Von Raina Bodyk
Luise hängt seufzend auf der blühenden Streuobstwiese hinter dem stattlichen Bauernhaus ihre Wäsche auf. Ein Jahr ist es her, dass sie mit ihren drei Kindern von der Volkswohlfahrt hierher nach Franken geschickt wurde, um dem Luftkrieg über Hamburg zu entgehen.
Die unfreundlichen Bauersleute lassen sie ihre Abneigung gegen die aufgezwungene Einquartierung deutlich spüren. Oft gehen sie hungrig ins Bett, obwohl die bäuerliche Speisekammer ordentlich gefüllt ist. Luise will nicht betteln. Gut, dass Dieter, mit seinen elf Jahren der Älteste, gern im Main angelt.
Zwischen den knorrigen Apfelbäumen sieht sie den Bürgermeister des Ortes auf sich zueilen. Sie ahnt Schlimmes und erstarrt. Er bringt die lange befürchtete Nachricht: Ihr Mann Erwin ist seit dem letzten Gefecht in Russland vermisst.
Weinend ruft sie die Kinder zusammen und erklärt unter Schluchzen, was passiert ist.
„Mama, was ist ‚vermisst‘?“, fragt die kleine Anna und drückt ängstlich ihre Puppe Laura an sich.
„Das ist, wenn jemand verschwunden ist und man ihn nicht mehr findet. Auch nicht, wenn man ihn ganz lange sucht. Manchmal taucht ein vermisster Soldat wieder auf, manchmal aber auch nicht.“
„Du meinst, er ist dann tot?“, wispert Willi.
„Wir wollen die Hoffnung nicht aufgeben. Vielleicht ist er nur verletzt und jemand kümmert sich um ihn.“
„Aber was ist, wenn er sein Gedächtnis verloren hat? Wie soll er uns dann finden?“, fragt Hans besorgt.
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Galina wischt sich den Schweiß von der Stirn. Das Bücken beim Kartoffelpflanzen schmerzt im Rücken. Plötzlich erschrickt sie fast zu Tode. Unter den Bäumen vor ihrer Datscha kauert jemand. Sie hat schlimme Gerüchte gehört, was herumstreunende Marodeure mit Frauen machen.
Der Mann trägt eine mit Blut und Dreck verschmierte Uniform. Ein Deutscher!
Aber etwas stimmt nicht mit ihm. Sie hört, wie er unverständliches Zeug vor sich hin murmelt. Sein ganzer Körper zittert, seine Hände fahren immer wieder über sein Gesicht. So etwas hat sie schon gesehen – bei russischen Soldaten. Das macht der Krieg aus Männern.
Mitleidig, aber vorsichtig nähert sie sich, streckt eine Hand aus und spricht beruhigend auf ihn ein. Was, ist egal. Er versteht es wahrscheinlich sowieso nicht.
„Ajda – komm!“
Der Mann zuckt erschreckt zurück, als er die Stimme hört. Galina geht ganz langsam auf ihn zu. Sie fasst seine Hand und zieht ihn mit sich. Sie fühlt seine Angst, sieht sie in seinen Augen. Ob ihr Mann das auch erleben musste, bevor ihn eine Panzerfaust tötete? Sie hasst die Deutschen dafür. Aber dieses Häufchen Elend entspricht so gar nicht ihrem Bild vom Feind. Vielleicht hat auch er irgendwo eine Frau und Kinder, die er liebt und die er wiedersehen möchte. Die Kleinen bezahlen doch immer die Zeche. Er scheint nicht mal eine Waffe bei sich zu haben.
In ihrem Häuschen zieht sie ihm erst einmal die Uniformjacke aus und kümmert sich um die Wunden auf seiner Brust. Sie brüht einen Tee mit Kräutern aus ihrem Garten auf, gibt ihm zu essen. Dann bedeutet sie ihm mit Gesten, sich auf das Sofa zu legen und zu schlafen. Er sieht sie zögernd an, eine Spur von Misstrauen zeigt sich in seinen starren Zügen. Dann zuckt er die Achseln. Ist er so erschöpft oder ist es ihm egal, ob ihn russische Soldaten erwischen?
