Von Bernd Meisegeier

Sonniger spätsommerlicher Samstag. Gartenbereich des historisch bedeutsamen Restaurants Schillergarten in Dresden. Er schaut zum Blauen Wunder, der blaugestrichenen Loschwitzer Brücke, die die Elbe überspannt. Wunder, weil sie zum Zeitpunkt des Baus keine Stützpfeiler brauchte. Auf der Elbe ein historischer Schaufelraddampfer, Plätschergeräusche der rotierenden Schaufelräder. Blick zu lebhaft schwatzenden Frauen am unweit entfernten Tisch. Das weibliche Wesen mit dunklen Haaren, blaugestreiftem Shirt, zartem Gesicht fasziniert ihn. Eine attraktive Erscheinung. Er möchte sie kennenlernen. Er fixiert sie. Was für eine Lady! Er ist begeistert von ihr. Solle er sie ansprechen, fragt er sich. Florian, in schwarzen Jeans und gelbem Pulli, schüchtern, ungeübt, einen Kontakt zu einer Frau aufzubauen, aber mit den Ratschlägen seines befreundeten Kumpans im Kopf: unbefangen, entschlossen auf Frauen zugehen, geht er langsam zum Tisch. „Hey, darf ich mich setzen?“, fragt er. Verdutzt schauen ihn die Frauen an und nicken. „Grad ein Raddampfer vorbeigefahren, gehört zu den ältesten dieser Art in der Welt.“   

 „Im Gangbereich der Gaststätte is`ne Tafel, steht drauf, wie Schillergarten zu seinem Namen kam“, sagt er. Er schaut das angehimmelte Weiblein an. „Friedrich Schiller kehrte siebzehnhundertfünfundachtzig auf seinen Wanderungen hier immer ein. Die Gastwirtstochter nannte er Gustel. Im Wallenstein hat er sie verewigt: Was? Der Blitz! / Das ist ja die Gustel von Blasewitz.“ Es kommt kein Gespräch zustande. Das eine weibliche Wesen steht auf und sagt zur anderen: „Komm wir gehen“. Fetzen wie akademischer Schlauschwätzer… dringen zu ihm. Verblüfft, enttäuscht schaut er hinterher.

Faschingszeit. Im Jutesack als Ordensbruder bewegt er sich auf der Tanzfläche im Schillergarten. Er ist innerlich beglückt, als er die für ihn interessante Frau wieder trifft. Nun im Indianerkostüm mit schwarzer Perücke. Beherzt spricht er sie an, gibt einen Drink am Tresen aus, beginnt ein zaghaftes Gespräch, aber ein dreister Tänzer fordert sie zum Tanz auf. Florian kann die Indianerfrau an diesem Abend nicht wieder ausfindig machen.  Er kommt sich wie ein begossener Pudel vor.

Monate später. Vollbesetzter Bus. Sie an der hinteren Tür. Er drängelt sich durch die dicht stehende Menschenmenge. Kurzer zögerlicher Kontaktdialog. Sie mit spitzbübischem Lächeln, er schaut sie tiefgründig an. Diese Frau möchte er näher kennenlernen. Der Bus hält am Försterplatz, die Bustür springt auf. Während des Aussteigens hört er: „Muss zur Arbeit in die nächste Gemeinde.“ Tür zu. Warum sei er nicht mit ausgestiegen, fragt er sich, eben ungeübt. aber er wolle sie wiedersehen.

Recherche im Internet nach Institutionen in diesem Ort. Aber nach welcher Frau solle er fragen. Mehrmals in der Woche durchfährt er mit dem Rad den Ort. Pures Glücksspiel, Roulette, reiner Zufall.  Die vielen Versuche misslingen, er begegnet der Frau nicht.

