Von Eva Fischer

Ich spüre den Keks in meiner Jackentasche. Ich weiß nicht mehr, wann ich ihn zum Cappuccino geschenkt bekommen habe, wann ich ihn verschmäht habe und warum, wie lange ich ihn schon bei mir trage. Er zerbröselt zwischen meinen Händen wie unsere Freundschaft. 

Ich schaue aus dem Fenster der S-Bahn. Es ist ein trüber, grauer Tag und außer endlosen Wiesen gibt es nichts Spannendes zu sehen.

Ich muss es wissen, denn ich fahre diese Strecke täglich zu meinem Arbeitsplatz. Jede dieser acht Stationen könnte ich auswendig aufsagen, falls das in einem Quiz gewünscht würde und mir Ruhm einbrächte. Wie viele Romane habe ich schon im Laufe der Zeit auf dieser Strecke gelesen, die exakt einunddreißig Minuten dauert!

Seit siebzehn Minuten tut sich hier gar nichts mehr. Die S-Bahn hat leicht geruckelt, als wolle sie zum Sprung anheben, aber dann blieb sie stehen.

Motorenversagen?

Ein Verrückter läuft Amok?

Bitte verhalten Sie sich ruhig und bleiben Sie auf Ihren Plätzen! Nein, es kommt keine Durchsage und wir Fahrgäste schauen uns ärgerlich an. Der Anzugmann schimpft laut, denn er verpasst jetzt vermutlich sein Flugzeug. Der nächste Halt wäre Flughafen gewesen. Was soll ich tun? Ich greife zum Handy und informiere meinen Chef, dass ich quasi auf dem Rollfeld des Flughafens feststecke. Jetzt könnte ich in Ruhe weiterlesen, aber auch ich kann mich nicht mehr konzentrieren, will gerne wissen, warum es nicht weitergeht. Doch der Lautsprecher bleibt schweigsam, nicht so die Passagiere. Personenschaden wird gemutmaßt. Ein Unwort, wenn man bedenkt, was dahintersteckt. Ein armer Verzweifelter, der keinen Sinn mehr im Leben sieht. Ob das Leben Sinn macht, ist sowieso fraglich. Würde er sich eine Woche später auch noch umbringen wollen?

„Konnte er nicht warten, bis ich mein Ziel erreicht habe“, schimpft der Anzugmann und die Jeansfrau gibt ihm recht. Warum sprechen sie von einem Er? Auch eine Sie könnte sich auf die Schienen legen, um ihr Leben zu beenden. 

Meine Gedanken kehren zurück zu meiner Freundin Lea. Wie schön wäre es, wenn sie jetzt neben mir säße, wir uns wie früher über Gott und die Welt streiten könnten, aber nein, sie musste wegziehen. England lockte sie. Schon immer. Und dann hat sie einen gut bezahlten Job in London bekommen und weg war sie. „Du setzt dich ins Flugzeug und kommst mich besuchen“, meinte sie. So weit die Theorie. In der Praxis sieht es leider anders aus.  

Seit einer halben Stunde sitzen wir nun schon fest und die mürrischen Stimmen der in der Bahn Gefangenen werden immer lauter. Da knackt es endlich im Lautsprecher. „Entschuldigen Sie bitte die Störung. Eine Weiterfahrt ist im Moment nicht möglich. Wir bitten Sie noch um etwas Geduld.“

Ich schließe meinen Roman. „Ash Wednesday“ von Ethan Hawke, falls jemanden der Titel meiner Lektüre interessiert. Eigentlich will ich mein Englisch aufpolieren. Eigentlich will ich schon seit Monaten nach London fliegen. 

Ich schaue auf das Rollfeld, das merkwürdig leer aussieht. Wo sind die Flugzeuge geblieben? Wird hier Prominenz  erwartet und der Flughafen ist deshalb gesperrt worden? Gab es einen Anschlag auf einen Flieger in der Luft und hat man deshalb die Flüge gestoppt? Ich beobachte den Anzugmann, der wie wild auf seinem Handy herumtippt. Weiß er mehr?

