Von Irmi Feldman

 

 

 

Die Hiobsbotschaft traf Hermann nach dem Mittagessen. Nichtsahnend hatte er die Post aus dem Briefkasten geholt, und weil der azurblaue Umschlag so ungewöhnlich aus all den Werbesendungen herausgestochen hatte, riss er ihn auf.  

 

EINLADUNG zu unserer Hochzeit stand da in dicken Goldbuchstaben. Weiter kam er nicht. Die Karte flatterte zu Boden. Hermann sank auf den Stuhl. Die Welt ging unter.

  

„Warum muss ausgerechnet mir immer so ein Unglück zustoßen?“, rief er aus.

 

Dabei war in letzter Zeit alles so gut gelaufen. Er hatte große Fortschritte in seiner Therapie gemacht. Mit dem Schreibkurs, den sein Therapeut vorgeschlagen hatte, ging es nach anfänglichen Schwierigkeiten auch voran. Umso grausamer war es, dass ausgerechnet sein Therapeut ihm mit dieser Hochzeitseinladung in den Rücken fiel.

 

Was hatte Hermann denn mit dieser Hochzeit des Therapeuten zu tun? Warum musste dieser überhaupt heiraten? Wusste er denn nicht, dass ein Drittel der Ehen in Scheidung endeten?

 

Hermann überlegte, ob er ihn vor Hochzeit und nachfolgender Scheidung warnen sollte. War dem Therapeuten klar, dass eine Scheidung nicht nur negative Auswirkungen auf ihn, den Therapeuten, haben würde, sondern auch auf Hermann, was weitaus besorgniserregender war? Denn nach der Scheidung – da war Hermann sicher – würde sein Therapeut Therapie brauchen, und er, Hermann, müsste sich einen neuen Therapeuten suchen.

 

Doch Hermann wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen. Davor hatte ihn sein Therapeut immer gewarnt. Vielleicht gab es ja einen anderen Grund, warum dieser ihn eingeladen hatte. Vielleicht war es ja ein Test? Wollte sein Therapeut etwa sehen, wie er sich auf einer Feier verhielt? Ob er sich mit Leuten unterhalten würde?

 

Hermann überlegte, ob er die Einladung schlichtweg ablehnen sollte. Er könnte ja wichtige Termine vorschieben, z. B., die Beerdigung seiner Mutter.

 

Aber seine Mutter wegen der Hochzeit gleich sterben zu lassen, kam selbst Hermann ein bisschen zu krass vor. Sein Therapeut wusste doch, dass seine Mutter sich bester Gesundheit erfreute. Ließe er sie jetzt sterben, würde sein Therapeut in den nächsten sechs Monaten Trauerberatung mit ihm betreiben. Somit wäre keine Zeit die wichtigen Dinge zu besprechen, die von Sitzung zu Sitzung sich in Hermanns Geist und – zwecks besserer Erinnerung in seinem Heft – ansammelten. Nein, Therapiezeit würde er auf gar keinen Fall opfern. Noch dazu holte ihn seine Mutter manchmal von der Sitzung ab. Schon allein aus diesem Grunde konnte er sie nicht sterben lassen.

 

Vielleicht eine anstehende Operation? Lange geplant und nun unaufschiebbar näher gerückt? Aber die Operation war auch keine gute Ausrede, weil zwei Tage später eine Sitzung mit dem Therapeuten geplant war. Wer kann schon zur Therapie gehen, wenn er gerade eine Gehirnoperation hinter sich hatte?

 

Hermann beschloss, das Thema Hochzeit erstmal fallen zu lassen. Schließlich hatte er noch drei Wochen Zeit. Bis dahin würde sich bestimmt etwas ergeben, das die Hochzeit verhindern würde: Erdbeben, Flut, Orkan, oder was auch immer. Aber die Zeit verging, und nichts Gravierendes passierte.

 

„Na gut“, rief er am Vortag der Feierlichkeiten aus. „Dann geh ich eben!

 

Doch was sollte er anziehen? Musste er dem Therapeuten ein Geschenk machen? Musste er gratulieren? Auch der Braut? Musste er eine Karte besorgen?