Während der Theaterpause der Strauss-Oper Die schweigsame Frau sitzt er verschlossen, im Programmheft lesend, in der Ecke des Theaterfoyers, als eine Stimme fragt, ob neben ihm frei sei. Er nickt, ohne aufzublicken. Plötzlich schießt es ihm durch den Kopf, dass er diese Stimme kenne. Er blickt auf, springt auf. Neben ihm steht die Frau, nach der er lange gefahndet hat. „Welch ein Zufall.“ Er drückt ihre Hand. Er ist fasziniert, innerlich aufgeregt, glücklich. Ein kurzes Gespräch. Sie stellen sich vor, tauschen Adressen aus, vereinbaren einen Treff. Zur Verabredung kommt er nicht pünktlich, verteidigt aber sein akademisches Viertel; sie pilgern zum Moreaudenkmal auf der Räcknitzhöhe, wo achtzehnhundertdreizehn der Revolutionsgeneral Moreau fiel, weiter zum Bismarckturm, an dem Dresdner Studenten im Mai dreiunddreißig eine üble Bücherverbrennung inszenierten, zur ehemaligen Moreauschänke, Stammkneipe der Studentenschaft, in der frisch gebackene Doktoren eine zweite – humoristisch gestaltete – Doktorprüfung mit anschließender Feier veranstalteten.

Beim Verabschieden denkt keiner daran, ein neues Date abzusprechen. Es ist Urlaubszeit. Jeder fährt zu seinem favorisierten Urlaubsort. Wolle sie ihn wiedersehen, fragt sich Florian. Er müsse wohl die Initiative ergreifen. Über Jahrhunderte schrieb man Liebesbriefe. Aber heute sei ein Liebesbrief wohl altmodisch – in Songs hin und wieder besungen, denkt er. Wie schreibe man einen Liebesbrief. Bei Monsieur de Stendhal nachschauen, Rot und Schwarz. Florian liestDas große Glück, das die Liebe zu geben vermag, liegt im Händedruck der geliebten Frau…Zu schwülstig, überholt. Liebe: Schillernder Begriff? Sinnliche Empfindung? Außerordentliches Glücksgefühl?

Er mag Sandra sehr. Er findet sie äußerst sympathisch. Ihr Blick fesselt ihn. Er hat Sehnsucht nach ihr. Ja, er ist verliebt, begeistert von ihr. Er ersehnt ihre Nähe. Er will sein Leben mit ihr teilen, sie achten. All das will er schreiben. Ein kleines Gedicht und am Ende… Viel Zärtlichkeit will ich dir geben/ welche Liebe, welch hohes Glück.

Zum gegenseitigen Kennenlernen durchstreifen sie das historische Dresden. Am Albertinum betrachten sie auf der Außenfassade das Selbstbildnis des Malers Curt Querner, den Sandra persönlich kennt. Bei Theaterbesuchen, Buchbesprechungen, beim Tanz im Club lernen sie die Interessen des anderen kennen. In Florians Wohnung tauschen sie ihre erotischen Gefühle aus. Sie findet ihn beeindruckend, anziehend, ja liebenswert.

Antrittsbesuch bei Sandras Mutter im ländlichen Vorgebirge, Radtour übers Land und sinnliche Gelüste im Kornfeld. Curt Querners brillante Bilder bestaunen sie im Freitaler Museum. Anschließend darf Florian allein in Sandras Zimmer nächtigen. Neugierig liest er ihre persönlichen Briefe und spricht sie tags darauf wegen der vertraulichen Grußformeln in den Briefen an. „Das ist Vertrauensbruch…du bist in meine Intimsphäre eingedrungen… nimm dein Rad und fahr‘ in deine Wohnung zurück“, sagt sie empört. Über Wochen entschuldigt er sich in mehreren Briefen. Sie antwortet nicht. Nach langer Pause legt er Brief, Rosen und Theaterkarte vor die verschlossene Haustür im Vorgebirge. Sie kommt zur Vorstellung. Er flüstert ihr Goethes Wilhelm Meisters Worte ins Ohr: „Mein Vertrauen zu dir ist unerschütterlich – ich mag auch deines gewinnen.“

Beim Sonnenuntergang fragt er sie auf der Brühlschen Terrasse: „Sandra, wollen wir uns ein gemeinsames Nest bauen?“ Nach mehreren Wochen des Bedrängens ihrer Mutter willigt diese ein, dass sie sich zwei Bodenzimmer im dörflichen Haus einrichten können. Einen Abtritt gibt es eine Etage tiefer. Die morgendlichen Reinigungsoperationen erfolgen in der Waschküche.

