Von Marianne Apfelstedt

Hannelore schlägt die Augen auf, zuerst fällt ihr Blick auf das Fenster, wie in Watte gepackt huschen Bäume und Sträucher an ihrem Bildausschnitt vorbei. Es ruckelt und zuckelt, monotone Maschinenmusik. Die kahlen Äste greifen wie Finger aus der Dunkelheit, nur von vereinzelten Blättern verziert. Der Hauch von Farbe verliert sich, beim Übergang vom nebligen Tag zur dunklen Nacht. Mit weiterer Fahrt schwindet das Licht und der Tag verabschiedet sich. 

 

Genüsslich wie eine Katze räkelt sich Hannelore in ihrem Sitz. Hier ist es warm und gemütlich. Sie genießt den Luxus, dass Zugabteil nur für sich zu haben. Hannelore stellt die Schuhe unter die Sitzbank und legt die Füße auf die gegenüberliegende Bank. Die Nylons fühlen sich noch ungewohnt an. 

 

‚Jetzt werde ich mir meinen eigenen Weg suchen, weit weg von Hannover′, Vorfreude breitet sich in Hannelores Bauch aus, sie fühlt sich ängstlich und mutig zu gleich. 

 

Sie holt die Afri-Cola aus dem Seitenfach des roten Koffers und genießt die Süße der dunklen Limonade. Im Fenster sieht sie die Silhouette einer jungen Frau mit dunklem Haar und frisch geschnittenem Pixie Cut, wie ihr Idol Twiggy. Ihre Hand wandert in den Nacken und streicht über die ungewohnt freiliegende Haut.

 

‚Ob Dieter mich erkennen würde′?

 

Dieter geht mit forschen Schritten die Bismarck-Straße entlang, die Aktenmappe unter den rechten Arm geklemmt. Zu Hause muss er noch die letzten beiden Darlehnsverträge durchgehen, damit sie morgen Früh von seinem Vorgesetzten unterzeichnet werden. 

 

‚Mit der Provision für den Abschluss der Verträge, werde ich beim besten Juwelier der Stadt die Trauringe kaufen′, mit zufriedenem Gesichtsausdruck und kraftvollen Schritten entfernt sich Dieter vom Bankhaus.

 

Wie stolz er auf die Erscheinung seiner Verlobten ist. Seine Hanne, wie er sie gern nennt. Das walnussbraune Haar trägt sie meist zu einem Zopf geflochten. 

 

′Mir gefallen ihre blauen, oft ernst blickenden Augen die kühl, wie ein zugefrorener See blicken können. Mit der Zeit wird sie mir sicher den liebevollen Blick schenken, den ich verdiene.′

 

Spontan beschließt Dieter, noch bei Hannelore vorbeizuschauen, eigentlich wollten sie morgen zusammen zu Abend essen, doch ihm war jetzt nach einer Tasse Tee in ihrer Gesellschaft.

 

Sein Weg führt ihn an den Markthallen vorbei, dort herrscht auch um diese Zeit noch reges Treiben, beim Blumenstand entdeckt er rosa Nelken.

 

„Ich möchte einen Strauß Nelken für meine Verlobte“ Das Blumenbukett wird in raschelndes Papier gewickelt und Dieter übergeben.

 

‚Nelken, wie in den Sommern bei den Großeltern auf dem Land′, bei diesem Duft steigen Erinnerungen in Dieter auf, an Butterkuchen in der gemütlichen Wohnstube.

 

Die blauen Augen blicken jetzt auf ein Buch in ihrer Hand. Beim Öffnen nimmt sie den Duft von Papier und Farbe war, der Duft von unberührten Büchern. Im Gedichtband von Rose Ausländer blätternd, summt sie ihren Lieblings Song, No Milk Today, als der Zug in den Bahnhof von Isernhagen rollt.

 

Mit einem lauten Rumms öffnet sich die Abteiltür. Hannelore sieht sich genervt einer zierlichen Frau mit blonden, fast weißen Engelslöckchen gegenüber. Gefolgt vom braunen, klobigen Koffer, tritt die Fremde ins Abteil und pustet sich die Locken aus der Stirn.

 

„Ist hier vielleicht noch Platz? Wunderbar, vielen Dank!“

 

Nachdem der Koffer unter der Sitzbank verstaut ist, wird sie von ihrem Gegenüber neugierig inspiziert.

