Von Siefried Reitzig
Man hatte mich aufgefordert, zu warten.
Ich bin allein im Raum und versuche, meine Gedanken zu sortieren und wieder ruhig zu werden, um mich auf das einzustellen, was nun passieren könnte.
Vor ein paar Stunden noch folgte ich einem uniformierten Beamten auf einer Treppe in den ersten Stock, der Polizist hatte ein großes Schlüsselbund in der Hand. Am Ende der Treppe gingen wir noch ein paar Schritte über den kargen und nur schwach beleuchteten Flur und standen vor einer verschlossenen Gittertür, deren Anblick mich zunächst an einen Käfig, dann aber an eine Gefängniszelle denken ließ. So etwas hatte ich nicht erwartet, und als der Beamte die Tür aufschloss, beschlich mich ein leises Gefühl der Angst und ich fragte mich, wohin ich denn jetzt wohl geraten sei. Wir traten durch die Gittertür und als der Beamte sie wieder sorgfältig schloss und mit dem Schlüssel absperrte, wurde mir ganz beklommen und mein Herz schlug deutlich schneller.
„Die Kollegen vom BKA erwarten sie schon, treten sie bitte ein.“
Der Justizbeamte hatte eine Tür aus Metall mit einem Sichtfenster in Augenhöhe geöffnet und zog sich wieder zurück.
Wie mir geheißen war, betrat ich den spärlich erhellten Raum mit einigen Schreibtischen und Stühlen drumherum, zwei Männer warteten hier und unterhielten sich angeregt.
„Jetzt müsste unser Gast ja bald kommen, auf den bin ich nun wirklich gespannt.“
„Ich auch. Da ist uns wahrscheinlich ein ganz dicker Fisch ins Netz gegangen!“
Die BKA-Leute hatten mich zwar gesehen, aber gar nicht beachtetet, und in diesem Moment wurde es mir klar:
Der dicke Fisch, von dem hier die Rede war, das war ich selber, sie hatten mich gar nicht als den geladenen Zeugen erkannt, den sie vernehmen wollten, weil ich mit meiner schwarzen Motorradlederjacke und dem weißen Schutzhelm ein durchaus im polizeilichen Rahmen dienstliches Erscheinungsbild abgab.
Die Situation war skurril und meine Achtung vor den BKA-Beamten erfuhr einen erheblichen Einbruch.
Jedoch trugen sowohl die mir zugedachte Rolle als dicker Fisch als auch die vergitterte Tür sehr zu meiner Beunruhigung bei.
Dabei war ich von zu Hause ganz zuversichtlich aufgebrochen, hatte noch einen Blick auf die Vorladung in die Dienststelle der Landespolizei geworfen und mich aufs Rad geschwungen, der Weg war nicht weit und ich kannte das Gebäude vom Sehen. Das Schreiben trug einen Absender des Bundeskriminalamtes in Berlin und man teilte mir mit, dass ich als Zeuge vernommen werden solle, ohne die Angelegenheit, um die es ging, zu nennen.
Weil ich während meines Studiums in Berlin anlässlich eines Treffens mit einer Cousine im Ostteil der Stadt unfreiwillig Kontakt zum Staatssicherheitsdienst der DDR gehabt hatte, glaubte ich, dass die Zeugenbefragung damit zusammenhängen könnte – eine begründete Ahnung, wie sich jetzt herausstellen sollte!
Die Stasi hatte damals versucht, mich als inoffiziellen Mitarbeiter anzuwerben und mich zu diesem Zweck großzügig zum Essen eingeladen und auch Geld geboten, wenn ich gewisse Informationen aus dem Hochschulbereich in Westberlin besorgen könnte.
Ich hatte das nicht weiter verfolgt, weil es mir zu riskant vorkam und die Telefonnummer, die man mir zur weiteren Kontaktaufnahme gab, nie angerufen.
Seitdem waren über 20 Jahre vergangen und das nun folgende Zeugenverhör brachte einige Bruchstücke aus seinem Gedächtnis wieder zutage.
„Es war gar nicht so leicht, Sie zu finden“, erklärte der Gesprächsführer mit einem gewissen Stolz in der Stimme.
„Sie haben ja sehr oft ihren Wohnsitz gewechselt, ich nenne hier nur Berlin, Bremen, Frankfurt und mehre Orte in Schleswig-Holstein…“.
