Von Simone Tröger
Alle zwei Tage, so nahm ich es mir vor, wollte ich mit meiner vor kurzem erworbenen Nordic-Walking-Ausrüstung einige Meter durch die Landschaft wandern. Meinen neuen Wohnort kannte ich noch nicht sehr gut. Der Spaziergang und die neue Wohnung gehörten zu meinem für mich entworfenen Therapieprogramm, um meinem erheblichen Liebeskummer zu entgehen. Manchmal saß oder stand ich einfach nur im Raum und gab mich unter Tränen der Erinnerung hin. Hinterher war meine Bluse so durchweicht, wie es nur der Regen tun konnte, der heute erwartet würde. Meine braunen langen Locken dienten dann als Wischlappen, die mir die Augen trockneten.
Da ich mir den Marsch nicht allein zutraute, bat ich meine Freundin Andrea, mich zu begleiten. In der Regel tat sie das gerne. Heute allerdings hatte sie einen wichtigen Termin und konnte nicht dabei sein. Sie forderte mich auf, die Tour trotzdem anzutreten und bekannte Wege zu gehen. Also tauschte ich meinen hübsch geblümten Rock, der einer Sommerwiese ähnelte, gegen die ebenfalls neue Sportkleidung ein. Andrea war mein Ansporn, so zog ich los.
Unterwegs bemerkte ich, dass ich mein Smartphone mit dem Schrittzähler noch in meiner Arbeitstasche daheim liegen lassen hatte. Umkehren wollte ich jedoch nicht, denn über dem Hügel wurde es dunkler, und der erwartete Regen würde sich nicht mehr lange zurückhalten. Bis dahin wollte ich längst zurück sein und ein ausgiebiges Entspannungsbad nehmen. Dort konnte ich mich ungeniert meiner Trauer über die Vergangenheit hingeben. Wenn René meinte, mich nicht mehr verstehen und lieben zu wollen, konnte ich nichts tun. Sollte ich ihn etwa im Wipfel eines Baumes festbinden und so lange der Witterung aussetzen, bis er mir ein Liebesgeständnis ansagte? Weiter vorwärts! Obwohl es schon dunkel wurde, steuerte ich die Richtung zum Wald an und hoffte, der Regen würde noch eine Weile warten. Das Dorf war klein zu erkennen, ich war schon weit gekommen. Aber hier sah alles etwas unbekannt aus; ich überschätzte meine Ortskenntnis und bog zu spät ab. Das letzte Haus am Asphaltweg lag dunkel da; es war scheinbar keiner daheim. Kein normaler Mensch baute doch da ein Haus, wo böse Menschen freie Hand hatten, schlimme Dinge zu tun. Die Gegend lud förmlich zum Verbrechen ein. Eigene Gedanken bahnten sich den Weg in meinen Kopf. Sie ließen mich schneller gehen und vor allem zurück, als ich in diesem Haus Geräusche hörte.
Eine Frau, die mich hinter den Büschen nicht sah und sich unbeobachtet fühlte, schrie immer wieder aus dem geöffneten Fenster: „Nein, mit mir nicht – ich mache Schluss“. Mindestens fünfmal hintereinander tat sie das. Dabei schaute sie in das Zimmer hinter ihr. Nun setzte ich mich langsamer vorwärts, bald gar nicht mehr. Es folgte keine Antwort aus dem Zimmer, also wagte ich mich aus meinem Versteck hervor, sodass die Frau mich sehen konnte. Als sie mich erblickte, rief sie noch einmal „Mit mir nicht!“ und trat weiter ans Fenster. Sie legte ihr linkes Bein heraus.
Mit Sicherheit sprang sie gleich, und ich wurde Zeuge eines Suizides. Kurz besann ich mich auf mein eigenes emotionales Desaster und rief nach oben „Das ist es nicht wert!“ Freilich wusste ich nicht den Grund ihrer Verzweiflung. Man konnte einen Sprung aus dieser Höhe überleben, aber auch nicht. Mein Handy lag daheim, kein Spaziergänger war unterwegs, das Dorf zu weit weg, als dass einer meine Hilferufe hören konnte. Völlig allein mit einer Person, die ihrem Leben ein Ende setzen wollte, überlegte ich, womit ich helfen könnte.
