Von Monika Heil

Es sollte ein fröhlicher Ausflug werden. Weg von allen Spannungen, weg von den schreienden Stimmen, weg von vergiftenden Worten. Einen ganzen Samstag lang nur Vater und Sohn. Mit seiner Mutter lebte Philip die Wochentage. Sie überschüttete ihn mit Liebe und Erziehung. Waren beide allein, ging alles gut. Dennoch freute er sich fast täglich mit der ganzen Sehnsucht seines fünfjährigen Herzens auf Papas Rückkehr am  Wochenende. Jeden Freitagabend lief er ihm aufgeregt auf dem Kiesweg entgegen. Rolf, der Vater, verließ dann schnell das Auto, breitete die Arme aus und fing ihn mit einem fröhlichem: „Hallo, mein Kleiner“, auf. Er wirbelte seinen Sohn im Kreis, beide lachten, froh, den anderen zu sehen. Rolf setzte das Kind ab, überließ ihm den schwarzen Musterkoffer und schob ihn mit einem leichten Klaps auf den Po in Richtung Haus. Philip war sich der Verantwortung bewusst und übernahm das schwere Ding für ein paar Schritte. Dass in dem Moment jedes Mal das Lächeln in des Vaters Gesicht erlosch, bemerkte er nicht.

                 ***

Heute fuhren sie zu dem neuen Freizeitpark. Der Kleine plapperte unentwegt.

„Gibt es dort auch Tiere? Auch wilde Tiere? Und Karussells, und …“

Rolfs Antworten waren knapp.

„Ich glaube schon.“ Das passte auf jede der ungestümen Fragen, die er gar nicht wirklich aufnahm. Er musste sich auf den Verkehr konzentrieren und immer wieder kehrte das Gespräch vom frühen Morgen in seine Erinnerung zurück. Wie hatte das alles passieren können? Zum ersten Mal war das Wort Scheidung gefallen. Julias Stimme war schrill geworden, hatte sich fast überschlagen, bis er sagte:

„Nicht so laut, das Kind!“ Da plötzlich hatte sie geflüstert, was ihren Worten jedoch nicht die Schärfe nahm.

„Ich halte das nicht mehr aus! Dann geh doch zu der Schlampe! Das Kind bleibt bei mir! Verschwinde doch endlich.“

Da war auch er wütend geworden. Ja, seine Gefühle hatten sich kurzzeitig verlaufen. Doch das war längst vorbei. Geblieben war ihre krankhafte Eifersucht, die ihn inzwischen an den Rand der Verzweiflung trieb. So spuckte er Sätze aus, die er schon bereute, während er sie formulierte. Sie brachen einfach aus ihm heraus. Andernfalls wäre er daran erstickt. Als sich die Tür zögernd öffnete und die kleine Gestalt im Türrahmen erschien, verstummten beide abrupt und knipsten ihr Morgenlächeln an.

                           ***

Es war noch früh am Tag und nur wenig Betrieb auf dem Freizeitgelände. Rolf löste zwei Tageskarten. „Ein Erwachsener, ein Kind“, lächelte der freundlichen Kassiererin zu, nahm seinen Sohn an die Hand und schob ihn durch das Drehkreuz. Die junge Frau folgte ihnen mit Blicken. Ihr fielen Begriffe wie Harmonie und Vertrauen ein. Sie studierte Psychologie, wenn sie nicht kassierte.

 

Rolf lehnte an einem Zeltpfosten und beobachtete seinen Sohn. Er würde sich niemals von diesem Kind trennen. Wie glücklich war er gewesen an jenem Sommertag, als dieser kleine Mensch zur Welt kam. Sein Universum bestand ausschließlich aus Liebe und Glück und drehte sich nur um sie drei. Julia und er taten alles gemeinsam, wickeln, füttern, schlaflos daliegen, spielen, Glück empfinden.

