Von Lauretta Hickman

 

 

Laut Wegbeschreibung müsste er im Lorbeerwald sein.
Es gab hier aber nur Felsen und schwarzen Lavasand in dieser mondartig anmutenden Landschaft, durch die er stapfte. Lorenz sah auf sein Handy: kein Empfang. Sinnlos also, Googlemaps aufzurufen. Die weißgelbe Markierung für den Pfad hatte er seit etwa einer Stunde nicht mehr gesehen. Andere Wanderer, sonst zuverlässig in nerviger Überzahl auf der Insel und ihren Wanderwegen, ebenso wenig.

Die Sonne brannte, sein Wasser war so gut wie alle. Lorenz war gereizt.
Seine Auszeit hatte er sich anders vorgestellt. Er, der Topmanager, bekam seit drei Wochen, seit er hier war, nichts auf die Reihe, schien ihm. Ständig verliefen die Dinge anders als geplant. Gerade wieder. Zum Verrücktwerden.
Er beschloss, jetzt erst einmal einen Schattenplatz zu finden. Nicht so einfach: die Nadelbaumgerippe, Sukkulenten, trockenbraunen Büsche und vereinzelten Kakteen boten keinen.
So stapfte er weiter durch schwarzen Sand, der ihm die Fortbewegung schrittweise schwerer machte.
Seine Haut meldete Sonnenbrandbeginn an Nacken, Schultern, in den Kniekehlen.

Sich äußerst wachsam um einen Felsbrocken herumbugsiert habend, sah er in eine Talsenke mit deutlich mehr Grün: Mischwald, mit Nadelbäumen in der Überzahl. Das versprach Schatten. So war es. Eine Viertelstunde später saß Lorenz unter einer Baumgruppe und verschnaufte erst einmal. Er nahm an, dass er sich immer noch auf der Nordseite der Insel befand. Nun ja – wenn er einfach weiterlief, würde er sicherlich irgendwann auf Zivilisation treffen, so bevölkert wie Teneriffa war.

Nach dem letzten Schluck brühheißen Wassers setzte er seine Wildwanderung fort.
Er sollte Recht behalten. Kurz darauf sah er links einen aufwärts führenden Steinpfad, der eindeutig menschengemacht war. Erleichtert ging er den gebogenen Weg hinauf, zu einer Finca, wie er annahm. Wenige Minuten später stand er vor einer blaulackierten Holzgattertüre, umrahmt von magenta- und orangefarbenen Bougainvilleen und Gestrüpp, das beidseitig eine typisch kanarische Steinmauer freigab. Rechts hing eine große Glocke mit Schnur.
Lorenz versuchte sein Glück und zog daran. Auf deren tiefen, lauten Klang hin hörte er näherkommendes Hundegebell, scheinbar eine ganze Meute.

Wie aus dem Nichts stand eine Frau vor ihm. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Das lange, mehrfarbig melierte Haar war in Teilen zu einem typischen Yogi-Knoten gebunden, ein Männerunterhemd und eine Caprihose bekleideten den schlanken, muskulösen Körper. Sechs recht große Hunde wedelten um sie herum, Bullterrier und Podencos.

Ihre veilchenblauen Augen sahen ihn offen und durchdringend an.
„Si?“

„Ehm… do you speak English?“
Um seine Situation zu erklären, reichte sein Spanisch nicht aus.

Sie lächelte leicht und gab kraftvolle, schöne Zähne frei.
„Bist du Deutscher?“

„Ja. Hört man das so deutlich?“
Sie antwortete nicht, aber öffnete die Türe.

„Komm rein.“ Sie drehte sich um und überließ es ihm damit, die Türe zu schließen, dabei neugierig beschnüffelt vom vitalen Hunderudel.

Er folgte ihr einen Weg hinauf. Etwas war seltsam an dieser Frau. Nicht nur, dass ihr Alter schwer einzuschätzen war. Sie mochte in ihren Sechzigern sein, wirkte aber auch manchmal wie um die Vierzig. Und sie hatte etwas Dominantes, gleichzeitig Mädchenhaftes an sich. Hinter ihr hergehend, fiel ihm ein weiteres eigentümliches Detail auf: Ihre Haut leuchtete. Als wären Lichtpartikel unter ihrer Haut, die durch die Poren austraten. Das verwischte ihre Konturen.

