Von Carola Hofmann

Ich bin in Irland aufgewachsen. In einem kleinen Ort in der Nähe von Galway. Schon als Kind wurden mir die alten irischen Sagen erzählt. Von Feen und Kobolden handelten sie, die mal gut und mal böse zu den Menschen waren. Auch von Hexen und Zauberern war die Rede gewesen. Besonders gern erzählte meine Oma diese Geschichten an kalten Herbstabenden, wenn der Wind über die Felder und durch die Wälder heulte und wir gemütlich im Wohnzimmer vor dem prasselnden Feuer am Kamin saßen. Oma kochte Kakao für uns Kinder und hatte meist ihren typischen Früchtekuchen gebacken, dessen Rezept sie noch von ihrer Oma bekommen hatte. An solchen Herbsttagen kam es auch schon mal vor, dass wir bis spät nachts da saßen und ihren Geschichten lauschten. Meist handelten sie von Feen und Kobolden, aber auch Riesen kamen gelegentlich vor. Wenn wir nicht aufpassten und Oma darauf hinwiesen, konnte es auch schon mal vorkommen, dass sie die Sagen zwar auf Englisch begann, aber dann mitten drin ins Gälische wechselte, der alten Sprache Irlands, die damals nur noch von wenigen Menschen gesprochen wurde, heute jedoch wieder an Schulen unterrichtet wird. Und jedes Mal, wenn wir Großmutter darauf aufmerksam machten, sagte sie:

 

„Tir gan anam i tir gan teanga. Ein Land ohne Sprache ist ein Land ohne Seele.“

 

Damals wusste ich es noch nicht, ich dachte, das wäre eine von Omas vielen Weisheiten mit denen sie uns fütterte, aber auch dies ist eine alte irische Redewendung. Von denen hatte unsere Oma zu jeder Lebenslage einige parat und verteilte sie auch sehr großzügig. Von Oma lernte ich viel über die alten irischen Legenden und Sagen. Und während ich als Kind an Feen und Einhörner und Kobolde glaubte, verlor sich dieser Glaube im Laufe des Lebens. Man wird älter und lernt rationaler zu denken. 

 

Letztens ging ich auf einem kleinen Handwerkermarkt bummeln und fand dort einen Stand, der Feentüren verkaufte. Und mit einem Mal waren die alten Erinnerungen wieder da. Ich blieb lange vor diesem Stand stehen und schaute mir die kleinen Türchen genau an. Ein Motiv fiel mir dabei besonders ins Auge: Eine schlichte Tür, mit einem kleinen  Regenbogen. Ich kann mich auch noch genau an die Feentüren in Omas kleinem Häuschen erinnern. In der Küche, im Wohnzimmer und im Schlafzimmer hatte sie die kleinen Türchen angebracht und uns erklärt, dass hinter jeder dieser kleinen Türen eine Fee wohnt, die auf die Bewohner aufpasst und Glück bringt und sich auch die Sorgen und Nöte ihrer Bewohner anhört. 

 

Als ich nun die kleine Feentür sah, fiel ich augenblicklich in die Vergangenheit zurück. Ich konnte mich gerade noch auf einer Wiese hinsetzen, als es mich gedanklich hinfort spülte. Fort an einen eisigen Winterabend in meiner Kindheit. 

 

Es hatte geschneit, der Weg und der Garten vor Omas Häuschen war mit einer Schicht weißen Pulverschnees bedeckt und auch der Hafen des kleinen Städtchens lag ruhig und still da. Man hörte nur die Fischkutter leise klappern, wenn sie mit dem Bug an den Kai schlugen. Eine einsame Katze sah ich vorbei huschen, als ich damals aus dem Fenster sah, an dem einige Eiszapfen hingen. Auf dem Fensterbrett lag der Schnee. Drinnen in Omas Wohnzimmer prasselte ein herrlich warmes Feuer im Kamin. Oma kam um die Ecke, trug in der einen Hand eine große Platte mit einem riesigen Früchtekuchen und in der anderen Hand eine große Kanne Kakao. Der süße Duft durchströmte das Wohnzimmer. Sie stellte beides in die Mitte des großen Esstisches und ließ sich in ihrem Ohrensessel nieder. Wir Kinder wussten was nun kommen würde: Oma würde uns wieder eine ihrer Geschichten erzählen. Mit Kuchen und Kakao hockten wir uns vor den Kamin und warteten gespannt auf die neueste Geschichte.

 

„Ach Kinder, hab ich euch eigentlich schon einmal die Geschichte von den Kobolden und den Regenbogen erzählt?“

 

„Nein, Oma noch nicht. Erzählst du sie uns bitte?“

 

Natürlich hatte uns die Oma im Laufe der Jahre schon einige Geschichten über Kobolde erzählt, und auch Regenbögen spielten gelegentlich eine Rolle. Aber irgendwie hatten wir das Gefühl, dass diese Geschichte anders werden würde als die bisherigen.

