Von Marcel Porta

Wir hatten alle seine Bücher gelesen. Arthur Silberstein war schließlich ein bekannter Autor und Bürger unserer Stadt. Doch das war nicht der Grund für die Lektüre. Nein, wir mussten uns vorbereiten, weil wir ihn für unsere Schülerzeitung interviewen wollten. Er wurde in diesem Monat 80 und weil er so berühmt war, hielten wir es für eine gute Idee, einen Artikel über ihn zu bringen. Wir hatten Glück, denn einer unserer Lehrer war mit ihm befreundet und half uns, recht zeitnah zu seinem Geburtstag einen Termin zu bekommen. So standen also Mandy und ich an einem späten Donnerstagnachmittag vor seiner Tür und warteten auf Einlass. Natürlich waren wir nervös, denn nach der Lektüre seiner Bücher waren wir wahnsinnig gespannt, wie dieser Mann sein würde. Was wurde aus einem Menschen, der so viel durchgemacht hatte. Wie würde er uns Naseweise empfangen?    

 

Wir wurden bereits erwartet, und als wir Herrn Silberstein gegenüberstanden, wurde ich unwillkürlich an Albert Einstein erinnert. Die gleiche Frisur, die gleiche unzeitgemäße Kleidung, dieselbe Statur und auch dessen schelmisches Grinsen im Gesicht. Wobei mir bald aufging, dass Letzteres bei Herrn Silberstein nicht Absicht war, sondern auf dem Gesicht eingefroren schien.

 

„Guten Tag, Herr Silberstein. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben. Mein Name ist Kevin Franz und sie heißt Mandy Masso“, stellte ich uns vor. Herr Silberstein bot uns ein Glas Wasser an, dann setzen wir uns an einen wackligen Tisch und ich packte mein Aufnahmegerät aus. Wir hatten schon vorher abgeklärt, dass wir es benutzen durften.

Wir gratulierten ihm zuerst zum Geburtstag und stellten Fragen nach der Gesundheit, den Freunden, den Haustieren und den Lieblingssendungen im Fernsehen. So hatten wir uns das ausgedacht, bevor wir zu den schwierigeren Fragen zu seinen Büchern und den zugrunde liegenden Erlebnissen kommen wollten.

Doch dann kam es ganz anders, denn Mandys letzte Frage führte uns direkt zu dem, was wir eigentlich wissen wollen.

„Herr Silberstein, was war das wichtigste Ereignis im letzten Jahr für Sie?“

„Ihr wisst sicher“, gab er zur Antwort, „dass ich in meinem letzten Buch die Geschichte meines Vaters erzählt habe. Und dass es keine Anhaltspunkte gibt, wo und wann er gestorben ist. Doch keine zwei Monate nach dem Erscheinen des Buchs erhielt ich einen Brief, der mich elektrisierte, denn er versprach endlich nach so vielen Jahren Aufklärung über sein Schicksal. Mittlerweile habe ich Gewissheit und trotz der traurigen Tatsachen, die dabei zutage getreten sind, bin ich unendlich froh, jetzt die Wahrheit zu kennen.“

„Wollen Sie den Lesern erzählen, was Sie herausgefunden haben?“

„Ja, das möchte ich. Die Leser meiner Bücher kennen das Konzentrationslager Neuengamme Hannover-Stöcken und meine Erlebnisse dort recht gut, allen anderen sei gesagt, dass das Leben dort für alle Insassen die Hölle war. 1945, kurz vor Kriegsende, kamen mein Vater und ich in einem Außenlager an. Jemand hatte uns verraten, unser Versteck wurde gestürmt und wir wussten nicht, wo meine Mutter und die beiden Schwestern abgeblieben waren. Diese Ungewissheit war noch schlimmer als der Hunger, die Kälte und die allgegenwärtigen Schläge. Dass sie damals alle schon tot waren, habe ich erst Jahre später erfahren.