 

„Ich bin Claudia Hartmann und auf dem Weg nach Hamburg, dort werde ich im Hotel Reichshof arbeiten. Wohin fahren Sie?“

 

„Hannelore Götschke, mein Ziel ist ebenfalls Hamburg. Ich besuche meine Tante Ilse“, erklärt sie und nimmt demonstrativ ihre Lektüre zur Hand, als sie schon wieder von Claudias unterbrochen wird.

 

„Götschke ist ja ein eher seltener Name. Sind Sie mit dem Spirituosenhändler aus Hannover verwandt? Die Familie hat hier im Gasthof letztes Jahr die Verlobung der einzigen Tochter gefeiert. Der alte Herr Götschke war sehr großzügig mit dem Trinkgeld für die Bedienungen. Auf dieser Feier habe ich auch meine Gönnerin Ilse Hansen, geborene Götschke kennengelernt. Sie hat mir die neue Stelle vermittelt“, plaudert Claudia. 

 

Hannelore frägt ungläubig, „Sie kennen Tante Ilse? Dann haben wir uns auf dem Fest wohl gesehen. Ich war die Verlobte.“

‚Ihr kam die zierliche Frau gleich so bekannt vor, sie hatte bei der Verlobungsfeier bedient.’ 

 

Ilse hatte bleibenden Eindruck bei Hannelore hinterlassen. Nachdem ihr Ehemann vor drei Jahren an einem Herzleiden gestorben war, leitete sie das Kontor der Familie in Hamburg. Beim Abschied hatte Tante Ilse Hannelore ins Ohr geflüstert:

 

“Wenn’s dir zu eng wird in Hannover, dann kommst du zu mir nach Hamburg. Im Kontor gibt’s für einen klugen Kopf immer etwas zu tun.“

 

Diese Idee, dass seine Hanne nach Hamburg zu ihrer Tante Ilse fahren wollte, gefiel ihm gar nicht. 

 

‚Nicht zu diesem impertinenten Frauenzimmer! Die brachte seine Hanne nur auf dumme Gedanken. Es reichte schon, dass Ilse zur Verlobung ein Buch von Betty Friedan, dieser Feministin, verschenkt hatte.′

 

Die beiden Frauen waren längst beim vertrauten Du, als der Zug im Bahnhof von Ulzen Aufenthalt hatte. Hannelores Blick fiel auf ein Werbeplakat mit der Aufschrift „Eigentlich hat Sie es ja viel besser. Sie darf Backen!“ von Dr. Oetkers. 

 

„Schau mal Claudia, was für ein Unsinn! Ich kann nicht mal backen. Zumindest sollte keiner essen müssen, was ich gebacken habe,“ witzelte Hannelore.

 

Fröhliches Lachen klang aus dem Abteil der Beiden, als der Zug den Bahnhof wieder verließ. Es verband sie nicht nur die gemeinsame Fahrt im Zug nach Hamburg, beide wollten die letzten Stationen ihres Lebens hinter sich lassen und einen Neuanfang wagen.

 

Weiter ging die Reise an unendlich weiten Heidefelder vorbei. Hannelore erzählte Claudia von der überraschenden Krankheit ihres Vaters.

 

„Vor Vaters Krankheit sind wir sonntags in der Heide gewandert. Erst die letzten Jahre vor seinem viel zu frühen Tod mussten wir auf diese geliebten Sonntagsausflüge verzichten. Seit seinem ersten Anfallsleiden konnte Hermann keine weiten Stecken mehr bewältigen.“ Traurig sieht Hannelore aus dem Fenster in die Dunkelheit.

 

„Es tut mir sehr leid, dass dein Vater verstorben ist. Fährst du deshalb zu deiner Tante?“, möchte Claudia wissen. 

 

Das Anfallsleiden von Hermann Götschke war wirklich ein Glücksfall für Dieter. Ganz liebender Vater war es Hermann wichtig gewesen, sein einziges Kind, Hannelore, gut versorgt zu wissen. Ein aufstrebender Bankangestellter wie er, war ein passender Schwiegersohn für das Spirituosen Kontor Götschke. Er und Hermann waren sich schnell einig geworden über die Verlobung und anschließende Hochzeit. Leider war Hermann im Herbst unerwartet verstorben, deshalb war er immer noch nicht mit Hannelore verheiratet, obwohl das Verlobungsjahr schon verstrichen war.

