Von Bernd Kleber

Quer auf der roten Liege lag er, die Beine gegen die Zimmerwand. Er betrachtete das Gemälde über sich. Eine karge Landschaft mit trockenen Zweigen. Ein klappriges Pferd, auf dem ein seltsamer Mann mit Spitzbart saß, im rechten Arm eine Lanze. Die Schultern des Mannes hingen wie der Widerrist des Pferdes. Hinter ihm noch ein Tier. Ein Esel, alt und mit so unglaublich müdem Gesicht, dass der Junge ihn immer besonders lange betrachtete. Eine Welle großer Wärme durchströmte ihn dann gespickt mit Mitleid, wie ein mit Zartbitter-Streuseln verzierter Eisbecher. Auf dem Esel saß eine dicke Gestalt.

Wenn Ferien waren, hielt er sich am liebsten hier auf, bei seiner Großmutter. Hier konnte er tun und lassen, was er wollte, sie erlaubte alles.

Die Wohnung roch stets frisch geputzt. Das Essen war lecker. Und er durfte hier liegen und träumen. In dieses Bild sinken und nachdenken und faul sein, wie der dicke Mann auf dem Esel.

Am linken Bildrand war eine Windmühle zu sehen. Merkwürdig, auch diese sah alt und klapprig aus. Und ihn brachte sie zum Schmunzeln, denn sie hatte ein groteskes Gesicht. Er war vertieft in das Bild wie schon oft und dachte nach.

Was machen die beiden da auf Pferd und Esel?

Wo ritten sie hin? Und warum hatte die Mühle ein Gesicht?

„Omaaaaaaa!“, rief er, ohne sich vom Sofa zu erheben. „Omiiiiiiiiiiii!“, wiederholte das Kind. Hörte sie nicht?

In der Küche klapperten Töpfe, Wasser lief rauschend und ein Geruch war ins Zimmer gedrungen, der des Jungen Lieblingsspeise in Aussicht stellte.

„Ja, Tobias, ich komme gleich“, erscholl es nun aus dem geschäftigen Treiben.

Das Kind wackelte ungeduldig mit dem rechten Bein, was er aufs linke Knie abgelegt hatte. Er ließ keinen Blick von der staubigen Steppe im Gemälde. Er hatte früher ganz vorsichtig mit den Fingerspitzen über das Farbrelief des Bildes gestrichen. Ledern, gleich einer vernarbten alten Haut mit hervorspringenden Blutgefäßen, die pulsierten, und gespannt wie ein Trommelfell fühlte sich die Fläche an. Und er testete verschiedene Sichtweisen, indem er sich ganz dicht mit den Augen an das Bild beugte. Dabei hatte er festgestellt, dass, je näher man der Oberfläche kam, weniger vom Gesamten erkennbar war. Alles verschwamm zu einzelnen Farbpunkten, Farbadern, Farbtälern und Farbflächen.

„Was hast du denn, Tobias? Möchtest du heute nicht rausgehen? Die Sonne scheint und der Felix vom Nachbarn spielt draußen ganz alleine.“

`Felix, phhh`, dachte Tobias. Dieses Schwein hatte von außen an die Fensterscheibe der Veranda gespuckt, als er von innen die Tür nicht öffnen wollte. Einen dicken Fladen. Das hatte ihn zutiefst schockiert. Felix war ein fieser Typ.

Die Frage überhörend: „Oma, sag, was bedeutet dieses Bild. Wer sind die Männer dort?“

Die alte Frau stemmte die Arme in ihre Hüften, holte tief Luft: “Diese Geschichte erzähle ich Dir nach dem Essen.“

„Was gibt es denn?“, fragte Tobias, obwohl er es längst ahnte. Seine Augen leuchteten, seine Wangen glühten. Beim Lächeln wurden seine Augen ganz klein.

„Hühnerfrikassee!“, rief die Alte und griff kitzelnd in den Bauch des Jungen, der sich vor Lachen kaum auf dem Sofa halten konnte.