 

Da kam ihm seine Mutter zu Hilfe, die – wie Mütter halt so sind – auf alle seine Fragen eine Antwort hatte und ihm sogar beim Anzug und Geschenk kaufen behilflich war. Jetzt war er froh, dass er sie nicht sterben hat lassen.

 

Die Trauung im Standesamt verlief ohne besondere Vorkommnisse. Die Brautleute hatten keinen Rückzieher gemacht, wie Hermann insgeheim gehofft hatte, sondern hatten kräftig ‚Ja‘ gesagt. Hermann hatte versucht seinen Therapeuten vor der Ehe zu warnen, hatte ihm alle möglichen Scheidungsstatistiken vor Augen geführt und hatte sogar zehn Minuten seiner wertvollen Sitzungszeit geopfert, um ihn umzustimmen. Ohne Erfolg. Nun denn, wenn der unbedingt in sein Unglück rennen wollte, dann war das sein Problem. Er, Hermann, wusch seine Hände in Unschuld.

 

Hermann begab sich zum Hotel, wo die Hochzeitsfeier stattfinden würde. Da er weder der Erste noch der Letzte sein wollte, versteckte er sich hinter einer Säule, bis ungefähr 50% der Gäste sich in einer Art Vorhalle versammelt hatten. Dieser Prozentsatz basierte nicht auf exakter Kalkulation, seine bevorzugte Art Informationen zu sammeln, sondern auf Schätzungen, die ihm nicht geheuer waren. Aber eine genaue Berechnung war nicht möglich gewesen, weil ihm der wichtigste Faktor, nämlich die Gesamtsumme der Gäste, fehlte.

 

Legere Sorglosigkeit vortäuschend, trat Hermann in die Halle, in der sich außer ein paar Palmenkübel keinerlei Möbel befanden. Das Abendessen musste demzufolge in einem anderen Teil des Hotels stattfinden. Tabletts mit Drinks und Leckereien wurden herumgereicht. Sich des Rates seines Therapeuten erinnernd, Wein oder Häppchen zu nehmen, um etwas in der Hand zu halten, schnappte Hermann sich in seinem Eifer nichts falsch zu machen, beides, ein Weinglas und ein Lachshäppchen. Erst dann fiel ihm siedend heiß ein, dass er eine Fischallergie hatte. Außerdem kam ihm, leider zu spät, die Erleuchtung, dass in diesem besonderen Fall weniger paradoxerweise mehr gewesen wäreMit anderen Worten, das Weinglas hätte genügt.

 

Doch als er das Lachshäppchen wieder auf einem vorbeihuschenden Tablett ablegen wollte, fing er sich nur den bösen Blick eines Kellners ein. Beschämt zog Hermann seine Hand zurück. Er würde sich des ungewollten Lachshäppchens anderweitig entledigen. Suchend schaute er sich um, aber – und erst jetzt wurde ihm das Ausmaß seiner Misere bewusst – weder Abfalleimer noch sonstiger Entsorgungsbehälter befanden sich im Raum. Das Häppchen in einen der Palmenkübel zu werfen, brachte Hermann nicht über sich, denn Zweckentfremdung von Gegenständen war ihm zutiefst zuwider.

 

Wer kam nur auf die unsinnige Idee eine Hochzeitsfeier zu organisieren, Leckereien anzubieten, aber keinen Abfalleimer bereitzustellen, fragte sich Hermann, verdrängte aber sofort den Drang diesen Gedanken weiterzuverfolgenLachshäppchen und Weinglas beanspruchten all sein Denkvermögen. Da war schlichtweg kein Platz für andere Gedanken. Später jedoch, wenn sein Geist wieder frei und das Lachshäppchenproblem gelöst sei, würde er sich zwangsläufig mit dieser Frage beschäftigen müssen, schon allein deshalb, damit er sie in seinem Geist als erledigt abhaken konnte.

 

Das schaffe ich‘, sagte sich Hermann und inspizierte die Gäste. Schließlich sollte er sich ja unter die Leute mischen, wie sein Therapeut das vorgeschlagen hatte.

