Von Brigitte Noelle
Der Festsaal des Grand Hotels war hell erleuchtet, die Partygäste nippten an ihrem Begrüßungssekt und standen seltsam vereinzelt im Raum herum. An den Seiten waren Tische mit glitzernden Gläsern, spiegelnden Weinkühlern und verführerischem Fingerfood aufgebaut, und die Kellner warteten auf die ersten Bestellungen.
Ein verspätetes Paar betrat den Raum: Ein schmaler Mann mit Spitzbart und Brille, begleitet von einer jungen Frau mit wallendem Blondhaar. „Willkommen“, wurden sie von einem Herrn mit verstruwwelter, graumelierter Frisur begrüßt. „Darf ich mich vorstellen? Ich bin Heinrich Müller. Und dort hinten, die Dame im Kleid mit den großen Blumen, mit dem Handy, das ist meine Frau Lotte.“
„Angenehm, mein Name ist Franz Fischer. Und das ist meine Frau Ella.“
„Ich nehme an, dass Sie niemanden hier im Saal kennen? So geht es nämlich allen Gästen hier – keiner weiß, warum er eingeladen wurde …“
Ella Fischer mischte sich ein: „Ja, das stimmt, und ich kenne doch wirklich viele Leute in der Stadt. Wir bekamen vor zehn Tagen eine Einladung von der Wolfimed GmbH, Sie wissen, die Pharmafirma hier, mit der Bitte um Antwort. Und als ich die angegebene Telefonnummer anrief, kam ich an ein Tonband.“
Ein rotgesichtiger, untersetzter Mann gesellte sich dazu. „Harald Schneider“, stellte er sich vor. „Auch ich finde das sehr verdächtig, schließlich ist gerade der Pharmaindustrie nicht zu trauen, die Impfungen vor drei Jahren zum Beispiel, zu denen wir gezwungen werden sollten, hätten mit Sicherheit unser Erbgut verändert!“
Das Gespräch stockte, und als sich ein junger Mann mit gegelter Frisur und ebenso glattem Lächeln näherte, benutzen die anderen die Gelegenheit, sich von Herrn Schneider zu entfernen.
„Gestatten Sie? Stefan Wagner, mein Name. Hier ist meine Visitenkarte. Ich bin Betriebsberater. Haben Sie eine Firma?“, begann der glatte junge Mann und fuhr sich durch die glänzende Frisur.
Währenddessen war es Lotte Müller gelungen, einen Kreis von Damen um sich zu scharen, denen sie die neuesten Fotos ihrer acht Enkelkinder auf ihrem Handy zeigte. „Wie süß“, säuselte eine ältere Frau mit Perlenkette und goldgeränderter Brille, die sich als Anna Schmidt vorgestellt hatte.
„Nicht wahr? Moment, ich bekomme gerade eine Nachricht von meiner Freundin Gabi – ein Witz: ‚Was ist der Unterschied zwischen einer Frau und einer Batterie? Eine Batterie hat auch eine positive Seite.‘“
Sie brach in schrilles Gelächter aus, und die meisten in ihrer Umgebung fielen ein. Nur eine elegant Gekleidete entfernte sich unter dem Vorwand, zum Büffet zu wollen. Ohnehin hatten die anderen einen geringen, doch merkbaren Abstand zu ihr gehalten. Sie wusste aus Erfahrung, woran das lag: Es war ihre tiefbraune Haut und das gekräuselte Haar.
Karoline Mayer, das war ihr Name, gesellte sich zu einer Gruppe von Leuten, die nahe dem Buffet um einen Stehtisch versammelt war. Heinrich Müller unterhielt sich dort mit einem älteren Herrn mit Halbglatze, Michael Weber. Dessen Frau Dana war schweigsam und warf nur ab und zu ein Wort ein. Eben fragte Herr Müller sie: „Sie haben einen Akzent, der mir bekannt vorkommt. Darf ich fragen, wo der herkommt?“
Statt seiner Frau antwortete Michael Weber: „Dana ist aus dem Kosovo geflüchtet. Sie hat dort Mathematik und Naturwissenschaften unterrichtet. Nach ihrer Flucht musste sie hier putzen gehen, unter anderem in unserer Steuerberatungsfirma. Da lernte ich sie kennen – und lieben. Sie müssen verstehen, dass sie nicht viel sprechen möchte; sie ist in unserer Sprache unsicher, und besonders unter so vielen unbekannten Leuten fühlt sie sich nicht wohl. Ihre Erlebnisse in der Heimat haben sie wohl traumatisiert.“
***
Die Party nahm ihren Lauf. Mittlerweile waren alle Gäste eingetroffen, und, obwohl sie einander nicht bekannt waren, wurde die Stimmung gelöst und ausgelassen. Etwa fünfzig Menschen hatten sich versammelt. Gelächter und Satzfetzen schwirrten durch den Saal.
Lotte Müller: „Und hier das Foto meiner jüngsten Enkelin, Chantal, wie sie am Töpfchen sitzt.“
Anna Schmidt: „Süüüüß!“
Ella Fischer: „Das erinnert mich an meine Nichte, die hat so früh gelernt, aufs Töpfchen zu gehen …“
Harald Schneider: „Der Gründer der Neuen Germanischen Medizin, Doktor Hamer, bekämpfte ebenfalls die jüdische Schulmedizin …“
Stefan Wagner: „Gestatten Sie, Stefan Wagner, mein Name. Hier ist meine Visitenkarte. Ich bin Betriebsberater. Haben Sie eine Firma?“
Karoline Meyer: „Obwohl ich hier geboren bin, habe ich doch auch Fremdenfeindlichkeit erlebt …“
Michael Weber: „In unserem kleinen Freundeskreis ist Dana sehr beliebt …“
Heinrich Müller: „Dann bin ich mal gespannt, ob wir heute noch unseren Gastgeber kennenlernen werden!“
Plötzlich durchschnitt ein Schrei das fröhliche Stimmengewirr.