Er war sich auf einmal nicht mehr sicher, ob das so eine gute Idee gewesen war.
Nun ja, jetzt war er hier. Wenigstens nach Wasser konnte er sie fragen.

„Ich habe stets Krüge mit Limetten-Gurken-Ingwer-Wasser im Kühlschrank“, sagte sie über die Schulter, als hätte sie seine Gedanken gehört. „Und etwas für deinen Sonnenbrand.“

Nach einer Biegung sah er ein klassisch kanarisches Haus, gelb, mit schwarzen Steinen im Gemäuer. Davor eine dank einer Markise schattige Terrasse.

„Setz dich“, sagte sie und ging ins Haus.

Er ließ sich hinter einem großen Tisch auf eine Holzbank mit Kissen fallen.
Und merkte, wie fertig er war. Die Hunde legten sich hechelnd um ihn herum ab.
Sie kam zurück mit einem großen, beschlagenen Glaskrug, in dem die erwähnten Zutaten schwammen, zwei Gläsern, einer halben Zitrone und einem Schälchen.
Sie schenkte ein, reichte ihm das Glas, das er in Sekunden leerte, füllte nach und reichte ihm die halbe Zitrone. „Damit reibe deine Haut ein. Das brennt etwas im ersten Moment, aber stellt den Ph-Wert wieder her. Nach fünf Minuten nimmst du das, das ist Aloe Vera. Die kühlt.“

Er hatte keine Energie für Widerspruch, auch wenn ihm ihr selbstverständlich bestimmender Ton nicht gefiel. Ungewohnt für ihn. Er trank, rieb sich ein und merkte, wie sein Körper aufatmete.

Sie saß ihm gegenüber, sah ihn an mit diesem durchdringenden Blick.

„Was führt dich hierher?“

„Ich bin vom Weg abgekommen.“

„Ja, das ist offensichtlich. Du bist recht uneins mit dir.“

„Ich meinte, vom Wanderweg.“

„Ich hab dich schon verstanden. Aber hier landet niemand ohne Grund.“

Ihr Blick wirkte, als könne sie tiefer in ihn hineinsehen als er selbst.
Angenehm und unangenehm gleichzeitig.

„Ich heiße Lorenz“, sagte er.
„Du kannst mich Silva Ma nennen“, sagte sie.

Komischer Name, dachte Lorenz.
„Schön hast du es hier.“

„Danke. Warum bist du hier?“ fragte sie erneut.

Mit einem Mal wurde ihm die Anstrengung bewusst, mit der er versucht hatte, hier seine Auszeit zu managen; seine Existenz zuhause, die auseinanderzufallen schien; die wachsende Sinnlosigkeit, die die Ränder seiner Lebenswirklichkeit bedrohlich näher schob.

Lorenz räusperte sich. „Ich weiß es nicht“, sagte er schlicht. Und trank einen Schluck.
„Das Verlaufen heute ist eigentlich nur die konsequente Fortsetzung dessen, was mir hier auf der Insel die ganze Zeit passiert. Nichts klappt.“

Sie lachte. Ein schönes, offenes Lachen.

„Tja, daran darf man sich gewöhnen. Die Insel hat so ihren eigenen Flow. Stark kontrollierende Persönlichkeiten kommen hier schnell an ihre Grenzen. Dazu kommt, dass das Lebenstempo anders ist als in Deutschland. Weil es gerade passt: Letzthin las ich „The great reset“. Der Autor führt darin korrekt aus, dass, je industrialisierter, kapitalistischer ein Land, umso höher das Lebenstempo ist. Dabei ist das Tempo hier deutlich wesensgerechter, gesünder.“

Lorenz wurde es wieder unbehaglich. The great reset – war das eine Querdenkerin?