 

Unmerklich hatten sich die Verantwortlichkeiten geändert – sie wickelte und fütterte, er verließ das Haus. Schlaflosigkeit verband sie noch, die gemeinsamen Spiele wurden seltener, das Glücksgefühl zog sich ganz langsam zurück. Sie merkten es lange nicht.

                   ***

Philip saß auf einem Karussellpferd. Alle paar Sekunden wischte das Gesicht des Vaters vorbei – vertraut, geliebt und flüchtig fremd. Heute und morgen hatte er den Papi ganz für sich allein. Herrlich! Und ab Montag kümmerte sich die Mami wieder um ihn. Das war auch gut. Was er nicht wollte, waren die Abende am Wochenende. Die Stunden vor dem Schlafengehen, das gemeinsame Abendessen, wenn Mami verstohlen ihre Tränen wegwischte, Papi mit finsterer Miene vor sich hin starrte und ihn anraunzte:

„Sitz ruhig, iss anständig!“

Wenn er endlich im Bett lag, hörte er die Erwachsenen streiten, vernahm Wörter, deren Sinn er nicht begriff. Sie klangen, als wenn Ohrfeigen aufklatschten. Das machte ihm Angst. Irgendwann wurde der Fernseher lauter gestellt und er schlief ein. Fauchende und feuerspeiende Geister fielen in seine Träume ein. Er erzählte es keinem. Philip wurde immer stiller. „Unseren fröhlichen Sonnenschein“ nannten seine Eltern ihn nur noch selten.

                      ***

Das Maislabyrinth war die Attraktion des kleinen Freizeitgeländes. Aufgeregt wieselte das Kind durch die undurchsichtigen Gänge, kehrte um, wechselte die Richtung, staunte, dass sie wieder falsch war. „Hab´ mich verlaufen“, stellte er mehr als einmal fest. Doch unverdrossen versuchte er weiter, den Ausgang zu finden. Der Vater ließ ihn den Weg bestimmen, folgte in einigem Abstand. Der Kleine plapperte unentwegt, bis ihn ganz plötzlich Furcht ansprang. Philip fühlte sich eingeschlossen von den hohen grünen Wänden. Der Vater war verschwunden. Eine Wolke warf Schatten. Er war ganz allein. Der Herzschlag dröhnte in seinen Ohren wie Trommeln. Seine Gedanken verhedderten sich im klebrigen Gewebe seiner Angst. Er schrie. Eine Sekunde später umschlossen ihn zwei starke Arme. Der Vater hob ihn auf seine Schultern. Die Sonne brach durch die Wolken. Der Kleine konnte erkennen, dass der Ausgang ganz nahe war. Er dirigierte die Schritte seines Papas in die richtige Richtung. Fröhlich beendeten beide ihren Ausflug im Eiscafé.

 

Als sie nach Hause zurückkehrten, hatte Philip viel zu erzählen. Der Vater blieb stumm. Bis der Junge sagte:

„Schade, dass du nicht dabei warst.“ Und Julia antwortete:

„Das nächste Mal komme ich mit.“

„Wirklich, Mama?“

„Ganz wirklich, mein kleiner Schatz.“

Da stand ihr Mann auf, nahm sie in den Arm und sagte:

„Was hältst du davon, wenn wir morgen alle drei zum Schwimmen an den See fahren?“

„Viel, mein großer Schatz.“

An diesem Abend blieb der Fernseher aus. Trotzdem hörte Philip nicht, was Mama und Papa besprachen. Er schlief ein und träumte von morgen und von Sonne und von Wasser. 

 

Als er am nächsten Tag erwachte, saß Mama allein am Frühstückstisch. Ihre Augen waren rot und geschwollen. Sie zog ihren Sohn auf ihren Schoß und sagte ganz leise:

„Pass mal auf Philip, du bist doch schon ein großer Junge. Ich muss jetzt etwas ganz Wichtiges mit dir besprechen.“

Und das Kind fühlte sich wie gestern im Labyrinth und wusste gleichzeitig, dass die Angst diesmal nicht so schnell wieder vergehen würde.

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