***

Es waren zwei Freunde. Ein großer, langer Dünner und ein jüngerer, kleiner Dicker. Die wohnten in einem Dorf und gingen dem Ackerbau nach. Ihre Felder waren kargen Bodens und gaben nicht viel Ertrag. Sie schufteten von Dämmerung zu Dämmerung. Pflügen, eggen, säen, wässern, jäten, ernten, wieder pflügen. Das ganze Jahr waren sie beschäftigt. Ein unerbittliches Hamsterrad.

Auf dem Hof gab es einen alten Hahn, der die drei Hennen bewachte, die regelmäßig jede ein Ei gaben.

Es lebte dort ein alter Hund, der kaum Zähne hatte. Dafür überzeugte er aber mit lautem, grollendem Bellen. Jeder Strauchdieb machte einen großen Bogen um das Grundstück. Auch der Fuchs.

Es existierte die alte Schindmähre, welche pro Tag ein halbes Feld schaffte, wenn Pflüge-Zeit war.

Und! Zur vierbeinigen Gesellschaft gehörte ein Esel. Der hatte keine Aufgaben das ganze Jahr. Nur im Herbst, da musste er vier Säcke Korn zur Mühle tragen.

Dazu brauchte er leider drei Tage, da er alle vier Schritte Pause machte und durch keine Rübe zum Weitergehen überredet werden konnte. Wie du… war dieser Esel sehr langsam und träge.

Eines Tages galoppierte ein Reiter auf den kleinen Hof, gekleidet in ein scharlachrotes Gewand, was ihn als Beamten des Königs kennzeichnete. Er sprang von seinem feurigen Rappen. Und der dicke Bauer sah deutlich, wie der Rappe der blassen Hofstute zublinzelte.

„Hört Leute!“, sprach der Bote des Königs, „Seine Durchlaucht hat einen runden Geburtstag und feiert ihn mit allen Bürgern, Kaufleuten, Pächtern und Landarbeitern der Region. Es wird ein Rennen veranstaltet. Ein Reiten mit großzügigster Siegerprämie. Der Sieger erhält drei Säcke Gold. Ich nehme die Anmeldungen entgegen.“

Die Freunde sahen sich an und mechanisch drehten sich ihre Köpfe zum kleinen Gatter. Über das Spalier blickten Kopf an Kopf, die Schimmeldame und der Esel.

„Ich!“, erschall es im Chor der beiden ungleichen Gesellen. Der Kurier sah beide ungläubig an.

„Habt ihr denn Pferde, die beim Rennen eine Chance haben?“

Der Dicke zeigte zum Gehege und sagte grinsend: „Ein Pferd, einen Esel. Rosinante und Asche. Wir versuchen unser Glück!“

Der Uniformierte schaute zu den Tieren, in vier erschrocken geweitete Augen. Rosinante schnaubte, worauf Asche jämmerlich heiser iahte.

Er schrieb nach vehementem Beharren der beiden merkwürdigen Männer ihre Namen auf und ritt vom Hof. Eilig hatte er es und war bald nicht mehr zu sehen.

Der Dicke übte nun jeden Abend mit seinem Esel das Reiten. Es war ein seltsamer Anblick. Oft saß er auf dem Esel, schabte dessen Nacken und murmelte ihm beschwörend ins Gewissen. Das Tier rührte sich nicht. Er versuchte den allseits bekannten Trick, mit einer Rute, an die er eine Rübe band, und hielt sie Asche vor das Maul. Das Tier trabte nur dann gemächlich los, wenn niemand mehr damit rechnete. Worauf der Dicke jedes Mal mit zärtlichem Kraulen hinter den langen Ohren des Grauen reagierte. Asche bewegte sich so wenig wie du, Tobias. Manche verdrehen die Tatsachen, behaupten Faulheit sei Sturheit. Ich meine, es war launiges Phlegma, das man auch Souveränität nennen kann. Wie der Herr, so´s Gescherr!

Der Dicke und das Tier gewannen sich so lieb, dass der Esel die ganze Nacht schrie, wenn nach erfolgtem Training sein Reiter im Haus verschwand. Die Kameraden hatten sich überlegt, das zu unterbinden, und so durfte der Esel überall dort sein, wo sein dicker Herr war. Der Esel stand nächtens am Bett seines Herren und war nicht mehr zu trennen von ihm. Man nahm an, er würde lieber sterben, statt allein zu bleiben.

