Von Helmut Blepp

Unsere Familie ist eigen. Wir halten die Nähe zueinander nur schwer aus und suchen sofort das Weite, wenn wir die Witterung von Blutsverwandten aufnehmen. Es gibt Beispiele für Fluchtversuche durch Alkohol oder Freitod, seltener waschechte Skandale, die über Generationen reichen, denn diese Generationen gehen sich bei uns weitestmöglich aus dem Weg, legen mitunter sogar Landesgrenzen oder Ozeane zwischen sich und den Rest der Sippe. So sind viele Einzelschicksale Bestandteil unserer Historie, nicht aber Untaten und Unglücke, die ganze Zweige unseres Stammbaums betreffen.

Ein entfernt verwandter Onkel aus dem Elsass beispielsweise kämpfte wohl zeitweise für Hitler, anschließend als Befreier der Grande Nation und starb als Fremdenlegionär in Algerien. 

Weibliche Ruchlosigkeit ist unter anderem durch eine Großtante dokumentiert, die in der Wirtschaftswunderzeit das Hinterzimmer des Teesalons ihrer Eltern zum Geheimtipp machte, indem sie dort auf dem Billardtisch sitzend mit blankem Unterleib die gezielt ins Rollen gebrachten Münzen ihrer Bewunderer einfing. Sie wurde später Bordellbesitzerin in Rouen und hatte bis zu ihrem Tod die Honoratioren der Stadt fest im Griff. 

Als einer der wenigen in der Familie kannte ich von früh auf kaum Berührungsängste, was die Blutlinie betraf. Aus diesem Grund verschlug es mich Ende der siebziger Jahre auch zum ersten und einzigen Mal in die Berge. Ich lebte damals allein, aber glücklich, in Heidelberg und ging ganz in meinem Philosophiestudium auf. In den Semesterferien aber trieb es mich oft in die Ferne. Da mein Budget jedoch knapp war, hatte ich es mir angewöhnt, meinen Urlaub nach Möglichkeit irgendwo bei der weitverzweigten Verwandtschaft zu verbringen. Ich konsultierte also mein unerschöpfliches Adressbuch auf der Suche nach einem attraktiven Aufenthaltsort und stieß dieses Mal auf einen mir nur dem Namen nach bekannten Cousin in der Steiermark. Per Ansichtskarte mit dem schönen Motiv `Blick vom Schloss auf den Neckar´ teilte ich Alois, so hieß er nämlich, meinen Besuchswunsch mit. Er antwortete umgehend und überraschend freundlich, indem er mich von Herzen einlud, ein paar Tage auf seinem Hof am Dachstein zu verbringen. 

Die Reise verlief ohne Zwischenfälle, und an einem sonnigen Nachmittag holte Alois mich in Schladming am Bahnhof ab. Er war ein stämmiger Bursche mit struppigem Bart und einer Stimme von beeindruckender Lautstärke, aber für einen Verwandten doch recht sympathisch. 

In seinem Jeep fuhren wir in halsbrecherischem Tempo die Serpentinen hoch auf die Ramsau und von dort zu seinem Anwesen, das aus zwei alten gedrungenen Wohnhäusern bestand, in denen viel Holz und wenig Glas verbaut worden war. Ein Stück weit entfernt war ein waghalsig aus Brettern zusammengenagelter Stall in die Wiese gestellt, der, wie ich bereits wusste, den Ziegen Obdach bot, deren Milch die Grundlage für Aloisens Käseproduktion darstellte. 

Vor dem etwas größeren Haus standen die Bewohner schon Spalier, als wir eintrafen. Da war zunächst Alma, die Frau meines Cousins. Sie drückte mich sogleich an ihren üppigen Busen, gab Busserl und wünschte mir einen erholsamen Aufenthalt. Fritzi, der Junior, drückte mir ordentlich die Hand, schien aber ansonsten wenig interessiert an dem Besucher aus Deutschland. Zuletzt wurde noch Ferdi vorgestellt, der alte Knecht, mit dem ich das kleinere Häuschen teilen sollte. Er nickte mir kurz zu und brummte so etwas wie einen Gruß, ohne seine Pfeife aus dem Mund zu nehmen. 

