Von Maria Lehner

 

Der Kaufpreis war dem Zustand der Wohnung angepasst; das Vermittlungsbüro hatte sich mit dieser Immobilie, zuletzt im Besitz eines Geschirrhändlers, wenig Mühe gegeben: „Altbau-Eigentum für Bastler,“ das hieß im Klartext: „Sie werden einiges zu tun haben!“

„Wir sollten die Schichten der Zeit abtragen, um neu anfangen zu können“, sagen die beiden. Der Satz hat eine Doppelbedeutung: Neubeginn – weg mit der Vergangenheit! Das ist nicht so einfach. Nicht im übertragenen Sinn und auch technisch nicht. An einzelnen Stellen liegen sicher vier Schichten übereinander. Die Spezialmethode, für die man die Tapeten an mehreren Stellen einritzt und dann mit warmen Essigwasserdampf behandelt, erfordert Zeit, viel frische Luft und Ausdauer. Das Alte löst sich zögerlich ab – in großen Bahnen, in Fetzen, in Streifen und in Fitzelchen. Da ist zuerst das Angegraute, das wie Stoff aussehen soll; sie hat ein oliv-gold-Biedermeier-Streifenmuster wie man es in großbürgerlichen Wohnungen in den Jahren um 1990 zu den Stilmöbel-Imitaten gern mochte. Darunter erzählt eine geometrisch-großgemusterte Tapezierung in den Farbtönen grün, braun und orange die geschmacksverwirrte Geschichte der Siebzigerjahre. Unter der wiederum kommt billige braungestrichene Makulatur aus den Vierzigerjahren zum Vorschein. Darunter sind durch nicht fachgerechtes Entfernen einzelner Reste in diesem Abschnitt stümperhafte Ausbesserungen vorhanden. An einer Stelle fehlen sogar ein paar Ziegel und da ist eine kleine Nische, in der, ganz bedeckt mit Staubflusen, eine Schuhschachtel steht.

Sie finden in der Schachtel ein kleines Rohrstück, an den Enden verschlossen und mit Papier beklebt, das sich schließlich als Kaleidoskop herausstellt. Sie finden auch ein Stück roter Seiden – eine andere Tapete, noch kostbarer als die Seidene hier. Sie lassen nicht mehr locker: Welche Geschichte kommt da, nach dem Abtragen der untersten Schicht, zutage?

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„Ich habe in Wien mein Kaleidoskop vergessen.“ Das ist der einzige deutsche Satz, den der 88-jährige Simon Lewitt, in einem altertümlichen Singsang jedoch mit unverkennbar wienerischer Klangfarbe, sagt. Er wendet sein Gesicht dabei dem jungen Peter Weiß aus Wien zu, der in New York Gedenkdienst leistet. Peter hört zu und fragt nach. Die Worte von Simon kommen erst zögernd und er tastet nach den richtigen Begriffen, dann scheint es, als sei ein Spund aus einem Fass gezogen worden und er wechselt scheinbar mühelos vom Englischen ins Wienerische und wieder zurück. Peter Weiß versteht ihn.

Simons Onkel hat dieses Kaleidoskop gebaut, erzählt Lewitt. Es enthält die Splitter der grünen Leselampe und des rosaroten gläsernen Desserttellerchens aus dem Salon der Familie Grünhut in Wien-Währing. In einer Nacht im November 1938 verließ der sechsjährige „Simmi“, wie seine Eltern ihn nannten, das Haus für immer. Er wurde frühmorgens zu Onkel Hans und Tante Hermine Lewitt gebracht. Nur ein paar Häuser weiter.

„Ein böser Sturm ist gestern Nacht durch das Wohnzimmer gefegt, als du schliefst. Er hat unseren Glasschrank und die Lampe zerstört und die Tapete von der Wand gerissen“, hatte Papa damals traurig gesagt. Mama hatte deswegen geweint, Papa trug einen Verband über dem Auge; Simmi Grünhut hatte gedacht: wahrscheinlich auch vom Sturm. Ein kleines Köfferchen war für ihn gepackt worden. Zu den wenigen Kleidungsstücken und Büchern wickelte er hastig in ein Stofftaschentuch eine Handvoll von den rosaroten und grünen Glasscherben, die ihm schön wie Edelsteine schienen und ein Fetzchen – es sah herzförmig aus – von der kostbaren Wohnzimmertapete aus Seide, die er nie hatte anfassen dürfen.

