Von Maria Lehner

Für Sophie ist beides nicht unerwartet gekommen. Erstens die endgültige Trennung von Steffen. Und zweitens ihr mehr als wackeliges Standing in der Firma. Entsprechend ist ihre Stimmung beim Kick-Off-Meeting im noblen „Westin Grand Hotel Berlin“. Die Fragen sind: Was geht hier ab? Was ist das für ein neues Wording? Was tu ich hier? Und vor allem: Wie komm ich hier noch mal weg?

*

Oldschool hat sie der CEO spöttisch genannt. Vor allen. Nicht im Sinne von „erprobten Standards gemäß“, sondern: vorgestrig. Steffen sagt auch immer: „Du bist aus der Zeit gefallen“ oder „Du bist wohl irgendwann von drüben über die Mauer gebeamt worden“. Strukturverliebt sei sie, kaum eigenständig, anordnungsfixiert, Oldschool: Sie trägt zum Businesskostüm den grünen Organza-Schal. Und im Kopf die Überzeugung, dass das hier nicht mehr ihre Welt ist. 

*

Sie steht fröstelnd und verloren in der zentralen Kuppel, die sich über sechs Stockwerke öffnet. Mit Blick von unten auf das sogenannte „Oktogon“ und die angeblich größte Freitreppe in einem europäischen Innenraum. Ist das Marmor? Die geschwungenen Handläufe entlang waren schon Königin Nur von Jordanien, das Ehepaar Putin, Kirk Douglas und die Rolling Stones geschritten, sagt man. Die Wahl der Location passt zum Motto des CEO „Work hard – dream big“. Sophie klammert sich immer gern am Machbaren fest wie an einem dieser Handläufe, während andere neben ihr mitten auf der Treppe hinauf- oder hinunterlaufen. 

 

Sie denkt: Wieder Single und verloren im „dream big“. Noch einmal raus aus dem Ganzen? Die Schicksalskarten neu gemischt bekommen? Sie lächelt hier, scherzt da, beteiligt sich am Smalltalk. Und fühlt sich, als würde sie nicht mehr dazugehören. Aber auch, als sei das ein Abend, der alles verändern könnte. Die anderen entwerfen „SWOT“-Analysen und sind – ganz aufgekratzt – mitten in der Planung und im Firmen-Neusprech. 

 

Sie entschuldigt sich bei ihrem Sitznachbarn, geht zum Empfang und bittet dort um einen Kugelschreiber und ein Post-It; darauf schreibt sie „Ich muss noch mal weg“. Das will sie der Bedienung dann für die Gruppe geben und ohne Abschied verschwinden. Aber sie wird plötzlich abgelenkt und steckt das Post-It gedankenverloren in die Jackentasche.

*

Musik – woher kommt sie? Sie folgt dem Klang. Ein anderes Treppenhaus? Das war ihr zuvor nicht aufgefallen. Wandkacheln in Weiß-Grün-Tönen und Messing-Treppenhandläufe. Stuck, Gold – Klaviergeklimper. Es klingt unwirklich, wie gefiltert. Auf dem Boden liegt eine Zeitung, zusammengefaltet. Sophie ist daran gewöhnt, sich immer für Ordnung verpflichtet zu fühlen und hebt sie auf: „Nationalzeitung“ liest sie „Montag, 17. August 1987“. Auch schon Geschichte, denkt sie. Aber die Zeitung riecht druckfrisch. Aus dem „Café Bauer“ scheint die Musik zu kommen. Die Menschen an den Tischen wirken wie in einer etwas zu hell geratenen Filmszene. Ätherisch sozusagen. Neugierig geht sie weiter und denkt „Aus der Zeit gefallen. Wie ich“. Minutenlang träumt sie dahin, dann kommt ein steif wirkender Kellner auf sie zu „Ich darf Ihnen eine Einladung überbringen von dem Herrn am Tisch hier drüben“ (Geste mit der rechten Hand). 