Bei Kaffee und Ribislkuchen machten wir uns dann ein wenig miteinander vertraut. Die lieben Leute hatten zwar von Philosophie weniger Ahnung als ich von Ziegenzucht, doch ihre aufrichtige Herzlichkeit machte diese Defizite mehr als wett. Selbst Ferdi wurde nach einem Gläschen Vogelbeerschnaps zugänglicher. 

Nachdem wir zum dritten Mal auf meine Ankunft angestoßen hatten, zeigte er mir meine Unterkunft. Das Häuschen war eher eine Hütte, unterteilt in zwei Schlafkammern und eine Wohnküche. Der einfache Dielenboden knackte bei jedem Schritt, und hinter der groben Verschalung der Wände vermutete ich allerlei Getier, aber immerhin gab es ein Waschbecken in meinem Zimmer, und die Matratze des Bettes war schön fest. 

Ferdi war offenbar nicht begeistert davon, sein kleines Reich mit mir teilen zu müssen, doch er trug es mit Fassung, gab mir frisches Bettzeug und Handtücher und zeigte mir den Abtritt hinterm Haus, einen Verschlag mit dem obligatorischen Herzchen in der Tür. 

„So, mehr gibt es nicht zu wissen“, stellte er dann fest. „Noch Fragen?“ 

Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte er mir einen angerosteten Schlüssel in die Hand und ließ mich stehen. 

 

Die nächsten Tage entpuppten sich als das reinste Überlebenstraining. Gleich am ersten Morgen, ich hatte Ferdi gerade geholfen, die Ziegen zu versorgen, kam Alois mit einem alten Paar Wanderschuhe zum Frühstück. 

„Das sind mir die liebsten“, verkündete er. „Leicht und butterweich. Die kriegst du.“ 

Er hielt mir die Treter hin und, höflich dankend, nahm ich sie an. 

„Los, anprobieren!“ 

Sie passten wie angegossen. 

„Prima!“ Alois klatschte in die Hände. „Heut geht´s erst mal auf den Stoderzinken.“ 

Und das meinte er völlig ernst. 

Es war ein Martyrium! Zunächst noch guter Dinge, wurde ich im Verlauf dieser Wanderung immer verzweifelter. Außer den Füßen, die in den geschmeidigen Wunderschuhen steckten, tat mir alles weh, und als ich bereits abwog, ob eine Ohnmacht die naheliegendste Option sei, rief Alma munter: „In zwei Stunden müssten wir es geschafft haben!“ Und Alois ergänzte frohgemut: „Da sollten wir aber stramm weitergehen.“

Also trottete ich ergeben hinter ihnen her, gefolgt von Fritzi, der in lockerem Schritt, aber lustlos, die Nachhut bildete. 

Irgendwann, als ich jeden Glauben daran schon aufgegeben hatte, kam das Gipfelkreuz in Sicht, dahinter die Hütte mit Restauration. 

„Trinken. Umfallen. Schlafen“, halluzinierte ich, doch Alois entschied in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete: „Erst zum Kreuz, sonst bringt das Unglück!“ 

Also machten wir der unscheinbaren Metallkonstruktion noch unsere Aufwartung, bevor ich mich endlich zu einer Bank schleppen und meinen Kopf auf einen wackeligen Tisch legen durfte. Zum Verzehr des Kaiserschmarrns mussten sie mich wachrütteln. Ich war zu müde zum Kauen und spülte das Backwerk mit zwei Flaschen Almdudler hinunter. 

An den Rückweg erinnere ich mich nur bruchstückhaft. Meine Wandergefährten stimmten wohl unterwegs die steirische Landeshymne an, jede Strophe mehrmals wiederholend. Ich nehme an, es war ein garstiger Trick, um mich wach zu halten, so dass ich mechanisch einen Fuß vor den anderen setzte, bis wir unser Heimatziel erreichten.

