Von Luise Hein
Das Rot der großen Buchstaben grinst Manfred entgegen. Deutsche Bahn, DB. Stoisch ragen sie in den Himmel über Berlin. Er steht auf der Aussichtsplattform etwas höher und blickt hinab. Es ist ein warmer Tag mit blauem Himmel. Sonnenstrahlen brennen auf seiner Kopfhaut, nur noch einzelne weiße Büschel umrunden das vom Leben gezeichnete Antlitz. Die Verkehrsader auf der Hauptstraße unten fließt wie üblich in ihrer mittäglichen Routine. Neben dem Glasdach unter ihm kann Manfred viele Köpfe erkennen. Sie stehen und laufen in Grüppchen, manche als Paare. Beäugen die Hauptstadt aus neugierigen Augen. Unschuldig. Kindlich.
Manfreds Vater war Lokführer der Deutschen Reichsbahn und als Manfred wegen eines Schnupfens nicht zur Schule gehen konnte, nahm ihn sein Vater einfach mit. Der Junge war 7 Jahre alt. Es war ein schöner frischer Frühlingstag. Sie hatten klare Sicht und blickten auf weite Felder der Beckenlandschaft und auf das Gleisbett. Bis zum Horizont. Tiefblauer Himmel, sattes Grün und volle Ähren zur Rechten wie zur Linken. Mittendrin Manfred und sein Vater. Der Junge trug die viel zu große Lokführermütze und saß glückselig auf dem Schoß des Papas. Stellte sich dabei vor, wie er, wenn er richtig erwachsen und groß wäre, selbst wie sein Vater eine Lok führen würde. Er schüttelte sich immer wieder voller kindlicher Erregung und zeigte auf die aufregende Bilder, die an dem Kind vorbeizogen. Alte Burgen, dunkle Höhlen, Steinschläge. Ein ganz neues Abenteuerland eröffnete sich dem Jungen zum ersten und letzten Mal. Denn, obwohl sie so weit blicken konnten, sahen sie zu spät den Mann, der sich mit weit ausgestreckten Armen vor der heraneilenden Lok aufgebaut hatte.
Manfred blickte direkt in das Gesicht, bevor der Zug den Mann überrollte. Seine Ohren hörten das dumpfe Geräusch des Körpers nachhallen. Dann kamen sie zum Stehen. Stock und steif saß er da, die Hand des Vaters vor dem Gesicht. Zu spät. Die Gestalt hatte sich bereits den Weg über die Netzhaut in die kindliche Seele gebrannt. Ein blinder Fleck. Für immer da.
Der Vater wurde versetzt und fuhr nie wieder eine Lok. Wurde still, dünn, anteilnahmslos. Sprach nicht von dem Vorfall. Weinte manchmal in seinem Sessel, die Mutter wischte um ihn herum. Manfred beobachtete. Kniff die Augen zusammen und zog die Schultern tief. Stets bereit, sich wegzuducken und die Augen zu schließen. Anstatt die Welt zu erkunden, fing er an, in seinem Zimmer zu bleiben. Er fing auch wieder an, ins Bett zu nässen, woraufhin seine Mutter ihn zum Arzt brachte. Man einigte sich darauf, dass der jüngste Vorfall sich schon verwachsen würde. Die Mutter war beruhigt. Manfred lief mit geduckten Schultern in sein Zimmer und kramte ein Skatdeck hervor. Wünschte sich zu Weihnachten ein weiteres Deck und baute. Baute Kartenhäuser. Aus einem zusammengekniffenen Blick, wo einmal kindlich-runde Augen waren. So wurde Manfred erwachsen.
Die ersten Falten bekam er mit Anfang zwanzig. Trotz oder gerade deswegen verliebte sich die schöne Ingrid in Manfred. Ein ruhiger Mann, der sich kaum für andere Frauen interessierte. Oder Freunde. Nur Kartenhäuser. Ansonsten stumm dem Wind des Lebens entgegen blinzelte. Ingrid schritt aus Liebe zum Altar, Manfred aus Pragmatismus. Sie zogen in eine schicke Plattenbauwohnung mit Zentralheizung und warmem Wasser aus der Wand. Sie richteten sich gemeinsam ein und hofften auf Nachwuchs. Nachdem dieser nie kam, nahm Manfred das einfach hin. Schüttelte den Kopf mit den gekniffenen Augen und warf die Hand zur Seite. Als seine Mutter an Krebs erkrankte, schüttelte er ihn wieder und schob das Ungemütliche von sich weg. Genauso handhabte er ihren Tod, den Mauerfall und die erste Reise nach Westberlin. Ebenso ein Jahr später den Ausfall der Autoteileproduktion, für die er arbeitete. Er war kein Lokführer geworden. Im Auge des Sturms blieb er gelassen. So sah das Ingrid. Lange Zeit.
