Von Kathrin Bögelsack
„Am vergangenen Freitag, den 23. März, wurde ein 68-jähriger Mann leblos in seinem Haus nahe Osnabrück aufgefunden. Die Polizei geht von einem Verbrechen aus. Es werden Zeugen gesucht.“
Sie schauderte unwillkürlich, als sie die Anzeige in der Zeitung erblickte. Seit Tagen hatte sie danach Ausschau gehalten und gleichzeitig gehofft, nichts dergleichen zu entdecken. Dann hätte sie sich einreden können, sie habe sich alles nur eingebildet. Dann würde sich jetzt nicht das schlechte Gewissen melden, weil sie untätig geblieben war. Die Zeit um sie herum schien stehen zu bleiben und sie nahm nichts weiter wahr als die Anzeige und die Worte „leblos“, „Verbrechen“ und „Zeugen“. Die Wörter tanzen vor ihren Augen. Sie blinzelte und wandte den Blick ruckartig von der Zeitung ab. Jetzt erst bemerkte sie die Gänsehaut an ihren Armen. Sie griff nach ihrer Strickjacke und zog sie schnell über.
Ob die Polizei schon eine Spur hatte? Vielleicht hatte sie sogar schon einen konkreten Verdacht und wollte dem Täter nur Gelegenheit geben, sich zu stellen? Oder aber sie tappten immer noch im Dunkeln und hofften jetzt auf ein paar erste Hinweise. Sie wusste es nicht, und diese Unwissenheit machte sie nervös, stellte sie fest.
Tee, sie würde sich einen Tee machen, beschloss sie. Das würde ihr Zeit geben, über alles nachzudenken, und ihr würde wieder warm werden.
Sie faltete die Zeitung zusammen, ließ sie auf ihrem Schreibtisch liegen und stand auf. Vor ihr lag ihr wunderbarer Garten. Fünfundzwanzig Jahre leidenschaftliche Arbeit hatte sie dort hineingesteckt, und der Anblick entschädigte sie immer wieder. Deswegen hatte sie noch zu Lebzeiten ihres Mannes auf das Arbeitszimmer mit Gartenblick bestanden. Wobei sie da nicht zu viel hatte kämpfen müssen. Werner wusste, wie wichtig ihr der Garten war, und er hatte ihr das Zimmer gerne überlassen.
Sie rieb die Hände über ihre Arme, weil es sie immer noch fröstelte, wandte sich dann um und verließ das Arbeitszimmer in Richtung Küche. Im Flur hingen Dutzende Fotos, die Meilensteine im Leben ihrer Familie markierten. Zunächst ein Hochzeitsfoto von Werner und ihr selbst. Dann Bilder von den Kindern, Martin und Christa, zunächst als Babys, dann immer größer. Bilder, die im Urlaub gemacht wurden, zur Einschulung, zur Kommunion, am ersten Tag auf dem Gymnasium bzw. der Realschule, zur Firmung, am letzten Schultag. Anfangs waren Werner und sie ebenfalls auf den Bildern zu sehen, später immer seltener. Aktuelle Bilder fehlten derzeit, aber Martin würde bald heiraten und so kämen sicherlich wieder welche dazu.
Als sie gerade das Telefon passierte, klingelte es schrill, und sie erschrak fürchterlich. Wieder einmal dachte sie, dass sie sich unbedingt ein neues zulegen sollte, sonst würde sie eines Tages noch an einem Herzinfarkt sterben. Aber da es immer noch einwandfrei funktionierte, verwarf sie den Gedanken meist wieder.
Sie hatte sich von ihrem ersten Schreck erholt, zögerte aber, ans Telefon zu gehen. Ihr kam wieder der Aufruf der Polizei in den Sinn. War etwa die Polizei am anderen Ende? Hatten sie herausgefunden, dass sie etwas wusste? Oder war es sogar die Frau? War sie doch gesehen und erkannt worden? Wobei sie sicher war, nicht bemerkt worden zu sein. Das vierte beharrliche Klingeln riss sie aus ihrer Erstarrung.
