Von Andreas Perner

Leonhard ging zur Tür.

„Seit wann läuten sie, Mr. Hicks? Sie haben doch noch nie geläutet!“

„War gestern schon ein paar Mal da, Leo. Den Tag vorher auch.“

„Mhm.“, machte Leo.

„Wo ist denn dein alter Herr?“

„Im Krankenhaus, Mr. Hicks. Seine… Lunge… glaub ich.“

Mr. Hicks sah in an. Spuckte dann auf das Pflaster.

„Soso.“, sagte er.

„Ja.“

„Welches denn?“

„Was?“

„Welches Krankenhaus?“

Leo dachte nach. Er kannte nur eines, wusste nicht einmal, dass es mehrere gab.

„Na… im Krankenhaus eben.“

„Was Ernstes?“

Leonhard dachte daran, wie er seinen Vater in das Loch gehievt hatte. Sein Vater war nur Knochen und Haut, aber es hatte sich angefühlt, als ob der alte Drecksack noch kurz davor einen Elefanten gegessen hatte. Vielleicht lag es aber nur an der Hitze. Sein Schweiß war ihn aus allen Poren geperlt und tropfte vom Kinn und Nase hinab ins Loch. Auf das Gesicht seines Vaters. Dieses Gesicht war bleich und verkrampft. Es kam ihm irgendwie verschoben vor. Verzerrt. Der Mund war offen…

„Ja! Ernst. Sehr!“

„Könnt´ ihn mal besuchen.“

„Ja?“ Es war mehr eine Frage, als eine Antwort. Unsicher.

„Wenn´s ihm besser geht, meine ich. Richt´ ihm das aus! Das ich komme.“

Leonhard nickte und Mr. Hicks ging.

 

Leonhard war im Schuppen und hörte das Knacken. Ein lauter kurzer Klick. Er drehte das Radio leiser. Nichts! Dann aus. Nichts! Leonhard ging nach draußen. Instinktiv sah er zu der Stelle, an der er vorgestern seinen Vater vergraben hatte. Es war eine Schufterei gewesen. Die lockere Erde wich gleich fester. Steine, echt große Steine, kamen immer wieder zum Vorschein und brachten ihn an den Rand der Verzweiflung. Aber er schaffte es. Sein Loch wurde richtig tief. Als er das Loch wieder zugeschaufelt hatte, türmte er die Steine zu einem Haufen auf. Ein Steingarten dachte er, ich wollte sowieso einen Steingarten, jetzt habe ich einen.

 

Mr. Hicks stemmte einen Stein nach dem Anderen vom Haufen. Sie lagen rund um ihn herum. Die Steine mussten diesen Klicklaut gemacht haben.

„Mr. Hicks! Was machen sie da?“

Mr. Hicks sah kurz auf, wie beiläufig, und stieß dann den letzten der Steine mit seinem Fuß zur Seite.

„Mr. Hicks!“

„Ich bin nicht blöd Junge! Ich weiß, dass da dein Vater liegt. Siehst du das?“

Er hielt eine Schaufel hoch.

„Ich grab´ da jetzt und nichts und niemand kann mich davon abhalten!“

Er rammte die Schaufel in den Boden.

„Ha!“, schrie er. „Weich! Der Boden ist weich!“

Er murmelte vor sich hin. Leonhard konnte nichts verstehen.

„Lassen sie das Mr. Hicks! Mein Vater ist im Krankenhaus! Ich sagte es ihnen doch schon.“

„Wenn ein Krankenwagen gekommen wäre, hätte ich´s gesehen.“

„Er hatte einen Termin! Er ist mit dem Taxi…“

„Das hätte er mir gesagt! Ich hätte es eher gewusst als du! Bis ein guter Junge und hast viel mitgemacht mit deinem alten Herrn! Ich weiß das, aber er war mein Freund und ich kann ihn da nicht liegen lassen. So allein.“

Leonhard ging in den Schuppen zurück. Er sah sich um. Der Spaten, die Mistgabel, die Axt, die Heckenschere… Die Axt! Er nahm sie von der Wand und stürmte hinaus.

Mr. Hicks war überrascht. Sein Blick zeigte es Leo. Er konnte gerade noch einen Arm nach oben heben um seinen Kopf zu schützen, ehe der erste Schlag tief in diesen Arm eindrang.

 

Leonhard wusste, dass irgendetwas ganz unglaublich schiefgegangen war. An Mr. Hicks hatte er nicht gedacht. Jetzt schien es ihn vollkommen logisch zu sein, dass Mr. Hicks Fragen gestellt hatte. Sein Vater und er waren beinahe jeden Tag in der Küche und tranken und quatschten oder lehnten  im Wohnzimmer auf der Couch und tranken und sahen fern.

Mrs. Hicks fiel ihm ein! Wenn ihr Mann nicht zurückkam… Sie würde irgendwann die Bullen rufen, oder herüber schauen. Nicht bald, nein, aber irgendwann.

 

Ihr Mann hatte kürzlich erwähnt, dass drüben bei den Nachbarn etwas nicht stimmte. Ganz und gar nicht stimmte.

Eigentlich hatte dort drüben noch nie etwas gestimmt. Leo war nicht ganz richtig im Kopf und sein Vater war ein perverses Dreckschwein.

Ihr Mann lungerte die meiste Zeit des lieben, langen Tages drüben herum. Was ihr Recht war. Wenn er drüben war, war er nicht hier.

So wie jetzt. Er stand am Fenster und starrte seit einer Stunde aus dem Fenster, auf das zugemüllten Grundstück der Nachbarn hinüber.