Er hält Galina seine Hände mit den Handflächen nach oben hin, will demonstrieren, dass sie nichts zu befürchten hat. „Spasibo – Danke!“, stottert er. Dieses Wort hat er unterwegs aufgeschnappt.
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„Du Igor!“, zeigt sie mit dem Finger auf ihn. Ein kleiner Schachzug, falls doch mal jemand vorbeikommt. Sie wohnt sehr einsam, so dass hoffentlich niemand merkt, dass sie einen „Gast“ hat. Man hätte sie dafür als Volksverräterin erschossen.
Die Monate vergehen, der Deutsche wohnt immer noch bei Galina. Die Tage sind lang und heiß. Sie vertreiben sich die Zeit damit, sich gegenseitig Sprachunterricht zu erteilen. Wenn Igor sie eines Tages verlassen würde, um in seine Heimat zurückzukehren, würde er so leichter durchkommen.
Galina macht sich Sorgen. Der Fremde scheint sehr krank zu sein. Vorbeifahrende Trecker verstören ihn so, dass er sich im Stall versteckt. Sobald ein Gewitter aufzieht, ist er nur noch ein zitterndes Etwas. Er scheint in seiner eigenen Welt zu leben, ist oft abwesend, nicht ansprechbar. Er schläft schlecht. Und wenn er schläft, quälen ihn Albträume und er schreit gellend, wirft sich hin und her. Jedes kleinste Geräusch bringt ihn dazu, sich jammernd die Ohren zuzuhalten. Sie hört ihn heimlich weinen. Seine stets gegenwärtige Angst steigert sich zu Panik, sobald etwas Unvorhergesehenes geschieht, auch wenn es ganz belanglos ist.
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Igor lässt alles apathisch mit sich geschehen. Er weiß nicht, wie er hierhergekommen ist oder wo er die Kameraden suchen soll. Sein Kopf soll endlich aufhören, immer und immer wieder in seinem Innern dieselben grausigen Bilder abzuspulen.
Die Hölle von Stalingrad. Anderthalb Monate hockte er mit den Kameraden in den primitiven Unterständen, gebaut in Erdhöhlen und ausgetrockneten Gräben. Nachts saßen sie Rücken an Rücken, um sich gegenseitig in der Eiseskälte zu wärmen. Feuer war verboten, es hätte den Feinden ihre Position verraten. In der Ferne leuchtete, flackerte und blitzte es an den verschiedenen Frontabschnitten.
Der Krieg ist so unendlich laut. Ein Inferno aus endlosem Kugelhagel, Bomben und Granatenexplosionen. Ein markerschütterndes Brüllen und Kreischen, wenn die Metallgeschosse bersten. Das Pfeifen und Zischen der Projektile. Auch mit zugehaltenen Ohren hört er noch den grauenvollen Lärm. Dazu die unzähligen Toten und Verletzten überall. Blut, Schreie, Todesangst. Dazwischen Gebete, Flüche, Schluchzen. Fette Ratten, die über in Stücke gerissene Kameraden und Pferdekadaver herfallen. Die werden wenigstens satt. Die Soldaten hungern.
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Der Krieg ist vorbei. Luise hat ihren Erwin nicht wiedergesehen. All die Jahre hat sie abends mit den Kindern für den Vater gebetet. Sie hat beim Roten Kreuz nachgefragt, Suchlisten durchgesehen, Kontakt zu Kameraden ihres Mannes aufgenommen. Nichts.
Langsam findet sich die Familie damit ab, dass sie ihn wohl nie wiedersehen wird.
Luise ist jung, sie ist einsam. Irgendwann findet sie eine neue Liebe. Einen Mann, den auch ihre Sprösslinge mögen. Sie heiratet ihn. Das Leben geht weiter.
Luise erzählt den Kindern oft von ihrem Vater, damit sie ihn nicht vergessen, zeigt ihnen alte Fotos.
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Sieben Jahre nach Kriegsende erreicht sie ein Brief aus Russland mit unbekanntem Absender.
