Von Anni Spreemann

Wütend schritt Julia über den Gendarmenmarkt, ohne den umliegenden historischen Gebäuden Beachtung zu schenken. Mit einer Hand umklammerte sie den Griff ihres Instrumentenkoffers und mit der anderen zog sie sich die Kapuze weiter ins Gesicht, um sich vor den dicken Regentropfen zu schützen. Der peitschende Wind passte zu ihrer Laune. Genervt umrundete sie zwei unter einem roten Regenschirm posierende Touristen. Die Pfütze auf dem Boden war tiefer als erwartet. Kaltes Wasser drang in ihren rechten Schuh und Julia verzog den Mund. Einen Großteil ihrer Lebenszeit hatte sie sich in ihrem Kinderzimmer eingesperrt und täglich für die Aufnahmeprüfung geübt. Tonleitern, Sprünge und Registerwechsel. Ihr ganzes Dasein war auf das Ziel gerichtet, in einem berühmten Orchester zu spielen und mit den Sinfonien großer Komponisten zu verschmelzen. Die erste Hürde, einen Platz an der UdK in Berlin, hatte sie bereits geschafft. Endlich war sie unter Gleichgesinnten.

Doch jetzt?

Jetzt waren die Übungsräume leer und in den Gängen regierte Schweigen. Das gemeinsame Musizieren fehlte ihr. Seit einem Jahr gab es nur sie und die Klarinette. Julia hatte sich noch nie so einsam und verloren gefühlt und war wütend. Wütend auf die Welt, die nicht mehr so war, wie sie sein sollte.

Julia stürmte die U-Bahntreppe hinunter. Gedankenverloren leckte sie die kalten Tropfen von ihren Lippen, setzte ihre Tasche auf der Bank ab und zog ihre Kapuze nach hinten, damit nicht weitere Wassertropfen auf den Rucksack fielen. Sie zog die verirrte Haarsträhne aus ihrem Mund und kontrollierte den Zustand ihrer soeben erhaltende Prüfungsnoten. Sie waren trocken und unbeschadet geblieben. Julia unterdrückte den Impuls mit ihren klammen, feuchten Händen hineinzugreifen und die Noten zu studieren. Stattdessen verschloss sie den Rucksack und holte ihre In-Ear-Kopfhörer hervor.

Ein Blick auf die Anzeigetafel verriet, dass die nächste Bahn in 2 Minuten einfuhr. Julia erhöhte die Lautstärke, da sie die lärmenden Kinder nicht mehr ertrug, die beim Süßigkeitenautomaten Fangen spielten. Die beiden Jungs waren höchstens fünf oder sechs Jahre alt. Eindeutig verzogene reiche Gören aus Berlin Mitte. Sie erinnerten mit ihren Pausbacken und verschwitzten Locken an kitschige Engelsgesichter, die in katholischen Kirchen die Wände schmückten. Nur die Klamotten passten nicht dazu. Beide waren schick zurechtgemacht, als kämen sie von einem Familienbesuch oder aus dem Konzerthaus. Doch das konnte nicht sein. Konzertmusik wurde durch Stille ersetzt. Ihre Künstlerseele zog sich bei diesem Gedanken schmerzvoll zusammen. Ein Konzerthaus ohne Musiker war wie ein Spielplatz ohne Kinderlachen. Unnatürlich, kalt und unmenschlich.