 

Sie schaut diskret in die Richtung. Einer erhebt sich halb und deutet eine Verbeugung an. Seriös. Als sie ihm mit neutralem Blick zunickt, kommt er in ihre Richtung. „Verzeihen Sie, Sie sehen aus, wie jemand, der dieses Haus erforschen will; ich kenne es gut und kann sie führen. Man verläuft sich hier leicht – das Haus hat so viele Nischen“. Er trägt eine seltsame Retro-Brille (aber alle hier wirken „retro“). Sie sieht ihn interessiert an, als er weiterspricht: „Machen wir uns auf den Weg, denn dies hier ist so gut wie vorbei, sie merken es ja. Die Musik klingt wie von fernher, die Menschen … wie Figurentheater hinter Seidenpapier“. Ja, das ist erstaunlich gut ausgedrückt. Es macht sie neugierig. 

 

Sie setzt sich mit ihm in Bewegung. Sie kommen in ein weiteres Treppenhaus. Das Haus hat tatsächlich viele Nischen. Die Schritte hallen plötzlich. Wo sind die Teppiche von vorhin? Sie blickt durch eine offene Bürotür auf einen Kalender: „Freitag, 17. März 1989“. Seltsam … an die eineinhalb Jahre sind vergangen auf knappen 300 Metern? Sascha Grabowski (er hat sich ihr mittlerweile vorgestellt) sagt „Kommen Sie! Den besten Blick auf den Sternenhimmel von Berlin haben wir von oben. Wir nehmen den Paternoster“. Was bitte? Er erklärt es als einen „Aufzug im Umlaufbetrieb“. Ob sich der oben umdreht – wie das wohl funktioniert? Zu spät, Grabowski zieht sie hinein. 

*

Auf einmal geht das Licht aus, ein Ruck. Sie stehen offenbar zwischen zwei Etagen, da befindet sich nur Mauerwerk. „Oh“, sagt er „ich vergaß, die haben den Paternoster ja zugemauert, er entspricht nicht mehr den technischen Standards.“ Man ist also wieder in einer anderen Zeitschicht? Etwas, das nach dem 17. März 1989 passiert ist? Nun also: ein zugemauerter Paternoster. Nacktes Mauerwerk. In einer Mischung aus Wut („wie konnte ich nur“) und Erschrecken („keiner weiß, wo ich bin“) erstarrt Sophie. Oder hat sie doch eine Bewegung gemacht? Der hauchdünne Schal rutscht ihr nämlich halb von der Schulter und verfängt sich im Aufzugsschacht…Daran zerrt sie. Kräftig. 

*

Er fühlt sich plötzlich plastikartig an, aber: er geht auf! Er? Der V-o-r-h-a-n-g! Wo ist der Paternoster hin? Und wo ist Sascha? (Ah – nennt man sich jetzt beim Vornamen?!) Was ist passiert? Der Vorhang hängt vor einem Zimmerfenster, er ist beigefarben aus Kunststoff und mittlerweile halb aufgezogen. Das hier ist wohl eine Art Dienstbereitschaftszimmer. Sie streckt sich, fühlt sich wohl. Und hungrig. Sie blickt auf die Straße hinunter. Es ist Morgen. Menschen und Autos sind unterwegs. 

Sascha steht plötzlich hinter ihr und sagt: „Der Trabant 500 ist noch gut erhalten – und da: ein alter Wartburg 312. Leistbare Wertarbeit eben!“. Sophie taucht in eine Geruchswelt ein: „Ich rieche Schwefel, gemischt mit scharf-muffigen Aromen, ein bisschen Plastik und sehr viel Desinfektionsmittel. In der Ecke beim Waschtisch riecht es undefinierbar“. Sascha sagt: „Wofasept zum Desinfizieren, Florena-Hautcreme, Badusan-Schaumbad“. Es ist ein Duft-Potpourri. Heutzutage kann sie diese Gerüche nur mehr in der U-Bahnstation Jannowitzbrücke finden, wenn sie in den Ritzen oder am Grund der abgesprungenen Fliesen kratzt. „So riecht das Leben“ sagt Sascha. Später, viel später, wird er ihr gestehen, dass die Sehnsucht für ihn auch einen eigenen Geruch hat: Lux-Seife und Parfum der Marke 4711.