Mein Vater versuchte, mir die Zeit im Konzentrationslager so erträglich wie möglich zu machen. Er hungerte, damit ich zu essen hatte, er stellte sich vor mich, wenn es Prügel gab, er liebte mich mit der ganzen Kraft, derer er noch fähig war.

Der Krieg näherte sich dem Ende und je näher die Front kam, desto nervöser wurden die deutschen Wachen. Das bemerkte sogar ich in meinem kindlichen Alter. Zwar war ich erst gerade mal acht Jahre alt, doch die letzten Jahre zählten doppelt und dreifach.“

 

Er war ein guter Erzähler und wir hingen an seinen Lippen. Zwischenfragen stellten wir keine, denn wir erfuhren gerade mehr, als wir jemals hätten erfragen können.

 

„Zwei Monate nachdem wir dorthin gekommen waren, Anfang April, kam von oben der Befehl zum Aufbruch. Wo immer es möglich war, räumte die SS ihre Lager, bevor sie von alliierten Truppen überrollt wurden. Doch es gab keine Unterkünfte für die Sklavenarbeiter mehr, so wurden die Häftlinge in den sogenannten Todesmärschen mehrere Tage lang kreuz und quer durchs Land getrieben. Und trotz der verzweifelten Versuche meines Vaters, mit mir zusammenzubleiben, wurden wir noch im Lager getrennt und gerieten auf verschiedene Märsche. Ich sehe noch heute sein verzweifeltes Gesicht vor mir. Es war das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben. Nicht mal Abschied konnten wir voneinander nehmen.“

 

Tränen standen in den Augen des Greises, und auch ich konnte Mandy nicht mehr deutlich wahrnehmen.

 

„Wie ich selbst gerettet wurde, weil einige Todesmutige sich auf die verbliebenen bewaffneten Wachen warfen und ihr Leben riskierten, habe ich ausführlich in meinem ersten Buch erzählt, doch wie es meinem Vater erging, konnte ich bis vor Kurzem nicht in Erfahrung bringen. Und dann dieser Brief. Er kam vom Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen und verkündete mir, dass es aufgrund neuer Erkenntnisse gelungen sei, die Identität einiger halb verkohlter Leichen zu ermitteln, die damals, am Tag nach der Rückeroberung des Gebiets gefunden wurden. Und mit diesen neuen Methoden wurden auch die sterblichen Überreste meines Vaters identifiziert.“

„Wie war das nach so vielen Jahren plötzlich möglich?“ Die Frage hatte ich ohne Nachdenken ausgesprochen, so verwundert war ich.

„Ich sehe schon, du hast dieselbe Frage wie ich. Mittlerweile kenne ich die Antwort.

Grundlage war die noch halbwegs lesbare Häftlingsnummer auf dem Arm meines Vaters, die damals archiviert wurde. Die Datenbestände des Internationalen Suchdienstes (ITS) in Bad Arolsen sind zum Teil erst heute zugänglich und können damit abgeglichen werden. Es sind Unterlagen der KZ-Gedenkstätten Mittelbau-Dora und Neuengamme, in denen die Häftlingsnummern eingetragen waren. Erschwert wurde der Abgleich, weil etliche Nummern mehrfach vergeben wurden, doch nun endlich steht zweifelsfrei fest, dass es mein Vater war, dessen Leiche sie dort gefunden haben. Endlich kann ich in Ruhe sterben, denn die Ungewissheit über sein Schicksal lag mir ständig auf der Seele und ließ mir keinen Frieden.“

 

Der alte Mann schloss die Augen und schwieg einige Minuten. Wir wagten nicht, diese Stille zu unterbrechen. Stattdessen betrachtete ich seine Gesichtszüge, die mir bisher nur von Bildern bekannt waren. Dieses Gesicht vergaß man nicht, wenn man es einmal gesehen hatte.

 

„Möchten Sie uns erzählen, wie Ihr Vater ums Leben kam?“, wagte ich endlich eine Frage, als Herr

Silberstein die Augen wieder geöffnet hatte.

