Von Hubertus Heidloff

Wieder einmal war ein Gewitter über das Land gezogen. Es hatte geblitzt und gedonnert und das kleine Städtchen immer wieder für einige Sekunden in einen wundersamen Zauberzustand gekleidet. Auch bei den beiden jungen Leuten, die im höchsten Gebäude des Ortes in der vierten Etage wohnten, hatte es gekracht.

Fangen wir aber von vorne an.

 

Jan und Rita sind schon seit sechs Jahren zusammen, ohne Trauschein, so wie es ja heute vielfach gehandhabt wird. In dieser Zeit hatte es immer wieder mehr oder weniger heftige Auseinandersetzungen gegeben. In den letzten Wochen  ging es vorwiegend um die Frage der Erziehung des gemeinsamen vier Jahre alten Kindes, um eine sinnvolle Ernährung oder um politische Themen wie Arbeitsplätze, Pflege, Angehörige, Wohnung.

 

Ich, als der im dritten Stock wohnende, musste den Eindruck haben, die gesamte Bandbreite an Themen würde schallplattenartig wiederholt.

 

Obwohl wegen der drohenden Regenfälle die Fenster aller Wohnungen verschlossen sind, gelingt es mir bei geöffneter Flurtür, einige Gesprächsfetzen aufzufangen.

Na ja, das gehört sich nicht, aber die vorher gefallenen Wortfragmente, haben mich sehr neugierig gemacht. Sorge, Verantwortung, allein sein, nichts ändern, höre ich.

Daraus ergibt sich für mich ein klares Bild: Sie wirft ihm vor, sich nicht genug um sie zu kümmern.

 

 Wie schon viele Male zuvor verlässt der junge Mann schon recht früh die Wohnung. Mit dem Bus, der nur wenige Meter neben unserem Haus anhält, fährt er in die größere Nachbarstadt und kommt erst spät abends wieder zurück. Seine Freundin kümmert sich um das Kind, bringt es in den Kindergarten und holt es ab. Am Nachmittag gehen die beiden los zum Spielplatz oder zum Einkauf. Sie lachen viel.

Die Vermutung liegt nahe, dass er einen neuen Arbeitsplatz gefunden hat. Aber wo kann er bis spät abends arbeiten? Die Überlegungen der anderen Hausbewohner stimmen überein, dass eine andere Frau im Spiel ist. Zuviel deutet darauf hin.

Sein langes Wegbleiben kann nur so gesehen werden, zumal in der Wohnung der beiden häufiger laut gesprochen wird.

 

Jan besucht tatsächlich eine andere Frau, nachdem er seine Arbeit bei einer Immobilienfirma erledigt hat. Liebevoll schiebt er sie mit ihrem Rollstuhl durch den Park. Oftmals bittet sie ihn, er möge doch einmal anhalten.

„Hörst du das auch, wie sich die Eichhörnchen streiten? Da geht es wohl wieder mal darum, den besten Platz zu bekommen.“

Um sie weiterhin am Sprechen zu halten, antwortet er: „Was ist der beste Platz?“

Ohne zu antworten, möchte sie weiter geschoben werden. Am Brunnen ist der nächste Haltepunkt.

„Weißt du noch wie ich früher getanzt habe? Du warst so begeistert!“

Jan weist darauf hin, dass er damals noch gar nicht geboren war. Sie korrigiert ihn: „Das ist ja auch gar nicht schlimm! Hauptsache, dir hat es gefallen!“

„Wo ist eigentlich mein Tanzkleid?“ „Wir werden es suchen, wenn wir zurück sind!“

„Schön, dass du es gefunden hast!“

Sie kommen an ihre Lieblingsbank. Heute sitzt ein älterer Herr bereits darauf. Aber für Jan und die ältere Dame ist noch genügend Platz darauf. Sie spricht den Mann an: „Kommen Sie auch aus der Nachbarstadt? Wie heißt sie noch, Jan?“ Jan nennt ihr den Namen der Stadt: Grenzau. Der Mann verneint. Er beginnt zu erzählen, von seiner Zeit als Reporter der Lokalzeitung.

„Dann kennen sie ja auch die alte Brücke, welche hinüberführt zum Schloss. Da habe ich ganz viel gesessen und mir den Regenbogen angeschaut. Wissen Sie, dass der Regenbogen die kürzeste Verbindung zum Schloss darstellt?“ Erwartungsvoll schaut sie ihn mit großen Augen an. Ihr Mund ist leicht geöffnet, so als wolle sie sofort weiter sprechen. Jan hat dem Mann mit Zeichen zu verstehen gegeben, dass er einfach antworten soll. „Ich kenne das Schloss sehr gut“, geht er auf die Frage der alten Dame ein.

Sie erzählt weiter: „Wissen Sie, der Regenbogen kommt nur, wenn man ihn ruft. Aber das darf nicht zu leise sein und auch nicht zu laut und auch nicht als Befehl. Dann reagiert er nicht. Ich hatte genau die passende Stimme.“

„Dann kann ich Ihnen ja nur gratulieren!“

„Mit meinem Mann habe ich oft auf ihm gesessen und habe ihn gestreichelt. Das mochte der Regenbogen besonders gern. Wissen Sie, auch zu Menschen muss man immer lieb sein.“

Jan möchte zurück zum Heim. Sie wehrt sich. Ihre Augen glänzen, die Haut scheint sich zu straffen, der Mund lacht. Ihre Hände erzählen mit. So hat Jan seine Großmutter schon lange nicht mehr erlebt.

„Am schönsten war es, wenn ich auf dem Regenbogen gerutscht bin. Dann hat er gewackelt und ich bin heruntergefallen. Fragen Sie mal meinen Mann hier. Der hat mich immer dabei ausgelacht.“

Erneut drängt Jan zum Aufbruch. Als die beiden schon einige Meter von der Bank entfernt sind, versucht sie sich  umzudrehen und ruft: „Nächstes Mal werde ich es schaffen, bis zum Ende zu rutschen!“

 

Als Jan an diesem Abend nach Hause kommt, spricht er mit Rita über einen Umzug seiner Großmutter in ein anderes Heim mit besserer Pflege. „Ich habe heute Morgen ein solches Haus gefunden. Das ist nicht so weit weg. Es wird ihr gefallen!“

Es ist spät geworden. Dann kommt noch ein Anruf.

Zum ersten Mal seit langer Zeit fährt Jan am nächsten Morgen nicht weg.

Am darauf folgenden  Tag ist auf der letzten Seite der Zeitung in einer Anzeige zu lesen:

„Sie ist am Ende ihrer Regenbogenreise angekommen“.

 

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