Doch eines Morgens, als sie beim Kaffee ihren Manfred in Unterhemd und Unterhose sah, da fiel es ihr wie Tomaten von den Augen. Das hämische Beige des aufgerissenen Briefes starrte sie an. Der Inhalt, vom Amt für Arbeit geschickt, lag daneben. Manfred würdigte es keines Blickes mehr, zog seine Brauen tief und die Augen zu Schlitzen, warf die drohende Langzeitarbeitslosigkeit mit seiner Handbewegung als Nebensächlichkeit in den Raum. Ingrid sah ihren krummen Mann, lichte Haare, faltenumwobenes Gesicht. Die Wahrheit fraß sich plötzlich leise, aber beständig in ihren Alltag. Ingrids Gefühl für Manfred veränderte sich. Sie fing an, das Essen für beide leicht zu versalzen. Ihre Hand schwebte etwas zu lange mit dem Streuer über dem Suppentopf. Manfred aß dennoch. Dann las sie lieber die SuperIllu als Manfreds Hemden zu bügeln. Er trug sie einfach mit Falten. Dann fing sie an, die Hemden gar nicht mehr zu waschen. Er kaufte sich neue.
Manfred wurde lethargisch, Ingrid wütend. Sie steckte die Wut in ihr Schneiderhandwerk. Sie nähte, während Manfred baute. Sie machte ihren Führerschein und kaufte sich ein rotes, schickes Auto. Ihre selbst geschneiderten Kleider zog sie sich abends an und fuhr in die nächstgrößere Stadt, um mit Freunden auszugehen. Manfred blieb zu Hause und stöberte in diesem neuen Internet nach immer neuen Decks.
Irgendwann, nach fast zwei Jahrzehnten Ehe, blieb Ingrid eine ganze Nacht weg. Und dann noch eine. Sie kam nie wieder. Am letzten Abend stand sie mit einer schicken Rüschenbluse vor ihm. Sie hatte sich gerade vor ihm aufgestellt, ihn in seine zusammengekniffenen Augen geschaut und mit fester Stimme gesagt: “Manfred, ich gehe jetzt.” Elegant wie eine Tänzerin hatte sie sich von ihm weggedreht, ihre braunen Stiefeletten mit Pfennigabsatz angezogen und war zur Garage geklappert. Manfred hörte noch den Motor aufheulen, als er über die Bedeutung der Worte nachdachte. Ingrid war ja jeden Abend gegangen, ohne ein Wort. Am fünften Abend hörte Manfred dann die Worte, die Ingrid nicht gesagt, aber wohl gemeint hatte: “Manfred, ich gehe jetzt. Und ich komme nicht wieder.” Er kaute an seinem Leberwurstbrot und trank Bier, dann nickte er.
Spät nachts noch saß er auf seinem Sessel und öffnete die Augen ganz weit. Der blinde Fleck auf der Netzhaut war verschwunden. Er schaute nach links und rechts, hörte nichts und atmete tief ein. Er sah die Wohnung mit klarem Blick und fing an zu lachen. Er lachte über die vielen Kartendecks und Häuser, die überall in der Wohnung verteilt waren. Er sammelte sie alle in einem Wäschekorb zusammen, trug sie in den Hinterhof und zündete sie zu einem großen Scheiterhaufen an. Dann kam die Leere. Keine Kartenhäuser. Keine Ingrid. Kein Leben. Also fuhr er nochmal nach Berlin. Schöne Hochhäuser hatte er im Fernsehen am Potsdamer Platz gesehen.
Auf der Ausblicksplattform brennt ihm die Sonne auf die Kopfhaut. Er blinzelt wieder. Der Verkehr rauscht in seinen Ohren. Er schließt die Augen, steigt auf die Brüstung und spürt seine Hände, die sich fest an das Metall krallen. Mahnend wacht das Rot der Deutschen Bahn über ihn. Er drückt so fest zu, dass das Blut aus den Händen fährt und sie surren. Noch einmal holt er tief Luft. Dann öffnet er vorsichtig die Augen. Die Sonne steht genau vor ihm, trifft auf seine Netzhaut. Das Licht hinterlässt einen Schatten, der vor ihm schwebt. Der blinde Fleck. Der blinde Fleck verwandelt sich aber nicht in Wohlgefallen, sondern in den Mann vor ihm auf den Gleisen. Da war sie wieder, diese traurige Gestalt. Hochgeklettert aus den Tiefen der Seele. Dieses Gesicht, das ihm so lange den Weg versperrte. Er irrlichtert. Schon sein ganzes Leben.
Manfred blinzelt, schaut nach unten. Viele Menschen bewegen sich wie kleine Punkte. Ist da eine Schulklasse? Kinder, die so alt sind, wie er mal war. Jung und unschuldig? Die Welt als schönen Ausblick direkt vor ihnen?
Erschrocken springt Manfred zurück. Lässt die Brüstung los, spürt seine Füße auf festem Boden. Vielleicht war die Gestalt zurückgekehrt, um zu bleiben. Er selbst würde aber keine werden. Er selbst würde sich nicht in eine kindliche Seele fressen. Es scheint, als ob die beiden Buchstaben – DB – ihm zunicken.
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