„Er ist doch im Krankenhaus.“, sagte sie. „Oder? Der kommt schon wieder.“ Oder auch nicht, dachte sie.

„Leo hat das gesagt. Im Krankenhaus. Aber das stimmt nicht. Er lügt.“, hatte ihr Mann geantwortet.

Dann ging er hinaus. Sie sah durch das Fenster, wie er aus dem Schuppen eine Schaufel holte und fragte sich was zum Teufel er damit vorhatte, doch dann schenkte sie sich eine extragroße Portion ihres Hausfrauentrösters ein und trank und tat das, was sie wirklich gut konnte: Sie verdrängte…  die kurze aber deutliche Ahnung, dass ihr Mann ausnahmsweise einmal Recht haben könnte.

 

Mrs. Hicks war in der Küche. Sie roch nach Fusel.

Sie hörte, wie Leonhard eintrat und sah ihn direkt an, sah in seine großen, unschuldigen Augen.

„Was geht da vor bei dir drüben?“

Leonhard sagte nichts. Stand da, die eine Hand hinter dem Rücken.

„Ich kenne dich seit deiner Geburt, Leo. Ich habe deine Mutter gekannt. Ich hab geweint, als sie abgehauen ist. Nicht nur du hast geweint, ich auch.“

„Sie machen es mir schwer, Mrs. Hicks!“

„Du kannst nicht alle umbringen, Junge.“

„Sie wissen…?“

„War vielleicht auch nur geraten. Er kommt also nicht mehr?“

„Wer?“

„Mein Mann, du Dummkopf!“

„Äh…“

Mrs. Hicks setzte sich.

„Trink mit mir! Du bist jetzt ein Mann.“

„Leonhard schüttelte den Kopf.

„Nein, Mrs. Hicks.“

„Leg das weg! Das, was du da hinter deinem Rücken hast!“

Leo legte den Hammer auf den Tisch und setzte sich zu ihr.

„Mit einem Hammer wolltest du mich also umbringen?“

„In der Eile ist mir nicht besseres eingefallen.“

„Leo!“

Leonhard sah beschämt zu Boden.

„Und dann? Wie wäre es weiter gegangen?“

„Ich hätte sie zu den anderen gelegt. In das Loch!“

„Ich bin froh, dass du das gemacht hast… wofür ich nie den Mut hatte.“ Dann lachte sie. „Und so erleichtert! Dieser Mistkerl! Er war zu nichts nütze. Ein Versager!“ Sie nahm die Flasche und wollte sich nachschenken. „Leer.“, sagte sie und starrte die Flasche und die Tasse an. Es war eine Porzellantasse mit verwaschener, einst bunter Bemalung. Schwerfällig stand sie auf und ging zum Kühlschrank und nahm sich eine neue Flasche. Wirklich nichts?, fragte sie.

„Nein, Mrs. Hicks!“

Sie hantierte ungeschickt am Schraubverschluss. „Ich sollte eigentlich gekränkt sein, dass du mich mit denen in einem Grab…“

„An das habe ich nicht gedacht.“

„An Was?“

„Dass sie nicht mit ihrem Mann und meinem Vater im selben Grab sein wollen.“

„Du hast an vieles nicht gedacht!“

Leonhard nickte.

„Ging es schnell? Musste mein Versagerehemann leiden? Dieser alte Furtzer?“

Leonhard sah Mrs. Hicks an. Er wünschte, sie würde ihn das nicht fragen.

„Natürlich musste er das. Ich hab die Schreie gehört. Na? Wie hast du ihn erledigt? Ich habe mir manchmal vorgestellt, ich würde ihn mit einem Kissen ersticken. Als er so neben mir im Bett lag… Schnarchte wie ein Orkan… stank… nach Bier und Schnaps. Aber es hätte mir die Kraft gefehlt. Auch die körperliche. Verstehst du?“

Leonhard nickte wieder.

„Aber ich hab es mir oft vorgestellt. Also wie?“

„Mit der Axt. Aus dem Schuppen.“

„Gut!“ Sie hatte den Verschluss endlich ab und nahm einen Schluck aus der Flasche, dann ging sie zurück zum Tisch und füllte die Porzellantasse. „Gut gemacht, Junge!“

Sie zeigte auf ein Buch.

„Ich lese Kriminalromane. Ich weiß, was zu tun ist.“

Leonhard lächelte erleichtert.

„Als erstes müssen sie da weg! Im eigenen Garten! Wenn die Bullen suchen, dann da zuerst! Verstehst du Leo?“

„Ich glaub schon!“

„Dann eine gute Geschichte. Wo dein Vater ist. Das mit dem Krankenhaus ist Scheiße.“ Sie trank wieder. Ihre Stimme war laut.

„Die Bullen sollen gar nicht erst suchen. Das ist der Trick! Wir könnten die Beiden auf Reise schicken! Was meinst du? Auf eine Reise, von der sie nicht mehr zurückkehren.“ Sie lachte schrill. „Ach Leo! Die kommen uns da drauf!“ Sie begann zu weinen.

„Sie haben doch gar nichts gemacht, Mrs. Hicks! Sie nicht! Ich war das!“

Sie weinte noch lauter, beinahe hysterisch. Dann fiel ihr Kopf auf den Küchentisch.

„Geh jetzt Leo! Und nimm deinen Hammer mit!“, murmelte sie leise.

Sie hörte die Tür ins Schloss fallen.

Die Welt ist besser geworden, dachte sie, dieser Dummkopf Leo hat sie ein Stück besser gemacht.

Dann schlief sie ein.