„Ich bin Selbstdenkerin. Das ist etwas anderes. Diese Schubladenurteile sind zudem nicht sehr dienlich. Sie diffamieren und trennen. Und verhindern offenes Interesse füreinander, den differenzierten Diskurs. Ein Konformismustest, letztlich.“

„Kannst du Gedanken lesen?“ fragte Lorenz zwischen belustigt und beunruhigt. “Und was meinst du mit Konformismustest?“

„Hören. Wenn ich es möchte. Das Meiste, was den Menschen durch den Kopf geht, ist nicht so angenehm. Mit Konformismustest meine ich den Unterschied zwischen Gleichsein und Verbundensein. Sich in die Emotionen der Masse hineintragen lassen, mit ihr auf eine Seite zu stellen, anstatt die eigenen Gefühle zu fühlen. Zum Beispiel die Angst vor Ausgrenzung. Solange ein Mensch sich nicht fühlen will, macht er mit. Und ist damit manipulierbar. Genau genommen ist es die Frage, ob du von innen nach außen lebst oder von außen nach innen. Bei ersterem kann die Welt tun, was sie will: du wählst, wer du bist und was du fühlst, lebst aus ureigenen Werten und stehst auch im Sturm entspannt in deiner Wahrheit. Bei zweitem konditioniert die Welt dich zunehmend aggressiv durch Medien, konstruierte Dramen, Teile und Herrsche, Ausgrenzung und Existenzbedrohung mit deiner Mithilfe in eine stetig enger werdende Box.“

Wieder sah sie ihn so auffordernd eindringlich an.

Lorenz’ Gefühlsgemisch verstärkte sich.
Er empfand die Konversation, deren Führung sie sich genommen hatte, als übergriffig, distanzlos. Und Gedanken hören? Also, bitte! Der Manager in ihm wiederum schätzte, wenn jemand schnell auf den Punkt kam, keine Zeit verschwendete. Und etwas von dem, was diese seltsame Frau da so kompakt von sich gab, klang vertraut in seinem Inneren an. Als wären da Fragen, die in ihm schlummerten, fürchtete er nicht deren Konsequenz.

Einer der Hunde unter dem Tisch grunzte im Traum.

Da beide schwiegen, nahm er das Aloe Vera-Gel und rieb sich damit ein. Sehr wohltuend.
Sie sagte: “Du kannst gerne deine Wasserflasche hier auffüllen, ich rufe Paco. Er geht dann mit dir zum Haupteingang hinunter. Dort ist es nicht mehr weit bis zur Carretera principal. Da hält jede Stunde der Bus nach Puerto de la Cruz.“

„Danke“, sagte Lorenz.
„Pass gut auf dich auf“, sagte sie wenige Minuten später freundlich, als ein junger Mann erschien, um ihn abzuholen.

Mit gemischten Gefühlen und voller Wasserflasche verließ er die Terrasse, die Hunde und diese… Frau. Der Weg zum Haupteingang offenbarte ein riesiges, abschüssiges Gelände, in dem wilde und Kulturpflanzen in einer nicht ganz nachvollziehbaren, dichten, dschungelartigen Ordnung wuchsen.

Der Heimweg gestaltete sich flüssig, er bekam den Bus sofort und fiel, in seinem Bungalow angekommen, direkt in einen zwölfstündigen Schlaf.

Am nächsten Tag war sich Lorenz zwischenzeitlich nicht sicher, ob die Begegnung real war, zumal er deutlich zu viel Sonne erwischt hatte. Er blieb heute hauptsächlich im Bungalow, ruhte sich aus, kühlte ab.

In der darauffolgenden Woche beschloss er, diese Frau noch einmal aufzusuchen, auch, um die Begegnung mit ihr zu verifizieren. Sein Urteil über das Gespräch hatte sich gewandelt – von distanzlos zu wesentlich. Und es ließ ihn nicht mehr in Ruhe. Sie ließ ihn nicht in Ruhe.

Er nahm den richtigen Bus in Puerto, erkannte die Stelle, an der er aussteigen musste, sofort. Und ging den Weg, den er ebenfalls wiedererkannte, zum Haupteingang ihres Anwesens – wie er dachte. Aber da war nichts. Nur verfallene Steinruinen.

War das jetzt wieder dieses „Nichts klappt hier“- Ding? Oder hatte er doch einen kleinen Sonnenstich gehabt?

Entnervt reiste Lorenz am nächsten Tag ab.

 

 

V2 9981 Z