Liebe Frau Luise,
du denken, dass deine Mann tot ist in Krieg. Aber war nicht tot. Er wohnte mit mir in meine Datscha. Ich ihn Igor genannt. Jetzt er gestorben. Hat Leben nicht mehr ausgehalten. Ich nicht kann so gut erklären in deutsche Sprache. Er war ein guter Mann, aber sehr krank in Seele. Er nicht konnte kommen zurück zu dir. Als ich seine Sachen wollte wegräumen, ich gefunden ein Brief für dich. Ich schicken. Dann du vielleicht wissen, warum er geblieben hier.
Grüßt dich Galina aus Solodniki
Luises Hände zittern. Das ist nicht wahr! Erwin soll den Krieg überlebt haben und jetzt gestorben sein? Selbstmord, wenn sie richtig verstanden hat? Warum hat er sich nicht gemeldet? Sie hätte doch nie ein zweites Mal geheiratet, wenn sie das gewusst hätte. Sie hätte gewartet. Sie fühlt sich wie vor den Kopf geschlagen.
Im Briefumschlag ist ein zweites Blatt. Sie wagt nicht, es herauszunehmen. Sie hat Angst, auch wenn sie selbst nicht weiß, warum.
Sie braucht jetzt ihre Familie. Gemeinsam am Tisch liest sie ihnen Galinas Brief vor. Geschockt und verwirrt schauen sie die Mutter an. Das muss doch ein Irrtum sein?
„Und was hat Papa geschrieben?“, fragt Anna scheu. Die Gefühle, die spürbar in der Luft liegen, schüchtern sie ein. Sie selbst kann sich kaum an den Vater erinnern.
„Ich habe mich noch nicht getraut, den Brief aufzumachen. Ich wollte euch bei mir haben.“
Dieter ermutigt seine Mutter betont forsch: „Wir sind da. Lies vor.“
Liebste Luise und Kinder,
ja, ich habe überlebt. Aber den Mann, den ihr gekannt habt, gibt es nicht mehr. Der Krieg hat ihn zerstört. Manchmal denke ich, ich bin nur noch eine Hülle, innerlich tot. Ich bin so müde und matt, möchte am liebsten einschlafen und nie wieder aufwachen. Dann ist endlich Frieden.
Irgendwie bin ich bei Galina gelandet. Sie ist eine herzensgute Frau, die ich sehr gern habe. Sie hat mich mit ihrer Einfachheit und Güte gerettet. Sie weiß, dass ich sie nicht liebe. Aber sie bleibt trotzdem bei mir. Hier an der Wolga ist es so friedlich.
Ich hätte mich nie mehr in unserem alten, „normalen“ Leben zurechtfinden können. So tun, als wäre alles wieder in Ordnung, obwohl nichts in Ordnung ist. Arbeiten gehen, sich über Nichtigkeiten unterhalten, das Dach reparieren … Das erscheint mir alles so unendlich weit weg, so banal, so unwirklich.
Verzeiht mir. Ich liebe euch und habe euch niemals vergessen.
Dein Erwin. Euer Vater
PS: Liebe Kinder, eins muss ich euch noch sagen: Ihr habt noch einen Bruder und eine Schwester in Russland. Seid nicht böse auf sie. Es sind sehr herzliche Menschen.
Was für leidvolle Worte! Die vier sind berührt, schockiert, traurig, wischen sich die Tränen aus den Augen. Ganz verstehen sie nicht, was in ihm vorgegangen sein muss. Das kann nur einer verstehen, der es selbst erlebt hat.
Die Kinder waren damals noch so jung, kennen ihn mehr aus den Erzählungen als aus eigener Erinnerung. Es ist so viel Zeit seither vergangen.
In Luises Kopf herrscht Chaos. Sie hat einen neuen Mann, hat Erwin aber nie vergessen. Es tut ihr in der Seele weh, wenn sie sich vorstellt, wie fürchterlich er gelitten haben muss. Sie braucht Zeit, das Ganze zu verarbeiten.
Willi erholt sich zuerst von der Überraschung: „Das ist ja mal was! Geschwister in Russland! Ich glaub es nicht!“
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Ein Jahr ist vergangen. An der Wolga blühen die Kirschbäume. Träge fließt der Fluss dahin. Der Blick geht in die endlose Weite.
Galina backt Pfannkuchen, die sie mit Butter, Käse und Gemüse bestreicht, und stellt einen Riesenteller davon auf den Tisch für ihre Gäste aus Deutschland.
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