie nimmt das Bündel entgegen und presst es sich sogleich nah an die Brust. 

Als ich das beobachte, schäme ich mich, weil ich mich so geschämt habe und

spüre, dass Mutters „Persianer“ nirgends so gut aufgehoben ist, wie hier. 

 

So ist auf gewisse Art doch noch ein Teil meiner Mutter nach vielen Jahren wieder in ihrer Heimat gelandet – an dem Tag, an dem sie 77 Jahre alt geworden wäre…

 

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