Von Ruth Loseke

Heute war der Prozess. Sie sagte sich, dass es ihr egal sei.

Ihre Mutter würde dabei sein. Und eine Sozialarbeiterin, zu der sie zwei Mal hatte gehen müssen. Sie hieß Frau Anjo, eine ältere Frau. Ihr hatte sie Dinge erzählt, über sie noch nie gesprochen hatte. Vielleicht hatte sie dabei auch geweint; sie erinnerte sich nicht genau. Aus irgendeinem Grund hatte sie Vertrauen zu dieser Frau gefasst. Frau Anjo würde den Prozess begleiten.

Das Mädchen fühlte sich wie in Watte gepackt, irreal. Ihre Mutter saß im Zuschauerraum, weit weg, ganz bleich, als ob sie gleich aufhören würde zu atmen. Sie begann ihr leid zu tun, dort so traurig und hilflos in der Bank sitzend. Frau Anjo berichtete von ihren zwei Gesprächen und das Mädchen hörte Worte, die sie erstaunten. Sie war unschuldig. Ein psychisches Dilemma war der Motor für den Diebstahl.

Keiner im Saal hatte eine Ahnung davon, wie viel und wie oft sie schon gestohlen hatte. Sie hatte nie mit jemanden darüber gesprochen. Das war ihr Triumph, gab ihr ein unwiderstehliches Gefühl von Überlegenheit.

Dieser Prozess hatte eigentlich gar nichts mit ihr zu tun. Es wusste keiner, was eigentlich mit ihr los war, außer – der Sozialarbeiterin vielleicht… Mit allem, was sie da sagte, konnte es sein, dass sie etwas verstanden hatte. Auch der Richter schien beeindruckt.

Die Mutter war noch kleiner geworden, fast ganz verschwunden. Es war für sie schwer, sich die Rede der Sozialarbeiterin anzuhören. Vielleicht wäre sie am liebsten gegangen, aber das hätte sie nie getan. Sie stellte sich stumm ihrer vermeidlichen Schuld. Aber die Zeit der Vorwürfe war vorbei. Die Sozialarbeiterin schaffte es, Schuld und Schande aufzulösen.

Der Richter sprach das Urteil, dessen Bedeutung dem Mädchen nicht ganz klar wurde. Sie solle sich in therapeutische Behandlung begeben, an einer Beratungsstelle vorsprechen, die ursächlichen psychischen Hintergründe aufarbeiten. Aber zunächst sollte sie in dem Internat, das die besuchte, das Abitur machen und danach in der Heimatstadt eine Therapie beginnen.  Natürlich hatte sie verstanden, dass sie „mit einem blauen Auge“ davon gekommen war. Sie hatte die ganze Zeit scheu dagesessen. Die Szenerie des Gerichtes hatte sie sehr beeindruckt.

Zum Glück würde ihre Mutter jetzt Ruhe geben. Man würde nicht mehr darüber sprechen müssen. Sie würde ins Internat zurückkehren, die letzten paar Wochen vor dem Abi, und versuchen, diesen Prozess zu vergessen.

Nur schade, dass nach der Rückkehr ins Internat dieses Gefühl von Fremdheit nicht verschwinden wollte. Die Freunde um sie herum erschienen ihr weit entfernt. Daran änderte auch der Stolz der Mutter über das bestandene Abitur nichts.  

Das Mädchen wusste nicht, wie es mit ihrem Leben weitergehen sollte. Einige aus der Clique zogen zusammen in eine WG. Ob sie auch dazu kommen wolle? Es gab keinen eigenen, sichtbaren Weg; nur nicht nach Hause. Sie suchte sich in der Stadt der WG eine Sprachschule; das klang doch gut. Sie würde Sprachen lernen, 10-Finger-Schreiben, übersetzen, dolmetschen.

Und zu Hause in der Stadt, in der der Prozess stattgefunden hatte, musste sie sich zwar bei der Beratungsstelle melden, aber da sie einen Ausbildungsplatz vorweisen konnte, brauchte sie keine weiteren Termine dort wahrnehmen.

Doch sie lernte nie, mit 10 Fingern zu schreiben…

Nach dem Unterricht ließ sie sich treiben; lief durch die Stadt. Im Unterricht kämpfte sie gegen die Gesichter der Mitschüler an, die sich in Fratzen verwandelten; auch wenn es nette Mitschüler waren; auch, wenn sie sie zu sich nach Hause einluden; dort, wo man Geborgenheit riechen konnte. Das rührte sie; machte sie melancholisch.

Auf ihren Streifzügen durch die Stadt betrat sie die Geschäfte, schaute sich um. Und ehe sie sich versah, kundschaftete sie die Sicherheitsbedingungen in den Läden aus.  Ihr Herz begann dabei zu klopfen und sie fühlte sich ganz wach; ein Plan begann sich in ihrem Kopf zu formieren; Aufregung ergriff sie; keiner merkte ihr etwas an; nach außen hin wirkte sie unauffällig, das wusste sie. Sie sah ein schönes Kleid, roch an einem Parfum, blieb in der Elektroabteilung bei den Kopfhörern stehen, probierte einen Ring an. Und sie wusste, dass sie diese Grenze überschreiten konnte, dass sie alle Begrenzungen aufheben konnte; sie hatte es schon oft getan, sie war schlau. Die Konzentration in ihrem Gehirn nahm zu; sie kam nach und nach in eine absolute Alarmbereitschaft; jedes Geräusch, jede Empfindung wurde noch intensiver; es war aufregend.