„Kranz?“, meldete sie sich zögernd.
„Hallo Mama!“, ertönte es am anderen Ende.
„Christa“, antwortete sie erleichtert. „Wie geht es dir?“
Sie unterhielten sich wie üblich eine Weile miteinander, redeten über dies und das, Christas neuen Job, ihren Garten, Bücher, die sie zuletzt gelesen hatten, bis Christa vorsichtig fragte: „Und sonst geht es dir gut, Mama?“ Sie musste kurz überlegen, worauf ihre Tochter anspielte. Hatte sie etwa irgendwie von dem Tod des Mannes erfahren? Doch wieso sollte sie das interessieren, und wieso sollte sie sich dann um ihre Mutter sorgen? Niemand wusste schließlich, was sie gesehen hatte. Zumindest hoffte sie das. Dann fiel es ihr ein. „Mir geht es gut, danke Christa“, beruhigte sie ihre Tochter.
Ein Jahr war es heute ganz genau her, dass Werner für alle überraschend und plötzlich gestorben war. Zumindest war es für fast alle überraschend gewesen. Sie hatte ja Zeit gehabt, sich darauf vorzubereiten. Noch vor anderthalb Jahren wäre ihr das völlig absurd erschienen, doch dann hatte Werner ihr eines Abends erklärt, sie müssten das Haus verkaufen. Das Haus und ihren wunderschönen Garten, in den sie so viel Arbeit gesteckt hatte, der ihr Ein und Alles war. Sie hatte sich Werners Geschichte angehört: Es tat ihm alles furchtbar leid, weil er um ihre Gefühle für das Haus wusste, und auch ihm wäre es lieber, sie könnten in diesem Haus, in dem sie schon so viele Jahre glücklich lebten, in dem ihre Kinder groß geworden waren, auch weiterhin wohnen. Aber er hatte ihre gemeinsamen Ersparnisse, die für das Alter vorgesehen waren, falsch angelegt. Das Geld war weg, und seine Rente – er bemühte sich sehr, an dieser Stelle nicht vorwurfsvoll zu klingen, trotzdem wusste sie, dass es ihnen jetzt helfen würde, wenn sie selber ebenfalls immer Vollzeit gearbeitet hätte – würde nicht ausreichen, um sie beide und den Unterhalt des Hauses zu finanzieren. Daher, so schlussfolgerte er, müsste das Haus weg.
Sie ließ sich am nächsten Tag seine gesamten Unterlagen geben und arbeitete sich einen Monat lang durch die Finanzen. Sie beschäftigte sich schon seit längerem gerne mit dem Thema, hatte die Geldangelegenheiten jedoch Werner überlassen, weil das üblich war und sie ihn nicht hatte vor den Kopf stoßen wollen. Auch sie kam zu dem Ergebnis, dass das Geld so nicht reichen würde für zwei Menschen und ein Haus. Aber sie schlussfolgerte, dass es sehr wohl reichen würde für einen Menschen und das Haus. Werner weihte sie in ihre Gedanken nicht ein. Stattdessen richtete sie es so ein, dass er auf einer seiner Joggingrunden einen Herzinfarkt bekam. Sie hatte ihm schon immer gesagt, wie gefährlich diese langen Touren durch menschenleere Wälder waren. Es wäre niemand da, um ihm zu helfen. Und sie hatte recht behalten.
Einen Tag später wurde er gefunden. Selbstverständlich hatte sie etwa drei Stunden, nachdem er aufgebrochen war, die Polizei verständigt, aber es dauerte, bis sich da etwas tat. Stattdessen war sie mit ein paar Nachbarn aufgebrochen, um ihn zu suchen. Es erstaunte sie immer noch, wie weit er an jenem Tag gelaufen war. Wahrscheinlich hätte er noch ein langes und aktives Leben vor sich gehabt. Aber daran ließ sich nun nichts mehr ändern. Die Kinder wurden benachrichtigt, Werner wurde beerdigt, seine Lebensversicherung wurde ausbezahlt und sie legte das Geld neu und sicherer, aber dennoch gewinnbringend an. Seither lebte sie auch in dieser Hinsicht sehr komfortabel.
