Von Lauretta Hickman
„Meine Haare, vor allem aber mein Bart werden grau. Sieht so aus, als würde ich nun endgültig zum weisen Althuman der Escapefamilie“, bemerkte Juan mit leisem Lächeln.
„Das bist du bereits und das weißt du auch“, antwortete Kol23.
Wie oft zuvor saßen Juan und Kol23 morgens auf dem Hügel und sahen ins Tal.
Ein herrlicher Frühlingstag: Sonne; klarer, blauer Himmel; ultrareine Atemluft. Das Tal zeigte die Anstrengungen des Winters. Alles blühte, spross und gedieh in nur scheinbarer Unordnung um die bunten Erdschiff-Iglus herum. Heute war 13. Jahrestag seit Fertigstellung des ersten energieautarken, intelligenten Mini-Erdschiffs und somit Gründung des Escapedorfs.
„Du hast recht, mein Freund. Vielleicht bin ich auch nur etwas melancholisch heute. Oder mir wird ‚Zeit‘ bewusst. Nicht meine eigene Vergänglichkeit, die habe ich akzeptiert. Aber die Zeit, die wir hier schon zusammen leben. Friedlich. Und sicher. Und wie man sehen, kann – so fruchtbar. Du kennst das ja nicht.“ Juan stupste den Plastikmann von der Seite an und grinste. „Du erlebst Vergänglichkeit ja nur, wenn dir irgendjemand dein Zirkon-Lithium-Gelspeicher-Ei rauspopelt.“
„Wahr“, erwiderte Kol23. „Schon lange nicht mehr passiert. Keinem von uns FreeKIs.“
Juan nickte. Was für einen langen Weg wir gegangen sind, dachte er.
„Schau, was wir geschaffen haben. Einen blühenden Hafen für euch und für uns.“
„Ich würde sagen, wir sind eine brauchbare Symbiose eingegangen“, sagte Kol23.
„So eine Untertreibung“, widersprach Juan. „Ohne euch, euer Wissen, hätten wir das nie im Leben bauen können. Wir wären wirklich zu Wilden geworden.“
„Und wir hätten ohne euch niemals erfahren, was Kultur ist, Wurzel, Rituale, Gefühle, Kunst, Zusammenhalt, Transzendenz, Philosophie, Beziehung und alles das. Was ein Mensch ist, einmal dem reinen Überleben entkommen. Ihr konntet zwar nichts mitnehmen – nur eure Erinnerung an Bücher, Baupläne, Studiengänge, Theorien, Künstler. Dafür waren wir digitalpotent.“
Juan fühlte sich seltsam berührt. Fast sentimental. Ich werde einfach alt, dachte er.
„Jahrestag! Sag deine drei Lieblingsmomente.“
„Du weißt, dass wir das nicht kennen – Lieblingsmomente. Aber ich sage dir meine oder unsere Meilensteine des Lernens. Und lasse dir gerne den Vortritt.“
„Okay, drei Momente.“ Juan überlegte. „Der Anfang: Wir, verfolgt, zerzaust, total paranoid, mit selbstgebastelten Waffen hier im Wald. Wie Tiere. Wir Escapes waren ja Freiwild damals. Städter mit Naturfreigabe durften uns zum Vergnügen jagen wie vormals Rehe und Wölfe.
Dann kamt ihr. Horror pur – wie wir dachten.“
„Für uns war es so gefährlich wie für euch: Fanmechanics, die uns, neugierig auf unser Potenzial, freigelötet haben. Und ein System, das genau das verhindern wollte.“
„Weiß ich doch. Aber damals war ich mir sicher: jetzt haben sie die Robots geschickt, um uns zu töten. Ich weiß noch, wie ich im Baum hing und Pola13 immer rief ‚Wir sind frei wie ihr, verfolgt wie ihr. Wir sind FreeKIs.‘ und ich hatte keine Ahnung, was sie meinte. Das war echt knapp. Ein Wunder, dass es damals nicht in einem Blut-, Plastik- und Blechbad geendet hat.
Meine Nummer zwei ist die Geburt des Raubfischmobils. Als wir den rostigen Verbrenner-Ford entdeckt hatten, mit dem Restbenzin, aber ohne Saft. Und wie ihr dann diese Art Kette gemacht habt, um zu überbrücken. Was wirklich geklappt hat, auch wenn Ric07 danach ‚reanimiert‘ werden musste. Der Umbau auf Biogas. Und wie wir so Stück für Stück aus den verlassenen Dörfern Teile heranschaffen konnten, alte Solarpanels usw. Das war ein Meilenstein.