Wehmütig strich Julia über ihren Instrumentenkoffer. Ihre Klarinette war für sie wie eine Katze. Selbst Prokofjew hatte das erkannt. Entweder war sie wie ein Schmusekater: weich, samtig, gemütlich, gerade zu träge, mit satten, tiefen Klängen oder flink und angriffslustig wie ein gefährlicher Jäger auf der Suche nach der nächsten Maus. Ihr schwarzes Holz und die silbernen Klappen vollendeten ihre Anmut. Julia dachte an die Prüfungsstücke. 28 Tage waren wenig Zeit. Debussy, Mozart und Bartok. Alles Solostücke. Nicht mal ein Duett. Zu riskant, meinten die Prüfer. Zu viele Menschen in einem Raum. An ihrem großen Tag durfte sie nur zwei Personen mitnehmen. Es würde ein bescheidenes Konzert. So hatte sie sich ihre Prüfung nicht vorgestellt. Neidvoll hatte sie im ersten Studienjahr die Programme der Absolventen studiert und ehrfürchtig im vollbesetzten Saal den Klängen gelauscht. In vier Wochen spielte sie einzig für drei Hanseln, deren Applaus traurig an den Wänden abprallen würde.

Die plärrenden Kinder drangen weiter in ihr Bewusstsein. Ihre Stimmbänder bedienten sich einer Frequenz, die man nicht abschirmen konnte. Julia gab es auf und räumte die Kopfhörer weg. Verärgert suchte sie nach den Eltern der Rabauken. Eine Frau hob ihre nachgezogenen Augenbrauen und wandte den Blick ab. Auf den Bänken lungerten drei Schulkinder, die ebenfalls vor dem Regen geflüchtet waren. Etwas abseits stand ein Mann. Seine verwuschelten Haare waren mit grauen Strähnen durchsetzt. Er sah in das schwarze Loch, aus dem die U-Bahn gleich hervorkriechen würde. Seine Arme hingen herab, als gehören sie nicht zu seinem Körper. Der vollgestopfte Trekkingrucksack passte nicht zu seinem eleganten Anzug. Er wirkte fehl am Platz. Ein tiefes Grummeln kündigte die Bahn an und der gelbe Wurm fuhr in den Bahnhof ein. Der hohe Ton des Motors sank, wie ein Seufzer nach unten, sobald die Bremsen zogen.

Geschwind schritt Julia durch die Tür. Der Mann und die Kinder folgten ihr. Die Jungs schnappten sich die leere Stange in der Mitte und spielten kreischend Karussell. Die Fahrgemeinschaft schaute auf. Das Mädel am Handy, die Frau mit ihrem E-Book-Reader, ein Herr mit Hut und zwei Damen. Sie alle glotzten auf die beiden Knaben und signalisierten Missbilligung. „Solch unjezogene Bengel hat´s früher nich jegeben!“, sagte die eine Dame zur anderen, ohne ihre Stimme zu senken.

Der Vater der Kinder, jedenfalls nahm Julia an, dass es der Vater war, starrte regungslos auf den Boden als warte er auf irgendetwas. Julia wandte sich von der Szene ab und ergab sich der Verlockung in ihrem Rucksack. Die Noten zogen sie magisch an, wie Schokolade Kinder zu sich lockte. Mit klopfendem Herzen holte sie den Notentext hervor. Das Papier verströmte den Geruch von frisch gedruckten Seiten. Den Bela Bartok kannte sie. Den Debussy nicht. Schnelle Läufe, Taktwechsel, große Sprünge und wenig Atemzeichen wiesen auf die kommenden Herausforderungen hin. Debussys impressionistische Werke verschwimmen wie die Bilder von Cézanne und Monet. Die Melodien durften weder von der Taktart noch Tonart eingesperrt werden, sondern waren frei, wie der Wind und luden den Hörer zum Träumen ein. Forschend überflog Julia den Mozart, der ein Fan der Klarinette gewesen war und für sie zahlreiche Konzerte komponiert hatte. Hier war die Schwierigkeit, die technischen Anforderungen in eine naive, geradezu kindliche Leichtigkeit zu verpacken.