Ich dachte bei mir, dass ein Blick ins bundesweite Telefonverzeichnis meine Adresse auch ohne großartige Ermittlungsarbeit offenbart hätte und mein Respekt vor den Beamten sank erneut.
Dann aber wurde mir bedeutet, mich an einen der Schreibtische zu setzen, einer der Männer schaltete die dort bereitstehende Arbeitslampe ein und richtete deren Lichtkegel auf mein Gesicht – was mich sehr verunsicherte und wiederum die Befürchtung aufkeimen ließ, dass hier Unheil drohte.
Der Gesprächsführer eröffnete:
„Unsere heutige Befragung hat Ihre Kontakte zum Staatssicherheitsdienst der damaligen DDR zum Hintergrund und betrifft in der Hauptsache die Aussagen von Herrn Karl F. zu Ihrer Person.“
Sein Kollege fuhr fort:
„Herr Karl F. gab bei einer Vernehmung anlässlich der Anklage gegen ihn wegen Spionagetätigkeit zu Protokoll, er sei im Sommer 1975 von Ihnen als Informationsbeschaffer für die Stasi angeworben worden. Er sei von selber nie auf die Idee gekommen, ungesetzliche Handlungen zu begehen und deshalb träfe Sie, seinen damaligen Freund und Kommilitonen eine große Mitschuld an seiner Tätigkeit für die DDR.“
Der Gesprächsführer übernahm:
„Was sagen Sie dazu und können Sie die Angaben von Karl F. bestätigen?“
Nun war die Erinnerung wieder da, an den Abend in der Berliner Kneipe mit ein paar Bier zu viel und den Moment, als der Zettel mit der Kontaktnummer zur Staatssicherheit der DDR seinen Besitzer wechselte, ohne dass die Beteiligten wissen konnten, welche Folgen das haben sollte.
Ich hatte mich tatsächlich mit meinem Kommilitonen Karl auf ein Bier verabredet und nach der üblichen, mehr inhaltsarmen Unterhaltung über das Studium und die Freundinnen, begann Karl von seinen ernsthaften Problemen zu berichten.
Er hatte große Geldsorgen, Schulden, die er nicht zurückzahlen konnte und kein nennenswertes Einkommen.
Mein Verhältnis zu Karl war durchaus ambivalent und schwankte zwischen Neid und Bewunderung auf der einen und Verachtung und Mitleid auf der anderen Seite. Mein Kommilitone gab sich normalerweise stets als Macher, erweckte den Eindruck, alles im Griff zu haben und behandelte seinen Freundeskreis gern einmal herablassend oder arrogant.
Nun zeigte er mir auch eine schwache Seite und aus einer Laune heraus und dem Bierpegel geschuldet wollte ich ihm damals wohl zeigen, was ich selber so drauf hatte, zog den Zettel mit der Stasi-Telefonnummer aus dem Portemonnaie und schob ihn zu Karl hinüber.
„Hier“, sagte ich gönnerhaft, „wenn du bei denen anrufst, kannst du leicht Geld verdienen, ohne viel dafür machen zu müssen. Das ist die Stasi, aber lass besser meinen Namen aus dem Spiel!“
Karl nickte glasig und steckte den Zettel ein – auch später haben wir nie wieder über dieses Thema gesprochen.
Im Verhörzimmer berichtete ich nun aus dem Gedächtnis heraus der vermeintlich wahrheitsfördernden Lampe und den neugierigen BKA-Beamten von diesem Vorkommnis und wie ich in den Besitz der Telefonnummer gekommen war.
Beide Männer schauten mich daraufhin enttäuscht an, und ich konnte nicht erkennen, ob sie mir glaubten.
Die Befragung nahm weiter ihren Lauf, es wurden diverse Fotos präsentiert, auf denen ich aber keine einzige Person erkannte. Nach einer Weile wurde die Lampe abgeschaltet und die Beamten verließen den Raum durch eine Tür mit Spiegelfenster nachdem sie mir kurz mitgeteilt hatten, dass ich warten solle und gleich gegebenenfalls die Gelegenheit bekäme, meinen Anwalt anzurufen.
Nun warte ich darauf, dass der Polizist in Uniform erscheint um mich wieder in die Freiheit zu begleiten – an eine andere Möglichkeit mag ich gar nicht denken…
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