 

Sascha sagt „Die Kantine hat schon auf“. Er hat ein Kunststoff-Tablett gebracht. Darauf ein Ei im Eierbecher in Hühnerform. Ein Brotkörbchen aus Kunststoff mit zwei Brötchen und einem Filinchen, diesem thüringischen Waffelbrot.  Ein Löffel aus Polystyrol. Ein Obstmesser auf einem Schneidbrettchen aus Meladur mit einem Apfel. Eine Papierserviette, einlagig. Filinchen, Polystyrol, Meladur: Sophie saugt die Namen auf wie die Gerüche. Lächelnd denkt sie an Steffens „…irgendwann von drüben über die Mauer gebeamt worden“ und fühlt sich gar nicht so fremd. Leichtes Frösteln, denn sie ist fast nackt, trägt nur den transparenten Schal aus grünem Organza um die Hüften. (Ja: Wo ist die Nacht hin…?). Auf dem Boden liegt das Post-It, das aus ihrer Jacke gefallen ist „Ich muss noch mal weg“ – stimmt, das hatte sie ja den Kollegen zukommen lassen wollen… 

*

Oldschool. Das Wort gibt es dort nicht, wo sie jetzt angekommen ist. Ihre neue Identität ist ein Zugeständnis „im Ausgleich zu einem überlassenen Gegenstand zur Material- und Funktions-Erforschung“. So ein kleines gelbes selbstklebendes Zettelchen. Sophies Namensvorschlag „Post-It“ wird stirnrunzelnd abgelehnt. „Haftnotiz“ passt besser. Man müsse dabei nicht gleich an „Freiheitsentzug“ denken, sagt einer lachend. Ein anderer macht sofort eine Notiz, die er später in die Akte übertragen will („Es liegen zuverlässige Informationen vor, wonach sich Sch. am 18. März 1989 verächtlich über die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung…“).  Es ist aber keine Haftnotiz, sie klebt nicht und geht verloren.

 

Die Herstellung dieser Haftnotizen bekommt man hin. Man produziert sie genau nach der Vorlage, mit Aufschrift. Dieses „Ich muss noch mal weg“ macht das Ganze zum eigentlichen Kultobjekt. Der Text wird ein Untergrundmotto. Um ein Vielfaches wirksamer als das „Work hard – dream big“, an das sich Sophie dunkel erinnert. Fast alle haben eine solche Haftnotiz mit diesem Text in der Tasche. Als Maskottchen oder – wie man hier sagt – als Glücksbringer. Weil es ein so beruhigender Text ist. Als sei noch nicht alles festgefahren. Als sei noch etwas möglich. Ohne große Vorbereitung. Einfach schnell mal so. Noch mal weg. Übrigens schwappt der Boom der beschrifteten Zettelchen vom Osten auf den Westen über. Dort produziert man ebenso die Post-It mit Sophies beruhigendem Schriftzug „Ich muss noch mal weg“. Es ist der einzige bekannte Fall eines Markenraubs des Westens aus dem Osten. Im geteilten Deutschland also sind Sophies Worte gleichzeitig in Ost wie West populär. Sie bedeuten überall etwas Anderes.

*

Am 30. September 1989 um 18:57 zieht Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, sein Post-It aus der Tasche. Er braucht was zum Entspannen. Er steht auf dem Balkon der bundesdeutschen Botschaft von Prag und schaut hinunter in den Park des Palais Lobkowicz. Unter ihm eine Menschenmenge aus DDR-Flüchtlingen. Er kommt von Verhandlungen mit den Außenministern der Sowjetunion, der DDR und der ČSSR am Rande der UN-Vollversammlung in New York. Überhaupt waren die letzten Tage und Wochen emotional aufgeladen. Er will bloß kurz den beruhigenden Text sehen: „Ich muss noch mal weg“.  Das beruhigt ihn immer. Dann wird ihm etwas einfallen, das er jetzt sagen kann. 

Er ist plötzlich entspannt, tritt vor das Mikrophon und wundert sich selbst darüber, als er sich – es ist 18:59 – sagen hört: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“. Der Rest geht im Jubel der 5000 Menschen unter.                  (Version 2)