 

„Es war an einem trüben grauen Herbsttag. Die Jungen und Mädchen vom Dorf saßen wie jeden Freitag Abend bei der alten Dorfoma am Feuer in deren kleinen Kammer und lauschten den Geschichten, die sie über die alten Zeiten erzählte und in denen auch von Feen und Kobolden und Einhörnern die Rede waren. So erzählte sie auch von einer Sage, nach der die Kobolde am Ende eines jeden Regenbogens ein Töpfchen Gold vergraben würden. Die zwei Mädchen und drei Jungen waren natürlich gleich Feuer und Flamme und wollten beim nächsten Erscheinen des Regenbogens gleich los ziehen und das Ende aufsuchen. Ein bisschen Gold konnten sie alle gut gebrauchen, denn es waren harte Zeiten. Der Herbst war bereits sehr zeitig hereingebrochen und die Ernte in diesem Jahr durch einen Hagelschlag vernichtet. Ein klein wenig Gold würde ihren Familien helfen gut über den Winter zu kommen. 

 

So hielten sie nach jedem Regenbogen Ausschau. In Irland, wie ihr wisst, ist das ja nicht weiter schwierig, da kann es passieren, dass ihr innerhalb einer halben Stunde an drei verschiedenen Orten einen Regenbogen sehen könnt. Den ersten sahen sie gleich am nächsten Tag, jedoch konnten sie da nicht hinfort eilen, da sie im Haus und in der Scheune helfen mussten. So ging es einige Tage und im Stillen fragten sie sich schon, ob sie noch vor dem Wintereinbruch das Glück haben würden. 

 

Eines Mittwoch Nachmittags im Oktober war es soweit. Kaum dass sie den Regenbogen sahen, sausten sie auch schon mit einer kleinen Schaufel los. Hinterm Dorf den Hügel hoch, am Waldrand entlang und quer über die noch leuchtend grüne Wiese und kamen schließlich an einem kleinen Flüsschen an. 

 

‚Hier in der Nähe war es doch, oder nicht?‘

 

‚Ja, bestimmt dort unter dem Strauch, lasst uns da anfangen zu graben!’

 

Damit begannen sie zu graben. Mal hier und mal da schaufelten sie kleine Löcher, konnten den kleinen Schatz jedoch nicht finden.

 

‚Vielleicht haben wir am Anfang des Regenbogens gesucht und nicht am Ende?‘

 

‚Woher wissen wir eigentlich, was der Anfang und was das Ende ist?‘

 

‚Ich weiß es nicht. Lasst es uns beim nächsten Regenbogen einfach noch einmal versuchen.‘

 

Die anderen stimmten zu und so machten sie sich auf den Heimweg. Im Laufe der nächsten Tage hatten sie noch mehrmals Gelegenheit und zogen meistens zusammen los. Schließlich gewöhnten sie sich sogar an, überall wo sie hingingen, eine Schaufel bei sich zu tragen, für den Fall, dass sie einen Regenbogen sahen und gleich los laufen konnten. 

 

Durch die häufigen Streifzüge in die Umgebung lernten sie die umliegenden Ortschaften, Wälder, Wiesen und Flüsse noch besser kennen. Und auch untereinander veränderte sich etwas. Hatten sie sich früher nur bei der Dorfoma getroffen um den Geschichten zu lauschen und waren danach wieder nach Hause gegangen, so unterhielten sie sich jetzt, und lernten die anderen kennen. Natürlich kannten sie sich auch schon von der gemeinsamen Dorfschule, aber diese gemeinsam erlebten Abenteuer verbanden sie untereinander mehr als alles andere. So entstanden Freundschaften. 

 

Eines Tages sausten sie wieder los, diesmal aber nur ein Junge und ein Mädchen, die anderen konnten nicht mitkommen, da sie auf dem Hof der Eltern gebraucht wurden. Die anderen beiden stapften über die Wiese, die noch ganz aufgeweicht war vom Regen. Schließlich kamen sie an einem kleinen Teich an, den ein Bach von irgendwo her speiste. Die Sonne schien wieder, der modrige Geruch von Herbst lag in der Luft. Da nahm der Junge seinen ganzen Mut zusammen und sagte zu dem Mädchen:

 

‚Du, selbst wenn wir das Töpfchen Gold nicht finden sollten, haben wir doch wenigstens uns gefunden, oder nicht? Ich finde das sehr schön.’

 

Das Mädchen errötete leicht, freute sich jedoch sehr über das vorsichtige Geständnis des Jungen. 

 

‚Ja, da hast du recht. Und ich freue mich auch darüber.’

 

Sie strahlte ihn jetzt mit ihren schönen braunen Augen an. Und von diesem Moment an waren die beiden unzertrennlich. Ein Töpfchen Gold hatten sie zwar nicht am Ende des Regenbogens gefunden, aber dafür das Glück.“

 

„Sag mal, Oma, kanntest du das Mädchen und den Jungen?“

 

„Klar, das waren der Opa und ich.“

 

Diese Geschichte kam mir plötzlich wieder in den Sinn, als ich an der Marktbude stand und mein Blick auf die Feentür mit dem Regenbogen fiel. Es war die einzige Geschichte, die einen persönlichen Hintergrund hatte, alle anderen waren irische Legenden und Sagen oder handelten von Personen die wir nicht kannten. Leider hatten wir den Opa nicht mehr kennenlernen können. 

 

Ich kaufte die Feentür und ging mit einem Gefühl unendlicher Zufriedenheit nach Hause.