Von Daniel Büttrich

„Bitteschön! Bitteschön! Bitteschön!“

 

„Alles für eine Euro! Alles für eine Euro!“

 

Totale auf das Bezirksrathaus. Der Tag, sonnig und friedlich. Geschäfte laufen. Gespräche, so als angenehmes Nebengeräusch, im Vorbeigehen mitgenommen wie 2 Kilo Äpfel. Der goldene Helm. Nicht unweit davon fischt eine Holzgabel nach Pommes und Currywurst. Er trinkt Cola. Sein goldener Helm liegt auf isländischen Sagas, auf Egil, Vermund, Njal und Grettir und auf den Nackten von Helmut Newton. Ein Kind kotzt ins Gebüsch. Rennt zurück zur Mutter. Ein alter Mann kauft ein Lehrbuch zu Gedichtinterpretationen und Tauben im Gras von Wolfgang Koeppen. Klack-klack-klack, antiquarische Suchen nach Schallplatten, Büchern und CDs.

 

Alles läuft im Kreis, im Flohmarktkreis.

 

„Bitteschön! Bitteschön! Bitteschön!“

 

Der Krankenwagen. Einmal kommt er von links, dann kommt er von rechts gefahren. Ohne Krankenwagen kein Flohmarkt. Er trinkt die Cola aus.

 

Die Figuren am Stand erzählen. Von früheren Zeiten, von längst vergangenen Kindheiten. Von alten Helden und alten Freunden. Ein kleiner, blonder Junge im blauen Fußballtrikot stemmt die Hände in die Hüften. Unter seiner Sohle ein Lederfußball. Neben der Figur liegt eine Blechtröte. Er verharrt andächtig vor dem Stand. Minuten vergehen. Sein Herz galoppiert. Sie gehören ihm. Die Figur und die Blechtröte. Sie gehören ihm. Sein Opa hat sie ihm geschenkt. Das ist lange her, ändert aber nichts an der Tatsache, dass sie ihm gehören. Er ist glücklich, die vermissten Gegenstände wieder gefunden zu haben. Er nimmt die Figur und die Blechtröte und packt sie in seine Tasche zu den Büchern. „Sie gehören mir, klar. Sie gehören mir“, murmelt er. Geht.

 

„Bitteschön, bezahlen! Bitteschön, junger Mann! Bitteschön, hierher, bezahlen!“

 

Warum soll er für etwas bezahlen, das sein Opa ihm geschenkt hat? Etwas, das ihm persönlich so viel bedeutet und lieb und teuer ist. Etwas, das ihm gehört. Das ist unlogisch, denkt er.

 

„Junge Mann, Moment! Stehenbleiben!“

 

Er beschleunigt. Seine Schritte passen sich seinem Herzschlag an. Er galoppiert.

 

Eine Tür wird zugeschlagen. Eine Stimme ist lauter und erregter als die Stimmen der Anderen. Die Stimmen der Anderen!, denkt er. Seit zwei Wochen: Die Stimmen der Anderen. Seine eigene Stimme: Eine einzelne Schneeflocke, die sich behutsam auf ein Dachfenster legt. Er sitzt im Korbsessel und folgt. Er folgt dem Ablauf von Handlungen. So hat er es gelernt, so hat es ihm jemand beigebracht.

Situationen. Umgebungen. Auch Ängste, ja. Im Keller mag er nicht sein. Er mag kleine Räume im Erdgeschoss. Mit dem Blick auf Bäume. Er mag es, nicht erkannt zu werden und einer Person zuzuhören, um dann kurz zu antworten, wie es ihm geht. Achtsamkeit übersetzt er mit Ruhe. „Ich habe mir eine Kathedrale gebaut“, sagt er. „Die ist unsichtbar. Sie gehört mir, und ich ziehe mich in sie zurück, wenn das Leben zu sehr in mich eindringt. Wenn ich überflutet werde. Es gelingt mir nicht immer, im richtigen Augenblick in die Kathedrale zu fliehen. Habe ich fliehen gesagt? Ich lege nicht jedes Wort aus, weil: Ich schaue gerne in die Ferne.“