 

„Kurz nach Vaters erstem Anfall, drängte er mich den Antrag von Dieter Brückert endlich anzunehmen. Alles Sträuben half nicht. Die Verlobung wurde einfach über mich hinweg bestimmt.“

 

Schon beim Gedanken, wie beide Männer immer über, anstatt mit ihr geredet hatten, kam die Wut wieder hoch. Ärgerlich erzählte Hannelore weiter.

 

„Als ich erst mal den Verlobungsring am Finger hatte, drängte sich Dieter immer mehr in mein Leben. Er kam dreimal in der Woche zum Abendessen ins Haus und meldete mich zum Kurs die glückliche Hausfrau an“, entrüstet blickte Hannelore Claudia in die Augen.

 

Aber statt Mitleid, wie sie erwartet hatte, hielt sich Claudia prustend die Hand vor den Mund:

„Bestimmt hat er dir auch noch eine Schürze und ein Häubchen geschenkt“, gluckste Claudia.

 

Ihr herzhaftes Lachen war so ansteckend, dass Hannelore mitlachte, bis ihr die Lachtränen aus den Augen kullerten. 

 

Sie hatte sich so oft im Stillen über Dieter geärgert, egal ob es um die Namen der Söhne ging die sie gebären sollte, oder um die Renovierung ihres Elternhauses. Ihre Meinung zur gemeinsamen Zukunft war nicht gefragt. Dieter fand stenographieren und Fremdsprachen unnötig, seine Ehefrau sollte eine gute Hausfrau werden. 

 

Nur um Dieter zu ärgern, hatte sie begonnen zu Rauchen. Seitdem versucht er seltener sie zu küssen. 

 

Heute musste endlich der Termin für die Hochzeit festgelegt werden. Er bog in die Kaiser-Wilhelm-Straße ein und sah das große Haus am Ende der Straße.  Im ersten Stock war Platz für ein großes Elternschlafzimmer mit Ankleideraum und zwei, nein besser noch drei Kinderzimmern. Ihr erstes Kind, ein Sohn, sollte Hannes getauft werden, wie sein Großvater. 

 

‚Hanne versteht noch nicht so viel davon wie ein großer Haushalt geführt werden musste. Na ja, fürs erste konnte ja eine Hausdame eingestellt werden, die sich um das Personal kümmerte. Geld war genügend da, zum Glück hatte sein Schwiegervater sein ganzes Vermögen seiner Tochter und ihren Nachkommen vermacht.′

Gut, dass Vater kurz vor seinem Tod bestimmt hatte, dass sie eine monatliche Auszahlung vom Erbe erhalten sollte, bis sie mündig war. Jetzt sehnte sie den nächsten Geburtstag im Dezember herbei. Jede Mark hatte sie gespart, um nicht als Bittstellerin bei Tante Ilse anzukommen.

 

„Im letzten Brief aus Hamburg versprach Ilse, mich am Bahnhof abzuholen. Ich werde bei ihr am Potsdamer Platz wohnen, du musst uns unbedingt besuchen komme!“

 

Dieter war am Ende der Straße angekommen, strich sich mit der Hand das Graue Haar glatt und drückte auf die Klingel. Tessa, das Dienstmädchen, öffnet die Tür und sieht ihn unfreundlich an. 

 

„Sie brauchen mich nicht erst zu melden. Ich möchte Hanne überraschen. Holen Sie schon mal eine Vase für die Blumen“, er drückt dem Mädchen den Strauß an die Brust.

 

„Tut mir leid, Fräulein Götschke ist heute Vormittag verreist.“

 

Tessa gibt ihm den Strauß Blumen zurück. 

 

„Moment bitte. Ich soll Ihnen noch etwas geben“, sie reicht ihm ein Kuvert und schließt die massive Eingangstür.

 

Der Briefumschlag ist leicht wie eine Feder, mit einer Erhebung in der Mitte. Auf der Vorderseite steht mit schwarzer Tinte in schwungvollen Buchstaben

„Dieter Brückert“.

 

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