Sie verabschiedete sich von Christa, nachdem sie beide noch ein paar Floskeln ausgetauscht hatten, und ging dann in die Küche, um sich endlich ihren Tee zu machen. Während das Wasser im Wasserkocher langsam zu kochen begann, maß sie den Tee ab – eine Kräutermischung aus ihrem Garten – und dachte an die Ereignisse von letztem Donnerstag.
Sie war auf dem Rückweg vom Treffen ihrer Lesegruppe gewesen. Mit ein paar alten Freundinnen diskutierte sie einmal im Monat über ein Buch, das sie zuvor ausgelost hatten. Sie genoss stets den intellektuellen Austausch und die Plauderei mit den anderen und auch dieser Abend war keine Ausnahme gewesen. Gegen 23 Uhr hatten sie sich voneinander verabschiedet und sie war von Mechthild nach Hause begleitet worden. Doch es war ihr schwer gefallen, zur Ruhe zu kommen, und so war sie nochmals zu einem kleinen Mitternachtsspaziergang aufgebrochen. Der Himmel war sternenklar und die Luft kühl. Sie genoss die Stille und bewegte sich gedankenverloren durch die dunklen Straßen. Als eine Kirchturmuhr in der Nähe ein Uhr schlug, wurde sie sich ihrer Umgebung erst wieder wirklich bewusst. Sie blieb stehen und blickte sich um. Sie stand auf einem Feldweg – der Himmel wusste, wie sie da hingekommen war. An das Feld grenzte der rückwärtige Teil eines Anwesens. Sie wusste nicht, wer dort wohnte und sie hätte sicherlich gleich kehrtgemacht, wenn nicht die Szenerie im hell erleuchteten Wohnzimmer sie gefesselt hätte. Dort trat in ebenjenem Moment eine Frau mittleren Alters von hinten an ihren Ehemann heran, der fernsehschauend auf der Couch saß und die Frau nicht bemerkte. Oder aber er war so an sie gewöhnt, dass er nicht mehr sonderlich auf sie achtete. Die Frau hielt eine Pfanne in der Hand, die sie hoch über ihren Kopf hob und dann auf den Schädel des Mannes schlug. Dass sie viel Kraft in den Schlag gelegt hatte, konnte man an ihrer Körperhaltung vor und während der Ausführung sehen, und natürlich am Ergebnis. Wenn man bedachte, wie klein und zierlich die Frau aussah, war das wirklich beachtlich. Der Kopf und der Körper des Mannes sackten auf der Couch zur Seite weg, und auf dem Feldweg duckte sie sich instinktiv. Sie sammelte sich kurz und schlich dann ein Stück weit den Feldweg zurück. Als sie es wagte, sich wieder aufzurichten, marschierte sie zügig nach Hause, jedoch so lang wie möglich fernab der Straßen. Denn sie wollte unter keinen Umständen mit dieser Geschichte in Verbindung gebracht werden. Sie würde bestimmt nicht für jemand anderen den Kopf in die Schlinge legen. Aber verpfeifen würde sie die Frau auch nicht, das nahm sie sich in diesem Moment vor. Sie hatte bestimmt ihre Gründe.
Das Wasser kochte, sie goss ihren Tee auf und nahm die wärmende Tasse mit nach draußen in den Garten, wo sie sich mit Blick auf ihre Blumen auf die Gartenbank setzte, die Werner eigens für sie neu lackiert hatte. Sie ließ sich von der Sonne wärmen und genoss das Zwitschern der Vögel, das Summen der Bienen und den Duft nach Blumen und ihrem Tee. Sie seufzte. Sie würde wohl eine Weile brauchen, bis sie die Ereignisse jener Nacht würde vergessen können. Aber die Arbeiten an Haus und Garten würden ihr dabei helfen. Wie gut, dass sie sich mit Finanzen auskannte.