 

Vor dem Gebäude stehen rauchende Menschen. Rauchergespräche, Raucherlachen, Rauchergemeinsamkeiten. Sie schlagen die Zeit nicht tot. Sie rauchen die Zeit tot. Kippen häufen sich zu einem Berg. Er streift vorbei, niemand sieht ihn. Niemand. Er läuft. Die ersten Meter läuft er mit den Kippen und den Stimmen, er folgt den Handlungen. Er sitzt im Korbsessel. Dann steht er auf. Seine Schritte. Der Wald. Einsamkeit. Es ist so befreiend, dort zu sein, wo man nichts erklären muss. Die Einsamkeit fragt nicht. Legt nicht fest auf eine Rolle. Nimmt auf. Wie eine gute Mutter, wie ein guter Vater, wie der Himmel und das Meer. Einsamkeit kann wie ein verständnisvoller Freund sein, an guten Tagen. Einsamkeit kann aber auch der größte Feind sein. Es kennt beides.

 

Er läuft. Das Rathaus liegt weit hinter ihm. Er läuft an seiner Mutter und an seinem Vater vorbei, und erkennt sie nicht. Er läuft an einer früheren Lehrerin vorbei, und erkennt sie nicht. Er läuft an Mitschülern vorbei, und erkennt sie nicht. Er läuft durch eine Unterführung. Hier ist es kühl. Er erinnert sich.

 

Die Hitze. Die Aschenbahn. Sein Vater auf dem Rasen. Er wartet auf seinen Einsatz. Er hat Luft, viel Luft. Der Vorläufer in seiner Staffel kämpft. Mit der Hitze, mit dem Seitenstechen. Dann kommt er. Er packt das Staffelholz. „Du bist leicht wie eine Feder.“ Er ist eine Feder. Er rennt über die Asche. Die Asche, das ist der kleine Raum im Erdgeschoss, die Tartanbahn, das ist der Keller. Er merkt, wie ihn jeder Schritt dem Zweitplatzierten näher bringt. Er wird ihn einholen, das weiß er. Herz und Kopf sind frei. Er überholt den Zweitplatzierten. Ein Läufer ist noch vor ihm. Er hatte eine halbe Bahn Vorsprung. Nun sind es noch wenige Meter. Er übergibt das Staffelholz. Jetzt erst merkt er, dass er sich verausgabt hat. Er geht in die Knie, ihm ist schwarz vor Augen. Er läuft auf seinen Vater zu. Sein Vater ist stolz auf ihn. Ein Mann kommt. „Dein Junge ist ein super Läufer. Respekt.“ Seine Staffel gewinnt. Seitdem ist er nie mehr auf Asche gelaufen. Und seitdem vermisst er Aschenbahnen, die Farbe, den Geruch.

 

Er läuft. Mit der Tasche um den Hals. Ohne Ziel. Über Ampeln, vorbei an Taxis und Bussen, vorbei an Geschäften und Restaurants. An guten Menschen, an schlechten Menschen, an freundlichen und bösen Blicken, an beharrlichen Flaschensammlern und modischen Trendsettern. An dummen Sprüchen und klugen Worten. Geht ihn alles nichts mehr an. Er wird laufen, bis es nicht mehr weiter geht. Und dann liegen, so lange er liegen kann.

 

Er läuft an die Seitenlinie. Der Ball verfehlt ihn knapp. Die geübten Werfer rufen „Zu mir!“, und strecken sich. Als ob es darum ginge, sich zu melden und vom Lehrer aufgerufen zu werden. Links, rechts, links, rechts! Er taucht unter dem Ball durch. Und wieder! Er wirft sich auf den Boden. Er ist der letzte Verbliebene. Zisch! Das war sehr knapp. Er tänzelt leichtfüßig. Und jetzt läuft er. Er verlässt das Spielfeld, und läuft auf den Rasen des Fußballplatzes. Der Lehrer ruft: „Wo willst du hin?! Bist du wahnsinnig geworden?! Die Stunde ist noch gar nicht zu Ende! Komm zurück!“ Er läuft weiter. Hat er sich für eine Bewegung entschieden, bleibt er dabei. Er wird nach Hause laufen.