Es kam der Moment, in dem sie sich für ein Beutestück entschieden hatte, alles war klar, alle Details erfasst; die anderen Menschen, die Kameras, die Entfernung bis zum Regal, der Weg auf die Straße, das Etikett an der Ware…Und dann kam ein Moment der Ruhe und der Gewissheit; und alles ging automatisch, wie von selbst mit einem unbemerkten fast zufälligen Griff, einer langsamen Abwendung vom Regal; dann ein in der Menschenmasse schlenderndes Gehen zum Ausgang, ein Interesse heuchelndes Stehenbleiben an einem anderen Stand; ein kurzes Checken ob irgendjemand sie anschaute, ein Schnuppern in die Luft, ein Antennen aufstellen, um eine mögliche Gefahr aufzuspüren; dann der Weg zum Ausgang, die letzten paar Schritte; die Versuchung, nicht hinaus zu gehen, ein kurz aufflammendes Verlangen zurück zu gehen, alles rückgängig zu machen, eine Anspannung, kaum erträglich, bis in die letzte Zelle des Körpers hinein; und dann der endgültige Schritt hinaus auf die Straße; ein letztes kleines Aufflackern von Zweifel, ob ihr nicht vielleicht doch jemand gefolgt war; allerdings viel zu klein, bereits überschwemmt von dem Gefühl des Triumphs, welches mit jedem Schritt größer wurde, unfassbar groß, orgiastisch, die beste Droge überhaupt; sie hatte es geschafft; mal wieder, und keiner hatte eine Ahnung, und sie fühlte sich stark und unfassbar frei, für einen Moment hatten sich alle Grenzen aufgelöst und alles im Leben war möglich.

Und die in der WG hatten keine Ahnung. Sie würde später ruhig mit ihnen am Tisch sitzen, sich an einem dieser endlos-Gespräche beteiligen, nach kurzer Zeit gelangweilt, aber nach außen Interesse heuchelnd. In Wirklichkeit aber würde sie sich noch einmal ihren Raubzug am Nachmittag in Erinnerung rufen; bis hin zu dem Triumph. Und der Triumph war stärker als jedes Gefühl von Langeweile, von Ohnmacht.  

Jeder heimliche Raubzug schien ihr zu helfen, in der Welt zu funktionieren, die Sprachschule zu besuchen, eine gute Schülerin zu sein, in der WG ruhig mit am Tisch zu sitzen, zu lachen.

Sie brauchte auch keine nette Sozialarbeiterin, die sie vor Gericht verteidigte und Kindheitserinnerungen aus ihrem Leben hervor zerrte. Und sowieso gab es diese Sozialarbeiterin nicht mehr, dieses Verständnis, diesen Einsatz. Sie wollte nicht über Kindheitserlebnisse nachdenken, sich an nichts erinnern; sie musste vorsichtig sein. Die Gedanken, die Erinnerung an die Sozialarbeiterin waren gefährlich.

Manchmal, wenn sie alleine war, wenn sie mit dem Zug zu ihrer Mutter zu Besuch fuhr und auf die vorbeifliegende Landschaft sah, da kamen ihr solche Gedanken; Erinnerungen an die Worte der Sozialarbeiterin im Prozess; aber irgendwie war die Erinnerung verzerrt, die Worte unklar, die Zusammenhänge diffus. Manchmal wollte sie sich genau erinnern, aber es gelang ihr nicht, den Sinn der Worte zusammen zu bekommen. Dann ließ sie die Gedanken fliegen, so wie die Häuser, Straßen und Landschaften vor dem Zugfenster vorbeiflogen. Und sie gab sich ganz einem erlösenden Fatalismus hin, der sich tröstend um sie legte.

Die Mutter konnte nicht sprechen, das hatte sie nie gekonnt. Sie gehörte einer Generation an, die ihr Glück im Aufatmen nach dem Krieg gesucht hatte, im Besitz des ersten Telefons, Fernsehers, der ersten Waschmaschine. Worte als Ausdruck eigener emotionaler Bedürfnisse hatte es in der Familie kaum gegeben. Die Rettung bestand in stummer Tatkraft, in der Hinwendung zu einem materiell gesicherten Leben. Die Tochter wusste das. Sie sah es in dem Blick der Mutter, der manchmal stumm ins Unendliche starrte. Für die Mutter war es zu spät; sie würde diese Worte nie mehr lernen. Die Tochter war sich sicher, dass die Mutter gerne Worte gefunden hätte. Aber es gab Dinge, die änderten sich nicht mehr.

Eines Tages erhielt sie einen Brief mit der Einladung zu einem Termin in der Heimatstadt, zu einem Nachgespräch bei Frau Anjo, der Sozialarbeiterin. Sie setzte sich in den Zug, ließ die Landschaft an sich vorbeifliegen. Sie fühlte sich erschöpft.

Frau Anjo empfing sie mit einem Lächeln und einer Vertrautheit, die bei dem Mädchen einen Kloß im Hals erzeugte. Schon nach der ersten Frage „Wie ist es Ihnen ergangen?“, liefen dem Mädchen lautlose Tränen die Wangen hinunter. Sie konnte es sich selbst nicht erklären, erst viele Jahre später verstand sie es. Sie hob ihre Hand mit dem schönen Ring am Finger der Sozialarbeiterin entgegen: „Den habe ich gestohlen“, und sie berichtete von ihren Raubzügen und ihrer Hoffnungslosigkeit, die nicht verschwinden wollte. Und Frau Anjo hörte ihr zu.

 

3 Jahre später:

 

Liebe Frau Anjo,

ich schreibe Ihnen diesen Brief, weil ich mich bei Ihnen bedanken möchte. Sie haben mich nicht angezeigt, sondern mir das Versprechen abgenommen, die Therapie zu beginnen und mich der Vergangenheit zu stellen…