Am frühen Abend in meiner Kammer konnte mich nicht einmal Ferdis mächtiges Schnarchgewitter nebenan vom Schlaf abhalten. Im Traum war es mir, als würde Alma keck von einer Felswand springen, immer und immer wieder. 

 

Die Begeisterung meiner Gastgeber für ihre Heimat kannte keine Grenzen. Sie schleppten mich auf den Rossbrand, auf den Rittisberg, auf die Planai. Fragwürdiger Höhepunkt war die Torwanderung über schlammige Forstwege und lebensgefährliche Geröllhalden hin zu vermeintlich grandiosen Aussichtspunkten unterhalb der Südwände des Dachsteins, die ich nur noch verschwommen wahrnahm, da mir grässliche Gliederschmerzen Tränen in die Augen trieben. 

„Das schaffen wir in fünf Stunden“, hatte Alois am Morgen gemeint. 

Es wurden acht, und als wir heimkamen, war ich ein gebrochener Mann. 

„So sind sie halt, die Städtischen“, versuchte Alois einen Scherz, doch Alma zeigte Mitgefühl mit mir und balsamierte meinen geschundenen Leib mit stinkender Pferdesalbe ein, woraufhin ich in einen langen und tiefen Schlaf fiel. 

Ich träumte von meiner Mutter, die in der zivilisierten Welt lebte; die mich zum Tee einlud und mich mit allerlei Kanapees mästete, die bezaubernde Geschichten über eingewachsene Zehennägel zu erzählen wusste und mir beim Abschied ein paar Scheine zusteckte. 

Und ich träumte von einem schattigen Plätzchen am heimischen Neckarufer, wo ich bei einer Flasche Rotwein mit Hingabe „Die Welt als Wille und Vorstellung“ studierte, während Lavendula, meine heimlich verehrte Kommilitonin, mir Rosen ins Haar flocht. 

Als mich am Sonntagmorgen die ersten Sonnenstrahlen weckten, sprühte ich vor Entschlossenheit. Keine Strapazen mehr! Ein Hoch dem Müßiggang in der Heimat! 

Beim Frühstück teilte ich der Familie meine Entscheidung mit, vorzeitig die Heimreise antreten zu wollen und begründete dies mit innerer Unruhe im Hinblick auf etwelche Semestervorbereitungen, die noch ausstünden. Das wurde mit protestantischem Achselzucken quittiert. 

Früh am nächsten Morgen brachte Alois mich zum Bahnhof. Alma hatte ein Proviantpaket für mich gepackt, welches im Wesentlichen aus mehreren Kilogramm Ziegenkäse bestand, und bereitete mir einen herzlichen Abschied mit vielen Busserl. Fritzi winkte wortlos aus seinem Schlafzimmerfenster. Ferdi ließ sich nicht blicken.

„Komm bald mal wieder“, sagte mein Cousin mit belegter Stimme, als er mich auf dem Bahnsteig unbeholfen umarmte. „Mal sehen“, wich ich aus und dachte: nie wieder. 

 

Daheim hatte mich der Alltag alsbald wieder im Griff. Ich vergaß die Berge, den Ziegenhof mit seinem ureigenen Geruch und seinen gastlichen Bewohnern. Ich ließ Schopenhauer bleiben, stürzte mich stattdessen in ein Seminar über Existenzialismus und verbrachte die noch warmen Herbsttage mit einer Flasche Rotwein und der Lektüre von Sartres „Das Sein und das Nichts“ am Neckarufer, leider ohne Lavendula, die während meiner Abwesenheit überraschend bei einem wissenschaftlichen Mitarbeiter mit Latzhosen und irischem Akzent eingezogen war. 

Für die nächsten Semesterferien war bereits eine Reise nach Rouen geplant. Der einzige Sohn der verruchten Großtante lebte dort noch, und ich wollte in Erfahrung bringen, ob er womöglich das Etablissement seiner Mutter übernommen hatte. Aber das ist eine andere Geschichte.