Von Robin A. Frey

Im fahlen Schein der Gaslaternen klappern die Hufe der Pferde und knarren die Räder der Kutsche von Lord Archibald über das regennasse Kopfsteinpflaster.
Sir Edmund hat zu einer Grande Soirée in seinem Herrenhaus geladen.

Stille legt sich über die Gesellschaft, als Lady Gwendolyn sich am Flügel niederlässt. Sie ist ein aufstrebender Stern am Musikhimmel des viktorianischen Londons und tritt heute exklusiv im intimen Rahmen auf, um ihre neueste Komposition vorzutragen – eine, die sie Lord Archibald gewidmet hat, ihrem heimlichen Geliebten und Mäzen seit vielen Jahren. Ihre Blicke treffen sich kurz, dann gleiten Lady Gwendolyns Finger sanft über die Tasten, um die äußerst zarte Melodie zu spielen. Nicht nur Lord Archibald ist entzückt; die gesamten Anwesenden halten den Atem an, und Lady Beatrice wird schon schwindelig.
Lord Archibald beabsichtigt, heute um ihre Hand anzuhalten, sobald der Applaus verklungen sein wird. Er möchte Lady Gwendolyn endlich heiraten.

Doch plötzlich, drei donnernde Akkorde: Dramatisch. Dunkel. Mysteriös. Sie kommen aus dem benachbarten Raum. Lady Beatrice kreischt auf. Ein unheilvolles Unwetter scheint nun auf den Flügel im Nebenzimmer einzuschlagen.
Sir Edmund reißt die Türen auf. Als die Gäste in den Raum eilen, erkennen sie einen dunkel gewandeten Pianisten, sein Gesicht mit einer Maske verhüllt, der mit teuflischer Geschwindigkeit und einem furchterregenden Rhythmus mehrstimmige Melodien spielt, die aus weiter Ferne oder gar aus der Zukunft zu kommen scheinen. Lady Beatrice fällt vor Schreck ohnmächtig zu Boden. Dann erschallt der donnernde Schlussakkord.
Der phantomhafte Pianist steht auf. Die Gäste bleiben versteinert stehen.
Als die Anwesenden langsam aus ihrer Bezauberung erwachen, wie aus einem Opiumschlaf, bemerken sie: Der mysteriöse Pianist ist verschwunden, aber noch beunruhigender: Lady Gwendolyn ist ebenfalls nicht mehr da.

Lord Archibald ist verzweifelt, nicht nur wegen des Verschwindens seiner geliebten Lady Gwendolyn, sondern auch, weil die Zeitungen kurz darauf den maskierten Pianisten hochloben, der nun in ganz London Konzerte gibt.

Tage vergehen, und Lord Archibald hört nichts von ihr. Er ist fest davon überzeugt, dass der geheimnisvolle Pianist dahintersteckt. Ihn muss suchen lassen. Er schlägt das Telefonbuch auf und findet einen Privatdetektiv in Camden, Thistlewick sein Name.
Jeden Tag berichtet dieser nun Lord Archibald von neuen Verdächtigen, jedoch keine Spur vom unbekannten Pianisten, geschweige denn von Lady Gwendolyn. Lord Archibald ist frustriert, nicht weil dieser Detektiv ihm offensichtlich bloß die Schillinge aus der Tasche zieht, sondern weil er ihn durch die schmutzigsten Spelunken schleift, um ihm immer abstrusere Charaktere vorzuführen.
Als Thistlewick ihm schließlich einen einbeinigen Drehorgelspieler mit einer Ratte auf der Schulter als den Hauptverdächtigen vorstellt, hat Lord Archibald endgültig genug und schickt Thistlewick zum Teufel.

Die Konzerte des maskierten Pianisten werden immer beliebter, und die Presse berichtet von seinen melodischen Kompositionen und bevorstehenden Auftritten in Paris, New York und Buenos Aires.

In seiner Verzweiflung wendet sich Lord Archibald an Madame Celeste, ein stadtbekanntes Medium. Berühmtheit kostet ihren Preis, weiß Lord Archibald, als er die Pfundscheine auf den Tisch im stickigen Hinterzimmer eines Bordells hervorblättert.
Im grauen Nebel erscheint eine Gestalt, die nicht Lady Gwendolyn sein kann, denkt sich Lord Archibald. Sie würde nicht mal als Leiche, geschweige denn als Spuk, in so einer Absteige wie dieser erscheinen. Madame Celeste schüttelt den Kopf. Sie kann keinen Kontakt mit dem Geist von Lady Gwendolyn herstellen, aber sie sieht in ihrer Vision den mysteriösen Pianisten, wie er aus der Kutsche aussteigt, und nennt Lord Archibald die Adresse in Camden. Der ist bestürzt; dies ist Thistlewicks Haus!

Begleitet von einem Inspektor von Scotland Yard sowie einem Reporter der Times klopft Lord Archibald an Thistlewicks Haustür. Als jedoch eine Dame öffnet, ist Lord Archibald schockiert und greift nach dem Arm des Inspektors. Ist Thistlewick in seiner Freizeit am liebsten ‚en femme‘ unterwegs?
Nein, beim zweiten Blick erkennt Lord Archibald, aber nicht minder verblüfft: Es ist Lady Gwendolyn, in bürgerlicher Kleidung! Gelassen erklärt sie der Männergruppe, dass sie die Entführung selbst inszeniert habe. Sie sei des Spielens überdrüssig und habe sich entschieden, sich allein der Komposition für den unbekannten Pianisten zu widmen. Die Musik sei fortan ihre einzige Liebe.

Zutiefst gebrochen und blamiert zieht sich Lord Archibald zurück.
Frauen haben ihm nun genug Kummer bereitet. Zu viele Jahre hat er auf Lady Gwendolyn gewartet.
Jetzt will er sich auf seine wahren Leidenschaften fokussieren: die Fuchsjagd. Und Sir Edmund.


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