Von Regina W. Egger
Mein winziges Elternhaus war stets überbevölkert. Kurz nach dem Krieg erbaut, mit dem traditionellen steilen Walmdach, hatte es eine Grundfläche von knapp achtzig Quadratmetern. Es bot wenig Platz für die Eltern und meine drei Geschwister, zumal auch die Großmutter und die Tante eine Zeitlang in unserem Haus wohnten.
Meine zwei Brüder, älter als ich, hatten alsbald das Dachzimmer erobert und waren somit „weg vom Schuss“, hatten also einen Ort, an den sie vor den fortwährend erteilten Arbeitsaufträgen des strengen Vaters und den stets wechselnden Launen der überforderten Mutter flüchten konnten.
Ich aber konnte dieser Familie kaum entkommen und es gab stets eine Aufgabe, die erledigt werden musste, sei es das Geschirr zu spülen, den Fußboden zu fegen, das Brennholz zu schlichten oder das Baby zu beaufsichtigen.
Immer wieder fielen mir diese Tätigkeiten zu, weil sich meine Brüder längst aus dem Staub gemacht hatten, und nicht einmal der Umstand, dass ich zum Zeitpunkt der folgenden Geschichte erst acht Jahre alt war, half mir aus der Misere.
Blenden wir also zurück in das Jahr 1969, wie ich heute weiß, eine Zeit weltpolitisch und gesellschaftlich einschneidender Ereignisse. Aber weder die Mondlandung noch der Vietnamkrieg oder der Nordirlandkonflikt, geschweige denn die Ermordung der Schauspielerin Sharon Tate durch die Manson Family bewegen mich in diesem Moment.
Obwohl eingeräumt werden könnte, dass – wie bei den Tate-Morden – Messer und Familie auch für mich in diesem Augenblick eine Rolle spielen.
Ich stehe nämlich auf einem Schemel, die Hände tief in die trübe Abwaschlauge versenkt und bin auf der Suche nach einem Tafelmesser. Es müssen insgesamt fünf sein, aber bislang habe ich erst vier abgewaschen und zum Trocknen auf das Geschirrtuch gelegt. Alles, was ich seither aus den Tiefen des Beckens ans Tageslicht fördern konnte, ist ein Kochlöffel, ein Teesieb und ein aufgeweichter Zwiebelring.
Während ich meine runzligen Finger betrachte, sinne ich nach Möglichkeiten und Auswegen, um meinen häuslichen Pflichten zu entkommen. Ich habe schon einiges ausprobiert, aber nichts erwies sich als nachhaltig erfolgversprechend.
Am Vortag zum Beispiel versteckte ich mich im Lichtschacht neben dem Kellerfenster. Aber die Mutter fand mich ziemlich rasch und zog mich unsanft heraus. An der rissigen Betonwand schürfte ich mir zu allem Überfluss auch noch die Knie auf.
In der Vorwoche hatte ich versucht, eine Krankheit vorzutäuschen. Das ging leider nur so lange gut, bis meine Mutter die Ursache für meine Fieberschübe entdeckte. Ich hatte das Thermometer in den warmen Tee gesteckt, um die Quecksilbersäule hinaufzutreiben, und mir mit dieser List immerhin für drei Tage eine Schonzeit verschafft. Aber der Schwindel flog auf, ich erntete eine Ohrfeige und noch mehr Aufträge als zuvor.
Mit dem Kochlöffel rühre ich gedankenverloren in der schmutzigen Lauge und betrachte dabei das kleine Holztäfelchen, das über dem Herd angebracht ist.
Es handelt sich um ein Souvenir aus jenem Luftkurort, in dem meine Tante im Sommer auf Erholung war. Mit feinen Pinselstrichen ist auf den hölzernen Untergrund eine brennende Kerze und folgender Spruch gemalt: „Immer, wenn du glaubst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.“
Eine Zeitlang beschäftigt mich der Ausdruck „Luftkurort“ und ich denke daran, dass auch ich dringend eine Luftveränderung brauche.