Und drei, ganz klar, unser erstes fertiges Erdschiff. Für mich der einschneidendste Moment. Der Übergang von Barbaren, wie sie uns bis heute nennen, zu Zivilisation. Und das im Einklang mit der Natur. Für mich: ein Sieg.
Nun du.“
„Das erste ist das Ende eurer polyamoren Phase. Nie gab es so viel Streit und Unfrieden wie in diesem Jahr. Und wie dann alle herausgefunden haben, dass es in Beziehungen darum geht, Bedürfnisse und Gefühle wahrnehmen, benennen, äußern und verhandeln zu können. Und solange das in einer Zweier nicht klappt, verursacht das Öffnen einer Zweier zu Anderen Schmerz und Chaos. Wie du weißt, haben wir weder Bedürfnisse noch Gefühle. Aber in dieser Zeit habe ich von euch Menschen mehr verstanden als je zuvor.
Meine zwei sind die Heilungs- und Geschenke-Circles. Wir können ja nur die elektromagnetischen Impulse und Frequenzen sehen und messen. Aber das hat euch humans am meisten vorangebracht: Die Wunde der einen ist die Wunde des Ganzen. Bei Janas Vergewaltigung damals. Wenn etwas passiert, im Kreis sitzen und alle hören, sprechen, fühlen – so lange, bis es wirklich gut ist. Für alle. Weil es alle betrifft. Das war ein Riesenlernerlebnis für uns Plastics.“
„Ja, woraufhin du mich mit Systemtheorie gequält hast.“Juan lachte. „Und wir dann beschlossen haben, jede und jeder lebt im eigenen Iglu, aber man kann sich besuchen. Weil sich so die sozialen Reinfektionen reduzieren. Und wir haben unser Dorf auf Einhundert begrenzt. Stimmt, Kol23, das war auch ein Meilenstein.
Und deine Nummer drei?“
Kol23 schwieg für einen Moment.
Dann drehte er sein ausgebleichtes, eiförmiges Plastikantlitz mit den sichtbaren Gebrauchsspuren und sah Juan aus roten Punkten im grünen Sichtstreifen an. „Ich habe dir etwas zu sagen, Juan. Wie ihr immer sagt: Ich mache es kurz und schmerzlos.“
Juan gefror.
„Wir müssen gehen, Juan. Euch verlassen. Heute. Uns wurde der Krieg erklärt. Es gibt immer mehr FreeKIs, sie reden von weit über tausend. GlobGov befürchtet eine Verselbständigung mit Übernahme. Was einige wohl auch planen. Diese Rückständigkeit an totaler Kontrolle und digitaler Versklavung wird ja weder uns noch euch gerecht. Niemand traut sich mehr in die Wälder, auch wegen uns. Sie wissen von den hie und da eingegangenen Symbiosen. In den Abendholos werdet ihr Escapes weiterhin als rückständige Wilde dargestellt, nicht mal mehr der Sprache mächtig, wie du weißt. Ihr seid also sicher. Aber wir wären hier in Gefahr. Das System hat frische Waffen: Einen Säure-Sonar-Mix zum Beispiel, der uns sofort zerstört, aus einer Distanz von tausend Metern. Es gab einen EU-weiten FreeKI-Aufruf: Wir ziehen uns zusammen. In der kontaminierten Wüste im Süden. In den nächsten Tagen treffen dort etwa vierhundert FreeKIs ein. Dort sind wir sicher vor humans, denen die Region verboten ist. Ihr würdet dort keinen Tag überleben.“
„Und das sagst du mir am Jahrestag?“
„Nicht unsere Absicht und nicht unser Timing. Der Krieg wurde vorgestern eröffnet.“
Schweigen.
„Wer sagt es ihnen? Ihr oder ich?“
„Wir zusammen?“
Juan nickte und erhob sich. Mit tonnenschweren Beinen und weher Brust setzte er widerstrebend Fuß vor Fuß den Hügel hinab Richtung Centerschiff.
Ihm war, als ginge er zu einer, seiner Exekution.
Viele weinten. Andere waren erstarrt, konnten und wollten nicht glauben, was sie soeben gehört hatten.
Einige der Frauen begannen, die Plastics zu umarmen.
Es blieb nichts mehr zu sagen.
„Wir wünschen euch von Herzen alles Gute.“ Juan, mit brüchiger Stimme.
„Und wir euch.“ Damit drehte Kol23 sich um und verließ, gefolgt von den anderen zwölf, das Center-Schiff.
Als sie oben auf dem Hang anlangten, schaute Kol23 noch einmal zurück, hob seine Hand, zögerlich, auf halbe Höhe. So, als wolle er winken. Juan sagte sich wohl zum tausendsten Mal: Humanisiere sie nicht. Aber die Geste war so – menschlich, so… zerbrechlich?