 

Er läuft durch die dunkle, hell erleuchtete Stadt. Metropolis.

 

„Bitteschön!“ „Ihr könnt nach Hause fahr’n, ihr könnt nach Hause fahr’n!“ „Ich werde Chinesisch lernen“. „Nichts als Buchstaben und Zeichen, an die Wände gemalt.“ „Antagonistisch.“ „Du Hurensohn, lauf nicht weg!“ „Worüber lachen die Leute? Noch schwieriger, weil sie es fast nie in der Öffentlichkeit machen: Worüber weinen sie? Will ich es wirklich wissen?“ „Aufmerksamkeit als Währung unserer Zeit. Es ist keine kranke Zeit. Zeiten können nicht krank sein, nur Menschen und sonstige Lebewesen.“ „Soll ich nicht wenigstens etwas Ungesundes essen, wenn ich schon zu müde bin, um etwas Gesundes zu essen?“ „Ich bin glücklich, weil ich laufe, und ihr seid unglücklich, während ihr auf den Bus wartet? Habe ich recht?“ „Sie irren sich, mein Herr, heute ist keine Kinovorstellung mehr.“ „Come with me and enjoy, I am your friend!“

 

Ein junges Mädchen liegt reglos auf dem Boden. Eine Traube von Menschen. Sie atmet, oder? Das war vor zwei Tagen. Er merkt, dass er seinen Helm verloren hat.

 

Der Wecker klingelt. Es ist 12 Uhr. Jemand, sie ist weiblich, hat ihm eine Suppe zubereitet.

 

„Probierst du die Jacke an, die ich dir gestern gekauft habe? Ich denke, sie wird dir stehen.“

 

Wofür?, denkt er sich. Er verlässt seine Wohnung kaum noch. Er probiert die Jacke an, ihr zuliebe.

 

„Passt perfekt!“

 

„Sehr schön.“

 

Er isst die Suppe.

 

„Was für ein Tag ist heute?“

 

Keine Antwort. Die Wohnung ist leer. Er wundert sich nicht mehr. Soll er sich wundern? Nein. Es passiert oft, dass keiner antwortet.

 

„Vermisst du sie?“, fragt sie.

 

Sie ist gar nicht da, trotzdem fragt sie ihn. Er wundert sich nicht. Er wundert sich über nichts mehr.

 

Er überlegt.

 

„Ja, ich vermisse sie. Ich vermisse die Aschenbahn. Ich vermisse es, wie mir schwarz vor Augen wird. Aber am meisten vermisse ich den, der am Ende der Bahn auf mich wartet. Ja, ich vermisse ihn.“

  

 

Als Hikikomori (jap. ひきこもり引き籠もり oder 引き篭り, „sich einschließen; gesellschaftlicher Rückzug“) werden in Japan Menschen bezeichnet, die sich freiwillig in ihrer Wohnung oder ihrem Zimmer einschließen und den Kontakt zur Gesellschaft auf ein Minimum reduzieren. Der Begriff bezieht sich sowohl auf das soziologische Phänomen als auch auf die Betroffenen selbst, bei denen die Merkmale sehr unterschiedlich ausgeprägt sein können.

 

International wird eine ähnliche Symptomatik im ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation als Sozialphobie (F40.1) oder als ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung (F60.6) beschrieben.

 

Eine ähnliche Form des gesellschaftlichen Rückzugs stellen die so genannten NEETs dar (Not in Employment, Education or Training). Mit dieser in Großbritannien entstandenen, mittlerweile aber auch in ganz Asien verwendeten Abkürzung werden Personen bezeichnet, die weder arbeiten, studieren noch sich weiterbilden wollen und sich von ihren Eltern aushalten lassen.

(wikipedia)

 

– 2. Version –