 

Außer dem Therapeuten, der noch nicht einmal eingetroffen war, kannte er niemanden. Wie erwartet, waren die meisten als Paar gekommen. Und so standen sie auch zusammen. In Zweier-, Vierer-, und Sechser-Gruppen. Nur drei Leute standen allein im Raum herum, die fürs unter die Leute mischen in Frage gekommen wären, denn dass Hermann sich zu Paaren gesellt hätte, kam ihm nicht in den Sinn. Paare waren eine Kategorie für sich. Und er hatte nicht das Gefühl, dass er als Alleinstehender dazugehörte.

 

Hermann beobachtete die drei in Frage kommenden Gäste näher, wobei einer der drei nicht einmal stand, sondern im Rollstuhl saß. Es war ein älterer Herr. Zu dem hätte er sich ständig hinunterbücken müssen, um zu reden, was ihm – und da war Hermann sicher – schon nach fünf Minuten grässliche Rückenschmerzen bereitet hätte. Außerdem hörten ältere Herrschaften des Öfteren schlecht, und somit hätte Hermann zuzüglich zum Runterbücken, auch noch schreien müssen. Ein Horror. Nein, der Herr im Rollstuhl war als Gesprächspartner zu kompliziert.

 

Der nächste Kandidat bzw. Kandidatin war eine Dame mittleren Alters, die sich, und das sah Hermann schon von weitem, ein Häppchen nach dem anderen von vorbeischwebenden Tabletts schnappte, und manchmal sogar zwei oder drei Häppchen in der einen und ein Weinglas in der anderen Hand hielt. Würde er mit dieser Dame ein Gespräch anfangen, – und Lachshäppchen als Gesprächsthema drängte sich hier geradezu auf – würde sie ihn sicher bitten doch ein paar Häppchen für sie aufzubewahren, bis ihr Mund dafür frei war.

 

Hermann hatte genug mit seinem eigenen, inzwischen stark aufgeweichten Häppchen zu kämpfen und hatte somit keine Hand frei, um sie der Dame zwecks Häppchenhaltens zur Verfügung zu stellen. Nein, diese Dame kam als Gesprächspartnerin auch nicht in Frage.

 

Blieb nur noch die dritte Kandidatin. Allein, wie Hermann, stand sie in der Nähe des Eingangs. Hermann bewunderte ihre Intelligenz. In weiser Voraussicht hatte sie sich genau da platziert, wo sie in der Not sogleich fliehen konnte. Noch dazu hatte sie den gleichen Irrtum wie Hermann begangen, denn auch sie hielt ein Lachshäppchen in der einen und ein Weinglas in der anderen Hand.

 

Angesichts dieser Gemeinsamkeit beschloss Hermann sie auf dieses Missgeschick anzusprechen.

 

„Hallo!“, sagte er und wurde rot, denn mit Frauen seines Alters sprach er nicht zu oft. „Ich sehe, Sie haben auch alle Hände voll!“

 

„Ich hasse Lachs“, sagte die Dame und lächelte zu ihm auf.

 

Das Eis war gebrochen. Die Dame, Helene, erzählte von ihrer Angst allein auf die Hochzeit zu gehen. Ihre Therapeutin, die Braut, hatte sie eingeladen. Helene war keine glaubwürdige Entschuldigung eingefallen, um abzusagen. Die Beerdigung ihres Vaters wollte sie denn doch nicht vorschieben. Schließlich brachte er sie manchmal zur Therapie. Überhaupt, was hatte sie, Helene, denn mit der Hochzeit ihrer Therapeutin zu tun?

 

Und wusste Hermann, dass ein Drittel aller Ehen in Scheidung endeten? Helene hatte versucht die Therapeutin vor der Ehe zu warnen. Sogar zehn Minuten ihrer wertvollen Therapiezeit hatte Helene geopfert, um dieser die Scheidungsstatistiken zu erklären. Aber alles war umsonst gewesen.

 

Und jetzt wasche sie ihre Hände in Unschuld. Sie war sicher, dass die Heirat in Scheidung enden würde, und sie sich dann eine neue Therapeutin suchen müsste. Ein Grauen.

 

Und Hermann nickte, und lachte, und strahlte, denn Hermann wusste Bescheid.

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