Von Jochen Ruscheweyh

„Wohin gehst du?“, fragte Sybille.

„Ach, nur nochmal rasch zum Einkaufsladen, mir fehlt noch Ingwer und Szechuan-Pfeffer. Und ich habe vergessen zu tanken.“

„Kannst du nicht morgen früh tanken? Und was für ein Drei Gänge Menü planst du schon wieder? Ich wär auch mit Kartoffelbrei und Würstchen zufrieden, wenn ich dich dafür eher neben mir auf der Couch hätte.“

„Geht doch ganz schnell, Hase. Eine Dreiviertelstunde vielleicht, dann bin ich wieder hier.“

„Gut“, rekelte sich Sybille auf der Couch, „aber im nächsten Leben hole ich mir keinen Küchen-emanzipierten Mann mehr ins Haus. Manchmal machst du meinem Hausfrau-Frau-Unterbewusstsein echt ein schlechtes Gewissen.“

„Ach, du würdest doch dasselbe für mich tun“, lächelte Martin und verschwand im Hausflur.

Nur wenige Minuten später parkte er seinen Opel in einer spärlich beleuchteten Seitenstraße.

Für das menschliche Auge nicht sichtbar, weil zu schnell, riss er sich Sakko, Bundfaltenhose und seine weitere Bekleidung vom Körper, öffnete den Kofferraum, zog aus dem Geheimfach seinen Skytalyror-Anzug hervor und stieß sich vom Boden gen abendlichen Himmel ab.

Zu fliegen tat gut nach dem anstrengenden Tag im Büro. Aber bereits Sekundenbruchteile später entdeckte er den LKW, der aus der Kurve der Autobahnabfahrt Dortmund-Mengede auszubrechen drohte. Martin setze zu einem überschallnahen Sinkflug an, dessen Verwirbelung das Fahrzeug stützte und wieder in die Spur drückte.

 

*****

 

„„Ach, du würdest doch dasselbe für mich tun“, lächelte Martin und verschwand im Hausflur.

„Im Leben nicht“, gähnte Sybille, erhob sich von der Couch und trat ans Fenster. Nachdem sie Martin in seinen Wagen steigen und den Parkplatz verlassen gesehen hatte, atmete Sybille durch und griff zwischen den Kissen her ins Innere der Couch, holte ihr Schiwolan-Cape hervor, schlüpfte in einer geschmeidigen Bewegung hinein und zurrte die Gesichtsmaske fest.

Einen Wimpernschlag später hockte sie bereits wie ein Vogel rückwärtig auf der Balkonbrüstung und ließ sich nach hinten fallen.

Das Cape trug Sybille durch ein Dimensionsloch zu einem der vier Wurmausgänge, die sich unter der Stadt befanden. Gerade rechtzeitig genug, um eine Seniorin mit Rollator oben auf der Straße zu Fall zu bringen und ihr dabei die Handtasche zu entreißen.

Sybille ließ ihr Opfer blutend am Boden zurück, während sie sich in einer mit Hilfe des Capes ausgeführten raschen Aneinanderreihung von FlicFlacs vom Tatort entfernte.

 „Mist“, entfuhr es ihr, als sie lediglich einen Zwanzig-Euro-Schein in der Geldbörse der Seniorin fand. Die Börse selbst, die das einzige Foto des verstorbenen Mannes der Beraubten enthielt, warf Sybille in ein Gebüsch am Wegesrand. Mit einer weiteren Kombination von FlicFlacs und einer gehechteten Flugrolle drang sie in das Innere eines Kiosks ein; zu schnell für das menschliche Auge und im Besonderen zu schnell, als hätte die noch jugendliche Aushilfe dies wahrnehmen oder erahnen können.

Sybille entnahm einen weiteren Zwanziger der Registrierkasse, deren Schließmechanismus unter einer harten Folge ihrer Handkantenschläge nachgab.

Zu guter Letzt entwendete sie noch ein Kinderschmink-Set in pinkem Wildleder aus dem Kioskfenster, ehe sie den Verkaufsraum auf demselben Wege verließ, wie sie ihn aufgesucht hatte.