„Vielleicht habt ihr schon mal von Isenschnibbe gehört?“, ging er auf die Frage ein.

„Ja, das ist ein Ort, der in einem ihrer Bücher vorkommt“, bewies Mandy, dass wir uns vorbereitet hatten.

„Stimmt. Er liegt in der Nähe von Gardelegen in Sachsen-Anhalt. Es ist verrückt, dass ich in einem meiner Bücher über das Massaker in der Isenschnibber Feldscheune geschrieben habe und nun erfahre, dass mein eigener Vater eines der 1016 Opfer war. Es waren überwiegend Nichtjuden aus ganz Europa, die dort bestialisch ermordet wurden. Doch einer der 63 Juden war mein Vater. Vierundzwanzig Stunden vor der Befreiung durch die US-Armee.
Die KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter wurden in dieser riesigen steinernen Scheune eingepfercht. Die SS-Wachmannschaften versuchten diese in Brand zu stecken, indem sie das mit Benzin getränkte Stroh in Brand setzten, doch die Häftlinge konnten das Feuer austreten. Danach warf man Handgranaten hinein und mähte alle, die zu entkommen versuchten, mit Maschinengewehren nieder. Die meisten Eingesperrten erstickten qualvoll, verbrannten bei lebendigem Leibe oder starben durch die Granaten. Nur wenige konnten entkommen.“

 

Wieder schwieg unser Interviewpartner. Noch niemals war mir die Arbeit als Redakteur einer Schülerzeitung wichtiger vorgekommen. Und noch nie schwerer.

Eine Frage brannte mir noch auf der Seele.

„Weiß man, wer dafür verantwortlich war?“

„Ziemlich genau. Der örtliche NSDAP-Kreisleiter hieß Thiele, ein SS-Obersturmbannführer und Oberleutnant der Wehrmacht. Er wusste, dass ihm standrechtliche Erschießung drohte, wenn die vorrückende feindliche Armee diese Menschen in seinem Verantwortungsbereich finden sollte. Also ordnete er am 13. April die Ermordung an, und es waren etwa einhundert Personen an der Durchführung beteiligt: SS-Männer, Angehörige der Wehrmacht und des Volkssturms, sowie Häftlinge, denen man die Freiheit versprochen hatte. Das Massaker dauerte bis tief in die Nacht.“

„Was ist aus diesem Thiele geworden?“, wollte Mandy wissen.

„Gerhard Thiele lebte unter dem falschen Namen Gerhard Lindemann bis zu seinem Tod im Alter von 85 Jahren in Düsseldorf.“

 

Herr Silberstein machte einen erschöpften Eindruck, sodass ich beschloss, ihm nicht weiter mit unseren Fragen zuzusetzen. Mandys Einverständnis setzte ich stillschweigend voraus.

„Wir möchten uns bei Ihnen für dieses Interview bedanken, Herr Silberstein. Wollen Sie den Lesern unserer Schülerzeitung noch etwas mit auf den Weg geben?“

„Ja, wenn ihr jemals in diese Gegend kommt, besucht die Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen. Und tragt Sorge, dass so etwas nie wieder vorkommen kann. Es gibt wieder Tendenzen in unserer Gesellschaft, die es nötig erscheinen lassen, darauf hinzuweisen. So wie wir damals entgegen der offiziellen Doktrin Menschen waren, nicht Untermenschen, so sind auch Asylbewerber und Flüchtlinge aus leidgeplagten Ländern Menschen. Mit Gefühlen und einem Schicksal, das wir nicht verschlimmern, sondern erleichtern sollten.“

 

Und nun saßen wir da, hörten uns den Mitschnitt wieder und wieder an.

„Meinst du, wir schaffen es, den Lesern zu vermitteln, welch besonderer Mensch dieser Herr Silberstein ist?“, fragte mich Mandy.

„Ich weiß es nicht, aber wir sollten es versuchen. Das sind wir ihm und seiner Geschichte schuldig.“

Und so machten wir uns an die Arbeit.    

 

 

© Marcel Porta, 2017

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