Der Tag des Rennens war gekommen. Herrschaftliche Reiter auf edlen Tieren standen an der Startlinie zum großen Geburtstags-Spektakel des Königs. Seine Frau, die schönste des Landes, ließ ihr Taschentuch fallen und die Meute setzte sich in Bewegung. Der Boden vibrierte unter den Hufen all der temperamentvollen Tiere. Eine dichte Staubwolke erhob sich und hüllte alle Schaulustigen ein, wie in einen Ball aus Zuckerwatte.

Das Beben verging, das Hufgetrappel verklang. Die Tiere waren auf ihrer Rennstrecke entschwunden. Die Staubwolke senkte sich, wie eine aufgeschüttelte Daunendecke.

Am Start standen Rosinante mit dem Dünnen auf dem Rücken und Asche mit dem Dicken daneben. Die Leute begannen zu lachen und konnten keinen Blick von den Vieren abwenden. Der Dicke schmeichelte und bettelte Asche an, ihn nicht zu blamieren. Das Tier blieb stehen. Der Dünne gab der Rosinante die Sporen, aber das Pferd wich nicht von des Esels Seite. Der Dicke stieg ab und begann zu laufen, schließlich verabscheute es ja Asche, von ihm getrennt zu sein. Das graue Tier begann jämmerlich zu schreien. Rosinante trabte um ihn herum und legte seinen Kopf auf den des Langohrs. Die Kinder der Schaulustigen zeigten mit ausgestrecktem Finger auf Asche und rieben sich mit der anderen Hand ihre Augen. Der Dicke musste schnell zurück und das Tier liebkosen. Dann gab es Ruhe. Der Dünne streichelte den Hals des alten Pferdes und schüttelte immer wieder den Kopf.

Dieses Schauspiel hielt eine Weile an. Das Lachen war verstummt. Die Leute tuschelten. Frauen wischten verstohlen Tränen fort. Die Kinder versammelten sich um die vier Gestalten, tätschelten und streichelten die Tiere. Niemand interessierte sich für das Rennen, was bald vorbei war.

Ein Sieger wurde gekürt und bekam das versprochene Gold. Das Volk jedoch rief im Chor nur einen Namen: „Asche, Asche, Asche …“

Der König hatte mit seiner Frau natürlich auch das Drama am Startpunkt beobachtet und beriet sich.

Dann erhob sich die Königin und hielt ihren Seidenschal in die Höhe, welcher wie eine Standarte im Wind flatterte. Das Volk verstummte und sah zur Tribüne.

„Meine lieben Untertanen, wir wurden gerade Zeuge von etwas unbeschreiblich Schönem und Edlem. Freundschaft, Loyalität und Liebe! Gemeinschaftsgeist zwischen Tier und Mensch. So etwas muss honoriert werden. Wir erklären die Bauern hiermit zu Distrikt-Müllern und übergeben ihnen eine Mühle. Sie sollen dort auf Lebenszeit für Landeslohn und Provision das Korn der Gegend mahlen. Die Tiere erhalten Futter, ebenfalls auf Lebenszeit. Freundschaft ist unabhängig vom Stand, Bildung und Aussehen und wir sahen den Beweis, auch bei Vierbeinern.“

Sie lächelte verschmitzt. Das Volk johlte jubelnd und huldigte der weisen Königin. In der Landes-Postille war am Folgetag nicht der Sieger Schlagzeile. Nein, dort war zu lesen: „Verloren auf Asche, gewonnen mit Asche“

***

 

Heute hängt das Bild über dem Kamin des Knaben, der ein dicker Mann geworden war.

Don Quijote und Sancho Panza erinnern ihn jeden Tag an seine geliebte Großmutter und ihre wunderschönen Geschichten. Sie hatte ihm damals so viele Weisheiten in schönste Sagen und Märchen verpackt und einige waren von ihr spontan erdacht.

Er erhebt sich aus dem Sessel, um seinen Hund auszuführen, zu einem Spaziergang durch den nahen Wald und ruft:

„Komm Asche, Gassi!“

 

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