 

*****

 

Martins Krypto-Retina erblickte die hilflose Seniorin bereits aus einer Höhe von fünfundsiebzig Metern. Auf seinem Weg abwärts lächelte er einem in tieferen Luftschichten „stehenden“ Mäusebussard zu, der den formlosen Gruß jedoch unerwidert ließ.

Noch ehe die Seniorin realisieren konnte, wie ihr geschah, fand sie sich auf einer Trage der nahen Städtischen Kliniken wieder.

„Wie kommt die denn hierher?“, wunderten sich zwei durch den in der Krankenwageneinfahrt betätigten Notruf herbeigeeilte Pfleger.

Martin hingegen stieg durch die Luft in den zweiten Stock empor, wo er in einem Dienstzimmer für das überlastete Pflegepersonal noch rasch einen Stapel Pflegedokumentationen in hyperrealer Echtzeit korrigierte.

Einen Moment später saß er bereits wieder im gefälligen Business-Anzug hinter dem Steuer seines Opels, in dessen Handschuhfach sich der Szechuan-Pfeffer befand, den er bereits in der Mittagspause auf dem Markt erstanden hatte. Auf dem Weg nach Hause griff er noch mental in die Frankfurter Börsennotierungen ein und verhinderte den Ruin einiger Kleinanleger.

Ich bin wieder da, Schatz!“, rief Martin, als er die Wohnungstür aufschloss.

 

****

 

Die Kopfnuss, zu der Sybille ansetzte, beförderte den chinesischen Imbiss-Besitzer in die Ohnmacht. Auch hier bediente sie sich am Bargeldbestand und zusätzlich am stilistisch abweichenden Gewürzschrank, der mit der Kopie eines japanischen Farbholzschnittes beklebt war.

Den bewusstlosen Imbiss-Besitzer setzte sie neben den Pappaufsteller, der einen kantonesischen Drachen zeigte, entblößte das Geschlechtsteil des ersteren und strich es mit scharfer FungGong-Sauce ein. „Schönes Leben noch, Mao!“, flüsterte sie, während sie zu einer weiteren Kopfnuss ansetzte.

Mehrere FlicFlacs und den Weg durch das Wurmloch später kletterte sie von der Balkonbrüstung, legte den gestohlenen Szechuan-Pfeffer in den Küchenschrank und tauschte Cape und Maske gegen ihr Strickzeug.

„Ich bin wieder da, Schatz!“, hörte sie Martin rufen, als dieser die Wohnungstür aufschloss, und:

„He, was ist das für Geld hier im Flur?“

„Der Erlös vom Wohltätigkeitsbasar neulich“, rief Sybille Richtung Flur.

„Du bist unglaublich, Hase! Und schon wieder beim Stricken. An dir ist eine Mutter Theresa verlorengegangen“, erklärte Martin, als er an die Couch trat.

Sybille erhob sich, streifte intentiös mit ihrer linken Brust seine Schulter und säuselte in sein Ohr: „Armes Dummerchen, schau, wir hatten noch Szechuan-Pfeffer im Schrank.“

„Wenn ich dich nicht hätte, Bille. Du bist mein Ying und ich dein Yang. Ich glaube kaum, dass es ein Pärchen gibt, dass sich so gut kennt, wie wir beide.“

„Du blutest ja“, wunderte sich Sybille, als sie den Ärmel seiner Anzugjacke betrachtete.

„Nein, nur ein kleiner Kratzer. Die Fahrertür klemmte. Dein neuer Lidschatten gefällt mir. Ist das pink?“

„Ja.“

„Die Farbe der Ehrlichkeit. Steht dir ausgesprochen gut.“

„Danke“, sagte Sybille, holte die kleine Flasche hervor und zog Martins Augenlider nach.

„Aha?“, wunderte dieser sich.

„Ich tue das, weil ich keinen ehrlicheren Menschen als dich kenne“, fügte Sybille an.

 

Eine statistische Untersuchung der Bertelsmann Stiftung hat gezeigt, dass die Geheimidentitäten von Superheldinnen/-helden und Superschurkinnen/-schurken auch in Beziehungen konstant intransparent bleiben. Die moderne Psychoanalyse sieht die Motivation hierzu in dem kontinuierlichen Bestreben der anonym befragten Stichprobe, normale Beziehungen führen zu wollen.