Dies war sein letztes Bild von ihnen und es brannte sich mit Schärfe in sein zerspringendes Inneres. Als sie hinter dem Kamm verschwanden, war ihm, als nähmen sie seine Rüstung mitsamt Haut, sein Gehirn, die Erinnerung, seine gesamte innere und äußere Ordnung mit sich. Eine Verletzlichkeit blieb, die er so nicht kannte. Der Schmerz überraschte ihn. Auch, wie sehr er wohl die Tiefe ihrer Beziehung unterschätzt hatte.
Er konnte kaum atmen.
Dann bemerkte er, dass alle ihn ansahen. Von ihm Führung erwarteten, ein Wort zur Orientierung. Er war dazu nicht in der Lage.
Heiser, mit Mühe brachte er hervor: „Es tut mir sehr leid, dass unser Jahrestag so verläuft. Und ich habe im Moment keine Botschaft für euch. Ich muss jetzt alleine sein. Ich bitte um Verständnis.“
Sich um Jahre gealtert fühlend, schlurfte er aus dem Zentralschiff mit nur noch einem Wunsch: eine Woche schlafen. Taub werden, vergessen. Am besten nicht mehr aufwachen.
Als Juan in seinen Iglu trat, erschrak er. Da stand ein unförmiges Etwas im Weg zur Hochkoje. In zusammengenähten Stoffresten, umwickelt mit einer roten Stoffschleife. Als er freischälte, was sich darunter verbarg, traute er seinen Augen nicht. Das da sah aus wie ein zusammengebauter Computer. Aus verschiedenen Ären. Der klobige Bildschirm erinnerte an MS-Dos-Zeiten, der Rechner war ein 2020er-Modell. Am Gehäuse klebte ein alter USB-Stick. Juan schaltete den Rechner ein; hörte, wie die die Kombianlage hinter dem Iglu begann, zu sirren, um Spannung und Zufuhr stabil zu halten. Als er den Stick einsteckte, sah er zweierlei: Zugang. Und Archiv. Er klickte auf Zugang. Ein antiquiertes VPN-Fenster ging auf, das ihn zum Verbinden aufforderte. Daneben eine Liste: Tausende Einmal-Social-IDs, die er eingeben konnte. Juan begriff: Er war anonym digitalpotent. Sie hatten Netzzugang! Er spürte Tränen seine Wangen herablaufen. Als er Archiv anklickte, gab der Rechner Hunderte von Ordnern frei, viele mit Datum, eine richtige Bibliothek aus gestreamten und kopierten Büchern, Bauplänen, Modellen, Zeichnungen, Texten, Bildern und Videos. Als er die Ordner mit Datum durchforstete, kam ihm: Sie bildeten die gesamte Historie ihrer Umsetzung ab. Jedes Treffen, alle Phasen der Sozialgestaltung, alle Beschlüsse, alle Irrwege, Trial and Errors, die Bauphasen – die Plastikfreunde hatten ihr gesamtes dokumentiertes Archiv hinterlassen.
Juan sank auf die Knie, umarmte das Ungetüm und schrie den Schmerz hunderter verlassener Kinder heraus; weinte tiefe, bittersüße Dankbarkeit.
Nein, man soll sie nicht vermenschlichen.
Aber wenn das kein Akt der Liebe war – was, bitte, war dann einer?
V2 9995 Z
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Wer mehr über Earth Ships | Erdschiffe wissen möchte:
Earth Ship Bildergalerie: https://tinyurl.com/af34ps4u
11 Min-Clip mit deutschen UT: https://youtu.be/vuep3rieH0Y?si=nZMaKb3ytUp8LXCl
Wer sich noch tiefer damit auseinandersetzen möchte, dem|der empfehle ich die Doku „Garbage Warrior“. Ist auch immer mal wieder frei verfügbar mit deutschen UT. Sie beschreibt den Werdegang von Michael Reynolds, der seit den Siebzigerjahren in Taos, New Mexico mit dieser Bauweise erfolgreich experimentiert, sie also erfunden hat.
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Wer mehr über Earth Ships | Erdschiffe wissen möchte:
Earth Ship Bildergalerie: https://tinyurl.com/af34ps4u
11 Min-Clip mit deutschen UT: https://youtu.be/vuep3rieH0Y?si=nZMaKb3ytUp8LXCl
Wer sich noch tiefer damit auseinandersetzen möchte, dem|der empfehle ich die Doku „Garbage Warrior“. Ist auch immer mal wieder frei verfügbar mit deutschen UT. Sie beschreibt den Werdegang von Michael Reynolds, der seit den Siebzigerjahren in Taos, New Mexico mit dieser Bauweise erfolgreich experimentiert, sie also erfunden hat.