Wenn ich jetzt zurücklief, würde sie springen, und ich hätte nichts versucht, sie davon abzuhalten. Wohin sollte ich auch laufen? Mir selbst war das Areal nicht bekannt. Also sprach ich beruhigend auf die Frau ein. Glücklicherweise ließ sie sich immer wieder zu einer Antwort hinreißen, und der Augenblick ihrer Tat wurde so hinausgezögert. Es war schon fast dunkel. Als es auch noch zu regnen anfing, blickte ich mich nach einer Unterstellmöglichkeit um, bei der ich sie sehen und mit ihr sprechen konnte – nichts! Außerdem traute ich mich auch nicht von der Stelle. Denn auf diese Weise hatte ich wenigstens die kleine Gewissheit, dass sie nicht sprang. Meine Worte zur Besänftigung nahm ich wieder auf. Wieder ging sie darauf ein. Wie lange halte ich bei Dunkelheit im Regen durch? Es wurde kalt, ich war durchnässt, mir fehlten die Worte. Wie lange konnte es dauern, bis Hilfe kam? Morgen früh? Wenn überhaupt… Wer sollte davon erfahren, dass ich Hilfe benötigte?
Aus dem Inneren des Hauses hörte man nun eine kräftige Männerstimme. Trotz des Regens, der laut auf das Blech eines Schuppens trommelte wie ein Dachdecker, der seine Norm erfüllen musste, verstand man „Spring doch, du doofe Kuh!“
Plötzlich verschwand die Frau ins Innere des Zimmers. Meine Angst, sie würde sich dort drinnen etwas antun, wuchs. Vor meinem inneren Auge sah ich sie im Dachboden hängen oder vor dem Gasofen liegen, sich die Pulsadern aufschneiden, eine Menge Schlaftabletten nehmen oder all das zusammen. Auch der Mann mit der tiefen Stimme wurde in meine mörderischen Gedanken mit einbezogen. Etliche Thriller und Killer-Filme sprangen mir im Kopf herum wie die Kulissen in einer Geisterbahn. Dabei suchte ich nach einer Möglichkeit, ins Haus zu kommen und wagte mich aus meiner Starre. Jede Tür des Hauses war verschlossen – ich war machtlos. Der Regen hörte nicht auf. Panisch rannte ich zurück zu meinem Ausgangspunkt.
Die Frau kam zurück ans Fenster. Aufatmen! So hatte ich sie etwas unter Kontrolle, obwohl ich immer noch nicht wusste, was ich tun konnte. Sie beugte sich aus dem Fenster, ich dachte „Nur nicht weiter hinaus…“ und schrie „Gehen Sie nicht zurück, bleiben Sie bei mir!“
Die Frau blieb, lächelte und fragte:
„Wollen Sie einen Schirm?
Als sie mein verblüfftes Gesicht sah, drehte sie sich vom Fenster weg.
Für mich war diese Person verwirrt, beziehungsweise, verwirrt worden, und so rannte ich näher an das Fenster heran, um zu begreifen, was vor sich ging.
Stattdessen ging die Haustür auf, und die Frau erschien. Sogleich entspannte ich mich und ging vorsichtig auf sie zu. Sie lächelte noch immer und begann, ihren Auftritt zu erklären.
Sie arbeitete in einem Institut für Verhaltensforschung. Dieses Institut untersuchte das Verhalten von Menschen in Gefahrensituationen. Klar, meine Freundin Andrea arbeitete da. Es war also ihr Plan, dass ich als Köder für diese Situation herhalten sollte. Da ich hier neu war, kannte ich auch dieses abseits stehende Haus nicht. Die Bewohner waren eingeweiht und einverstanden, dass ihr Domizil für so etwas genutzt wurde. Mein Handy lag bestimmt nicht in meiner Tasche. Andrea hatte das geschickt verschwinden lassen, als wir die Mittagspause zusammen verbrachten. Die Frau, übrigens eine Schauspielerin, die für besagtes Institut tätig war, sagte weiter, dass sie wusste, dass ich um etwa diese Zeit auftauchte. „Aber den Regen konnte doch keiner vorhersehen?!…“ Weiter sagte sie, dass es Glück war, aber auch ohne Regen wäre es ja wohl dunkel geworden und sie „selbstmordgefährdet“. Die Frau fand viele ideale Bedingungen und Zufälle vor.
Natürlich fragte ich, was die Frau anhand meines Verhaltens jetzt verallgemeinern konnte. Sie antwortete, es würden diverse Situationen mit dem Verhalten anderer Leute miteinander verglichen, um dann die Empathie der Menschen festzustellen, um dann wiederum zu belegen, wie „warm“ oder „kalt“ die Leute in unterschiedlichen Regionen agieren.
Etwas Blöderes und Sinnloseres hatte ich noch nie gehört. Aber der Storch bringt bekanntermaßen auch die Babys. Baron von Münchhausen konnte so gut brüllen wie ein Pferd und wiehern wie ein Löwe.
Der Regen hatte aufgehört, ich gab den Schirm zurück und lief zum inzwischen hell erleuchteten Dorf. Nun hatte ich wieder Orientierung. Wenigstens dachte ich in der gesamten Zeit nicht ein einziges Mal an René.
Andrea konnte dennoch etwas erleben…
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