Vor dem Schlafengehen schauen sie gemeinsam durch das enge Fenster der Dachgaube, Wange an Wange. Zart überstreicht er ihr Gesicht, ihre Stirn, schaut in ihre Augen. Sie mag seine Zärtlichkeit.

Nachts bei Regen Trommelwirbel aufs Dach. Manchmal treten sie ans Fenster, halten die Arme in den strömenden Regen, spritzen sich die Wassertropfen gegenseitig ins Gesicht. Im Sommer bei warmem Wetter und offenem Fenster folgen Fluginsekten mit stechend-saugenden Mundwerkzeugen und quälenden Summtönen der Duftfahne des Wirtes, stoßen ihr Stechborstenbündel tief durch dessen Haut. Im frostigen Winter liegt morgens Schnee auf den Dielen.

Die Monate rasen dahin. Sandras Mutter fragt wiederholt, wann die wilde Zeit des Zusammenlebens beendet sei, geordnete dörfliche Verhältnisse einzögen, wann Hochzeit sei.

Florian und Sandra sind beide in ihren beruflichen Alltag stark eingebunden. Er hat Termindruck in seiner Forschungsarbeit, sie ist abends mit Unterrichtsvorbereitungen beschäftigt. Abends Erschöpfung. Auf Spaziergängen durch die Natur signalisiert er oft durch Schweigen seine Missstimmung.

Sie entsinnt sich an frühere Zeiten, an ihre ersten Begegnungen. Sie empfand ihn großartig. Er hörte ihr zu. Er ging auf sie ein. Er war charmant und witzig. Zwar strich er seine Intelligenz etwas heraus, aber er war empathisch und einfühlsam. Jetzt beginnt er, sie zu maßregeln und zu bevormunden. Er fährt abends in die Stadt, lässt sie allein zurück. Zum Himmelfahrtstag zieht er mit Kumpanen los, ohne vorher mit ihr darüber gesprochen zu haben. „Ich bespreche alles mit dir, du bist unhöflich und nimmst keine Rücksicht auf mich“, sagt Sandra. „Soll ich dich um Erlaubnis bitten, ich will frei und unabhängig handeln“, entgegnet er.

Liebeshandlungen erscheinen ihm eintönig. Er kann aber nicht darüber sprechen. Zunehmend ist er wortkarg, maulfaul und übelgelaunt, eine Krise bahnt sich an.

Sie nimmt immer wieder Anlauf. „Ich möchte mit dir über uns reden… mit dir ergründen, weshalb es im Gebälk knistert.“ Er lenkt das Gespräch auf ein anderes Thema. Für Florian ist die Kommunikation wie ein Jonglieren zwischen Intimität und Unabhängigkeit. Sandra bohrt: „Für mich zeigt sich gegenseitige Verbundenheit, wenn wir zusammen reden.“

An einem Wochenende verabschiedet er sich formlos. „Ich fahre zum Klassentreffen.“ Nach seiner Rückkehr weist sie empört auf den Brief auf seinem Schreibtisch hin: „Das Klassentreffen ist doch erst in zwei Wochen“, sagt sie. Er bleibt stumm. Sie wird heftig: „Du lügst mich an. Wo warst du wirklich?“ Wortlos dreht er sich um und verlässt den Raum.

Als an einem Samstag Sandra ihre Freundin in der Stadt besucht, liegt Florian auf dem Bett im Bodenzimmer. Er starrt zur schrägen Decke des Raumes. Er fühlt sich eingesperrt, in seiner Freiheit eingeschränkt. Er sucht ein Blatt Papier und schreibt, fahre nach Dresden, fühle mich eingeengt, brauche für längere Zeit freie, frische Luft.

Im Beutler Park in Dresden, auf einer Bank sitzend, kopfhängend, ruft er seine resolut handelnde Kollegin Ulla an und gesteht seine Schuldgefühle. Kurz entgegnet sie: „Denke an die Weisheit von Delphi: Erkenne dich selbst – befrage deine Innenwelt. Wenn du sie liebst, müsst ihr miteinander reden. Denke an das Wir.“ Wenig später greift Florian zum Handy und ruft aus dem Speicher Sandras Nummer auf.  

 

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