Dann lese ich den Vers immer wieder, zweifle aber an seinem Wahrheitsgehalt, denn meine Erfahrungen haben mich etwas anderes gelehrt.
Um mir ein wenig Abwechslung zu verschaffen, schließe ich beim Lesen einmal das rechte, dann das linke Auge. Dann versuche ich den Satz und die Worte von hinten zu buchstabieren: „reh nielthciL nie owdnegri nov tmmok, rhem thcin theg se tsbualg ud nnew, remmI“ Es kostet mich einige Anstrengung und eine Zeitlang nehmen mich die Worte reh, nie und remmi gefangen, weil sie im Gegensatz zu dem anderen Kauderwelsch Sinn ergeben. Ich beginne also, mir eine Geschichte zu erzählen, in der das Reh Remmi von seinen Geschwistern ständig gepiesackt und nie in Ruhe gelassen wird. Als es wegen einer kleinen Unartigkeit sogar von der Mutter gezwickt wird, läuft es in den Wald. Aber gerade als ich das Reh Remmi in Gedanken an eine verfallene Holzhütte gelangen lasse, betreten hinter mir Vater und Mutter die Küche.
„So sind sie, die Bauern! Kaum ist einer krank und verliert seine Arbeitskraft, ist er nichts mehr wert“, höre ich den Vater sagen.
„Sie haben die alte Kürbisch einfach auswaggoniert! Haben sie in die Keusche verfrachtet, und zuhause bauen sie jetzt schon den Hof um. Aus ihrer Kammer soll das neue Elternschlafzimmer werden. Die alte Frau ist noch nicht einmal kalt und schon krallen sie sich ihr Hab und Gut!“
Mein Vater klingt sehr aufgeregt, er hat es ja immer gewusst, die Bauern sind gierig und schicken ihre alten Verwandten, wenn sie keine Arbeitsleistung mehr erbringen können, ins Ausgedinge, wo sie ihr Gnadenbrot fristen. Wie oft ich das schon gehört habe! Auch der Spruch „Übergeben heißt nicht mehr leben!“ ist mir wohlbekannt.
Und dass mein Vater sogar das Wort „auswaggonieren“, gebraucht, ist – wie ich heute weiß – ein Zeichen höchster Empörung, achtet er als alter Sozi doch sonst sehr darauf, nie in den Nazijargon zu verfallen.
„Ja, aber, irgendjemand muss der Alten doch etwas zum Essen und zum Trinken bringen! Sie ist ja bettlägerig!“, höre ich nun auch die Mutter.
Ich betrachte wieder das Holztäfelchen über dem Herd und auf einmal ist mir, als würde die Kerze zu leuchten beginnen. Langsam drehe ich mich um und schaue meinem Vater in die Augen. Der Umstand, dass ich auf dem Schemel stehend größer als sonst bin und mich mit ihm fast auf Augenhöhe befinde, verleiht mir Courage.
„Aber ich könnte doch auf die alte Kürbisch schauen!“
Habe ich das wirklich gesagt? Mein Herz klopft bis zum Hals, denn normalerweise ist es nicht erlaubt, sich ungefragt in Erwachsenengespräche einzumischen.
„Das möchtest du tun? Aber du weißt schon, dass sie im Sterben liegt…“ Die Verwunderung über meinen Vorschlag steht dem Vater ins Gesicht geschrieben.
Und dann kommt auch noch Unterstützung von einer Seite, von der ich es gar nicht erwartet hätte.
„Ach was, Karl! Noch lebt sie, und die Idee ist gar nicht schlecht! Ich könnte Milchreis oder Erdäpfelpüree kochen und Hagebuttentee in die Thermoskanne füllen. Und das Mariedl bringt ihr die Sachen“, sagt Mutter eifrig.