Michael Weber war zu Boden gefallen, seine Haut färbte sich scharlachrot und er rang nach Luft. Stille trat ein. Durch diesen Eisblock der Verunsicherung stieß eine Stimme: „Lassen sich mich durch, ich bin Arzt!“
Es war Franz Fischer, der spitzbärtige, schweigsame Gatte von Ella. Er kniete sich neben Herrn Weber hin, öffnete dessen Hemd und untersuchte ihn. Schließlich fragte er: „Weiß jemand, ob er Allergien hat? Hat er hier etwas gegessen?“
Stockend und zitternd antwortete seine Frau Dana: „Fischallergie. Nur ein Brot mit Eiaufstrich.“
„Enthält der Eiaufstrich Fisch? Sagen Sie schnell!“, rief Fischer den verunsicherten Kellnern entgegen. Einer stotterte, ja, es wäre Anchovis drin.
„Rufen Sie sofort den Rettungsdienst! Er muss schnell ins Krankenhaus, es geht um Leben und Tod“, befahl der Arzt.
„Halt!“ Harald Schneider stand in der Mitte des Saals und fuhr mit erhobener Stimme fort: „Das ist alles ein abgekartetes Spiel! Die Pharmaindustrie hat uns hierher gelockt, um mit uns ihre Menschenexperimente durchzuführen! Was glaubt ihr denn, wohin dieser arme Mann gebracht werden soll? In ihre Labors natürlich, und wir alle mit dazu. Keine Rettung wird gerufen!“
Anna Schmidt schrie verzweifelt auf: „Wir werden alle sterben!“, und eilte Hilfe suchend zu Harald Schneider. Auch Stefan Wagner und viele andere drängten sich hinter den Rotgesichtigen, der sich nun hoch aufrichtete und Luft holte, um weiter zu sprechen.
Da unterbrach ihn eine weibliche Stimme: „Und der Rettungsdienst wird gerufen! Schließlich ist die Behinderung von hilfeleistenden Personen strafbar, das können Sie mir als Juristin glauben!“ Karoline Meyer stellte sich mit diesen Worten schützend vor die Gruppe mit dem Kranken.
Unschlüssig warteten die Anwesenden, was passieren würde.
Wütend wie ein Stier auf ein rotes Tuch starrte Schneider auf die Gestalt, die es gewagt hatte, sich ihm entgegenzustellen. „Auf Leute wie euch haben wir gewartet! Geh doch dorthin zurück, wo du hergekommen bist! Ihr gehört ja genauso zur Verschwörung des internationalen Kapitals! Aber nicht mit mir! Folgt mir, Leute!“ Mit diesen Worten ergriff er eine Weinflasche, schlug sie gegen eine Tischkante, dass der Hals absplitterte, und näherte sich langsam und Wut ausdünstend der Frau.
In diesem Augenblick gespannten Schweigens fiel die Saaltür donnernd zu und eine volltönende Stimme nahm die Aufmerksamkeit der Anwesenden in Beschlag: „Guten Abend, meine Damen und Herren!“
Da stand, unweit des Eingangs, eine Frau in Business-Kostüm. Sie wirkte in jeder Beziehung korrekt, die Kleidung warf keine Falten, jedes Haar ihrer Frisur saß perfekt und ihre Haltung war gerade, kontrolliert und doch scheinbar ungezwungen. Sie fuhr fort: „Mein Name ist Astrid Becker. Ich bin in der Geschäftsleitung der Wolfimed GmbH. Sie werden sich bestimmt gefragt haben, was es mit der Einladung zu dieser Party auf sich hat – sie war leider ein Irrtum. Lassen Sie es mich erklären! Seit Beginn dieses Jahres verwenden wir eine KI, also eine künstliche Intelligenz. Nun feiert unser Seniorchef, Wolfgang Schäfer, nächsten Monat seinen 90. Geburtstag und möchte für eine Reihe seiner Freunde eine Party geben. Daher beauftragte er die KI, einen virtuellen Probedurchlauf der Veranstaltung mit beliebigen Gästen zu berechnen. Unglücklicherweise wurde die Party jedoch tatsächlich geplant und wird, wie Sie sehen, auch durchgeführt. Wir bemerkten diesen Irrtum erst vor einer Stunde. Da es nun passiert ist, bittet die Wolfimed GmbH, allfällige Ungelegenheiten zu entschuldigen und wünscht Ihnen noch einen schönen Abend auf Kosten der Firma.“
Beim Verlassen der Räumlichkeiten gab sie den Leuten vom Rettungsdienst die Klinke in die Hand. Diesmal hatte Lotte Müller ihr Handy sinnvoll eingesetzt.
Im gleichen Moment flog die Türe zur Küche auf und die Kellner brachten eine riesige Geburtstagstorte herein, geschmückt mit Wunderkerzen und mit Zuckerguss beschriftet: „Happy Birthday, Wolfi!“
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