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Nach und nach erfährt Peter von Simon Lewitt den Fortgang der Geschichte: „Onkel Hans hatte die Scherben in ein Rohr gefüllt. Eine durchsichtige und eine matte Glasplatte, dazwischen die Steine und ein rundes Fenster zum Durchsehen. Drin waren Spiegel. Das war das Kaleidoskop. „Das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet: Schöne Formen sehen.“ Simon Lewitt scheint mit geschlossenen Augen vor sich hinzuträumen, stützt den Ellbogen auf und schmiegt sein Kinn hinein. Seine Züge werden weich wie die eines Kindes. Er spricht weiter: „Manchmal sah ich im Kaleidoskop das Muster der Spieldecke aus meinem Kinderzimmer daheim oder die Schmetterlinge im Garten.“ Das war, als Simmi schon bei Tante und Onkel in einem herrschaftlichen Haus lebte, jedoch ohne Garten, ohne Spieldecke und ohne Schmetterlinge – aber er konnte die schönen Formen sehen. „Für den Fall, dass wieder so ein böser Sturm kommen würde, wie bei Papa und Mama, habe ich dieses Kaleidoskop und den Tapetenrest in einer Nische hinter dem Kasten versteckt, hinter einem losen Ziegelstein. Man musste sich ganz klein machen und kriechen, niemand von den Großen kam dorthin.“ Der alte Mann lächelt schelmisch und ist wieder der schlaue sechsjährige Simmi, der ganz schnell gelernt hatte, dass er nun Simon Lewitt hieß und der ebenso schnell vergessen hatte, dass er bisher Grünhut geheißen hatte. Mitten in der Nacht konnte man ihn wecken und er konnte seinen Namen und den seiner „Eltern“ Hans und Hermine nennen, ohne zu stocken.

Als Tante Hermine und Onkel Hans später mit Simon Lewitt, den sie mit gefälschten Papieren als ihren Sohn ausgeben konnten, abgereist sind, musste das so schnell gehen, dass das Kaleidoskop im Versteck zurückgeblieben ist. „In England und auf der Fahrt mit dem Schiff nach Amerika habe ich öfter davon gesprochen, dann nicht mehr“, erzählt Simon Lewitt. Vergessen hat er das Kaleidoskop nie; je älter er wird, desto mehr vermisst er es.

 

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Zeitgleich sind die beiden in Wien mit der Sanierung fertig und erinnern sich an ihr Versprechen: „Wir finden die Eigentümer der Schätze!“ Sie erzählen allen in ihrer Umgebung davon. Aus dem Vorhaben ist ein Fall geworden. Eine Tageszeitung und die Bezirksverwaltung zeigen Interesse. Sie nennen es: „An einem Objekt ein Stück Bezirksgeschichte aufarbeiten“ und machen aus dem Fall ein Projekt. Zwei Universitätsinstitute, eines für Design, eines für Zeitgeschichte, können zum Mitmachen gewonnen werden und man interessiert sich vor allem für den Tapetenrest. Wesentlich zur Aufklärung beitragen kann eine alteingesessene Wiener Ausstattungsfirma, die schon seit der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts besteht. Im ersten Gespräch ist zu erfahren: „Über fünftausend von uns produzierte Originalmuster und Entwürfe sind im Firmenarchiv verzeichnet. Und sie können einzelnen Kunden zugeordnet werden.“ Es stellt sich heraus: Der gegenständliche Stoff ist vor dem Zweiten Weltkrieg fünf Mal in der Inneneinrichtung von Villen verwendet worden. Nach dem Ausschließungsprinzip ermittelt man als Auftraggeber eine Familie Grünhut in Wien-Währing. Und die jüdische Gemeinde hilft herauszufinden, dass Dr. Georg (Israel) Grünhut am 30.10.1939, nach Nisko deportiert worden war und 1940 auf der Flucht in Polen an Entkräftung gestorben ist. Über Berta (Sara) Lewitt, verehelichte Grünhut, weiß man, dass sie 1939 nach Buchenwald deportiert worden ist; dann verlieren sich ihre Spuren. Herausgefunden wurde aber auch, dass bis zum Sommer 1939 in der jetzt von den beiden sanierten Wohnung eine „Familie Hans und Hermine Lewitt mit ihrem Sohn Simon“ gewohnt hatte und dass der, ein Jahrgang 1932, in New York lebt.  

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Ein Foto ist in Wien angekommen: Simon Lewitt, ein vornehmer feingliedriger alter Herr. Er hat etwas in der Hand, es ist das Kaleidoskop, das er beinahe zärtlich umfasst – und er streckt die Hand nach dem Tapetenrest aus. Simon Lewitt blinzelt wegen des Blitzlichts. Die zwei lassen das Bild einrahmen und stellen es auf die Anrichte vor der neu tapezierten Wand. Lang haben sie gesucht, nach der originalen roten Seidentapete – nicht ganz so edel wie in der Villa Grünhut, aber dennoch sehr elegant.

Der Gedenkdiener Peter Weiß berichtet den beiden später: Ohne hindurchzuschauen hat Lewitt das Kaleidoskop damals in seinen Händen gedreht und das Tapetenfitzelchen betastet. Er hat nach Worten gerungen. Er ist zu bewegt gewesen, um sich auf das Deutsche zu konzentrieren und sagte auf Englisch: „Danke. Jetzt sind die Schichten der Zeit beseitigt. Ich kann wieder schöne Formen sehen.“ Lächelnd soll er das Gesicht mit den altersschwachen Augen gehoben haben, die durch vieles hindurch und über so manches hinwegsehen können.

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