Da ruckelt es wieder und die S-Bahn fährt rückwärts. Sind Sie schon jemals rückwärts in einer Bahn gefahren? Es fühlt sich komplett „weird“ an, wie der Engländer sagen würde. Freundlicherweise bekommen wir noch eine Erklärung:

„Achtung! Achtung! Wir fahren Sie jetzt zurück zur letzten Haltestelle, da eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg entschärft werden muss und die Strecke bis auf weiteres gesperrt ist. Dort warten Busse auf Sie, die Sie zu Ihrem Ziel bringen. Wir wünschen Ihnen eine gute Weiterfahrt und danken Ihnen für Ihr Verständnis.“

*

Die Londoner Underground, „the tube“, ist die älteste U-Bahn der Welt. Wie ein Maulwurf pflügt sie sich durch die zahlreichen, dunklen, unterirdischen Schächte der Millionenstadt. Nur die Scheinwerfer der Bahn erleuchten die Gleise, auf denen die Bahn vom Autoverkehr verschont bleibt und so ungebremst dahindonnern kann. Die Passagiere fahren täglich den gleichen Weg zur Arbeit. Sie schauen gleichgültig auf ihr Handy oder in ihre Zeitung. Sie haben keine Angst, dass die Bahn plötzlich nicht mehr weiterfährt, sie lebendig in der Tiefe begraben werden könnten. 

Ich hole tief Luft und hoffe, dass mir keine Panikattacke die Luft zum Atmen nimmt. Drei Jahre ist es nun her, dass ich Lea nicht mehr gesehen habe. Stattdessen tippten wir nichtssagende, austauschbare WhatsApp Nachrichten in unsere Handys, als seien wir Fremde und nicht Freundinnen, die seit der Kindheit jedes Geheimnis miteinander geteilt haben. 

Lea konnte nicht wissen, dass mich die Depression aus dem Nichts überrollte. Wie auch! Ich habe sie ihr verschwiegen, hätte sie ihr nicht verständlich machen können, verstand selbst nicht, was da mit mir passierte. Sie glaubte, ich gönne ihr London nicht, war beleidigt, dass ich sie nicht besuchte, meinte, ich wäre neidisch auf ihr neues Glück. Ihre Besuche bei mir suchte ich unter einem Vorwand abzuwehren.

Ich muss durch den Tunnel meiner Scham, ihr endlich gestehen, dass ich nicht Ferien auf Sylt gemacht habe, sondern dass ich vier Wochen in einer psychiatrischen Klinik verbracht habe.

„Vero, warum gerade du?“, wird sie mich fragen. „Du warst doch immer der Klassenclown, die Lustigere von uns beiden.“ 

„Ich habe versucht, die dunkle Wolke über mir zu verscheuchen, aber sie war hartnäckig. Irgendwann habe ich den Kampf verloren, doch jetzt bin ich geheilt, hörst du, Lea! Jetzt komme ich wieder zu dir. Wir können einen Neuanfang starten. Streichen wir einfach die letzten drei Jahre! Reißen wir sie raus wie die verpatzten Seiten aus einem Heft!“

„Next stop Regent’s Park.“ 

Ich nehme meinen Koffer und stelle mich vor die Ausgangstür, die mir brummend den Weg frei macht. 

„Mind the gap!“, tönt es aus dem Lautsprecher. Ich schaue auf den Spalt zwischen der Bahn und dem Bahnsteig. Manchmal genügt ein kleiner Spalt, um zur tödlichen Falle zu werden. Manchmal schreitet man leichtfüßig darüber hinweg.

Da sehe ich Lea auf dem Bahnsteig stehen. Ihre Augen leuchten auf, als sie mich entdeckt. Meine Lea, die so viele Erinnerungen in mir wachruft! Wir umarmen uns, als hätte es nie diese Kluft zwischen uns gegeben. 

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