Der Vater nickt. Er mag die alte Frau, denn sie hat uns Kindern oft Äpfel und manchmal auch ein Hühnerei geschenkt, und das hat er ihr nicht vergessen.
„Also gut“, murmelt er und nickt. Und weil vom Mittagessen noch Suppe übrig ist, wärmt sie die Mutter auf dem Ofen, befüllt damit die blecherne Milchkanne und schickt mich gleich los.
In der Keusche, die etwas abseits auf einem Hang hinter dem Hof der Familie Kürbisch liegt, hat früher der Rossknecht gehaust. Die winzige Hütte besteht aus einem einzigen Wohnraum, der Küche, Wohnstube und Schlafplatz in sich vereint. Unter dem kurzen Bett mit dem hohen Betthaupt steht der Nachttopf, den ich – wie die Mutter mir aufgetragen hat – gleich als erstes hinterm Haus auf dem Misthaufen ausleere.
Wieder zurück betrachte ich die alte Frau auf ihrem Krankenlager: sie ist fast bis zur Nasenspitze mit einer Tuchent zugedeckt. Ihr gelblich fahles Gesicht versinkt in drei aufeinander getürmten Kopfpolstern. Wie immer trägt sie auch im Bett ihr Kopftuch aus Blaudruck . Ich habe sie noch nie ohne dieses gesehen und kann sie mir auch nicht anders vorstellen. Auf dem Nachttisch steht ein Reindl, in dem noch Reste einer Mahlzeit erkennbar sind, wahrscheinlich Semmelschnitten in Milch eingeweicht. Also wollten sie sie doch nicht ganz verhungern lassen.
Ich schnappe mir das Reindl und wasche es draußen am Ziehbrunnen, so gut ich kann, dann fülle ich die mitgebrachte Suppe ein und versuche die alte Frau mit dem Löffel zu füttern. Das kann ich gut, denn ich muss schließlich auch dem Baby oft den Brei geben.
Die Alte lächelt mir mit ihrem zahnlosen Mund zu und isst recht tüchtig. Dann dreht sie sich auf die Seite und beginnt zu schnarchen.
Jetzt ist meine Zeit gekommen. Aus meiner Tasche ziehe ich das Jahrbuch des Buchklubs der Jugend! Nie kann ich es zuhause ungestört lesen, aber hier unterbricht mich keine keifende Mutter und kein schreiendes Baby. Ich versenke mich also in die Welt der Drei Stanisläuse, hocke mich zur Omama in den Apfelbaum und reite mit der Kleinen Hexe und dem Raben Abraxas zur Walpurgisnacht. In meinem selbstgewählten Exil befinde ich mich im Paradies!
Und so geht es drei Wochen lang. Gleich nach der Schule ziehe ich mit meiner Milchkanne los, versorge erst die alte Frau und kann dann nach Herzenslust lesen.
Einmal kommt der Pfarrer, um ihr die letzte Ölung zu geben, aber sie zwinkert mir zu und murmelt: „Schick ihn weg, den alten Aasgeier! Noch bin ich nicht so weit!“
Nach drei Wochen ist der Umbau des Wohnhauses beendet und die alte Kürbisch lebt immer noch. Also wird sie zähneknirschend wieder in ihr altes Zimmer umgesiedelt.
Mein Vater aber schenkt mir als Anerkennung für den geleisteten Krankendienst eine Puppe mit blonden Locken und Schlafaugen, die sogar „Mama“ sagen kann. Denn er weiß ja nicht, dass das, was er als Opfer betrachtet, für mich höchste Glückseligkeit und ein lang ersehnter Tapetenwechsel war.
1-Österreichisch für Federbett
2-In Ostösterreich Bezeichnung für einen im Blaudruckverfahren bedruckten Stoff
3-Österreichisch für einen kleinen Kochtopf
V2/9498 Zeichen (inklusive Leerzeichen)