Ein wilder Schrei riss Julia in die Wirklichkeit zurück. Die Kinder spielten Tiger und brüllten fleißig um die Wette. Julia warf einen Seitenblick zum stummen Vater. War antiautoritäre Erziehung noch modern? Die Ansage verriet, dass sie gleich aussteigen musste und räumte sorgfältig ihre Prüfungsnoten in ihre Tasche. Sie stellte sich zur Tür. Auch der Mann erhob sich. Seine Kinder verstummten und nahmen ihn bei der Hand. Diese plötzliche Nähe zwischen den Jungs und deren Vater irritierte Julia. Gemeinsam traten sie auf den Bahnsteig. Sie lösten sich von ihm, kletterten auf die Sitzbank und setzten ihr Tigerspiel fort. Der Mann blinzelte und sah beiden an.

„Geht es Ihnen gut?“, rutschte die Frage aus Julias Mund. Sie wusste nicht warum. Es ging sie nichts an. Sie konnte nichts dafür, dass die Kinder so schlecht erzogen waren und der Mann überfordert. Sie hätte ihm auch nicht helfen können. Langsam drehte er seinen Kopf zu ihr und Julia bereute bereits ihre Aufdringlichkeit.

Er schüttelte den Kopf und sie bemerkte zum ersten Mal seine traurigen Augen. Die Bahn fuhr dröhnend weiter. Die anderen Passagiere erklommen die Treppen. Nur sie vier standen im gelbgekachelten Tunnel. „Ihre Mutter ist soeben im Krankenhaus verstorben… Allein“, sagte er tonlos und sah wieder zu seinen Kindern. Betroffen folgte Julia seinem Blick und sah nicht mehr zwei unartige Rabauken, die tobten. Sie erkannte, dass ihr Spiel die beiden in eine andere Welt rettete, damit sie nicht hier sein mussten, damit die Realität sie nicht genauso erschlug wie ihren Vater.

Julia hatte letztes Jahr ihren Opa verloren. Herzstillstand. Sie hatte geweint. Sie vermisste ihn noch immer. Aber das? Das war grausam. Sie wollte dem Mann helfen und wusste zugleich, dass es unmöglich war. Keine Worte der Welt spendeten ausreichend Trost. Bedächtig schritt sie von der Bahnsteigkante weg, öffnete den Koffer und baute ihr Instrument zusammen. Die Tigerjungen warfen interessiert einen Blick in ihre Richtung und fauchten. Julia holte Luft und spielte, spielte mit dem Herzen und ihrer Seele alle Lieder und Melodien, die ihr in den Sinn kamen. Die Katze von Prokofjew, das Schlaflied von Brahms, die Sonate von Haydn. Julias Finger tanzten über die Löcher und Klappen und ihr Atem strömte durch das Instrument. Sie beobachtete, wie die Tigerjungen zu Kindern wurden, zu ihrem Papa liefen, sich an ihn klammerten und lauschten. Sie wirkten verloren.

Die Luft um sie herum vibrierte und hallte durch den einsamen U-Bahnhof. Julia umhüllte die Familie mit ihrer Musik und schenkte ihnen ein wenig Liebe wie ein Gute Nacht Kuss. Als die Drei längst verschwunden waren, spielte sie weiter, bis ihr zitternder Körper sie daran hinderte. Draußen begrüßten sie die Sterne

Vier Wochen später stand Julia auf der leeren Bühne, in dem totenstillen Gebäude, vor den Professoren und ihren beiden ausgewählten Gästen. In den letzten Tagen begleitete sie Verzweiflung und Nutzlosigkeit. Kein Opernhaus oder Orchester suchte Musiker. Ihre Träume waren in unbekannte Ferne gerückt. Nach ihrer Prüfung würde sie arbeitslos sein. Für die Gesellschaft verzichtbar. Einzig der Vater mit seinen Söhnen hatte ihr geholfen an sich, nein, an die Musik zu glauben. Hatte Julia daran erinnert, dass die Welt die Musik brauchte. Sie war die Sprache, die keine Worte benötigte, die unser Innerstes berührte und die Seele tröstete.

Julia holte tief Luft und setzte das Instrument an ihre Lippen. Sie bemerkte nicht den Raum oder die Professoren. Sie dachte an ihren Opa und die kleine Familie und spielte für sie.

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