Von Monika Heil

  1. Oktober 1953. 

Nichts deutete darauf hin, dass es ein besonderer Tag werden sollte. An Details kann ich mich nicht erinnern. Ich nehme an, ich bin, wie gewohnt, sehr früh am Morgen aufgestanden, habe mein Butterbrot vertilgt und – wie immer – warme Milch dazu getrunken. So etwa halb acht trabte ich mit meinen Schulranzen auf dem Rücken die ´Große Gasse` entlang zur Schule.

 

Seit meiner Einschulung lebte ich bei meinen Großeltern in einem kleinen Dorf im Südharz. Deutschland war geteilt und die Gemeinde lag in der damaligen DDR. Die etwa einhundert Einwohner unseres Ortes lebten überwiegend von den Erzeugnissen ihrer kleinen Höfe. 

So wurde zum Beispiel bei uns jedes Jahr ein Schwein gemästet und im Spätherbst geschlachtet. Es war stets ein großes Ereignis, wenn der Metzger, der in diesen Wochen von Hof zu Hof zog, auch zu uns kam und unsere Luise schlachtete. Alle Sauen hießen bei uns Luise. Ich nannte den Metzger Onkel Moritz. Warum, weiß ich nicht mehr, verwandt waren wir nicht.

Milch und Butter lieferten zwei Ziegen. Sieben Hühner legten fleißig Eier, bis sie selbst im Kochtopf landeten. Obst und Gemüse gedieh in dem großen Garten hinter dem Haus.

 

Ich war damals acht Jahre alt und besuchte die dritte Klasse unserer kleinen Dorfschule. Ich ging gern dorthin. Besonders Lesen und Rechnen machte mir Spaß. Sport war nicht so mein Ding. Auf dem Heimweg trödelte ich meist. Und ausnahmslos jeden Tag ging ich in den HO-Laden und fragte:

«Haben Sie Bananen?» Die Antwort war stets gleich. 

«Nein, haben wir nicht». Es war schon fast ein Ritual. Bananen kannte ich nur vom Hörensagen. Ich habe keine Ahnung, was ich getan hätte, wäre die Antwort einmal gewesen: «Ja, wie viele sollen es denn sein?» Ich trug ja nicht einmal Geld bei mir.

 

Auch an jenem 6. Oktober kam ich kurz vor Mittag nach Hause. Ich erinnere mich, dass es ein warmer, sonniger Herbsttag war und ich auf dem Heimweg Kastanien gesammelt hatte, aus denen ich gern kleine Figuren bastelte. Mein Großvater stand mit unserem Hausarzt Dr. Liebenau im dunklen, schmalen  Flur. Ich warf einen Blick durch die geöffnete Küchentür. Meine Großmutter hantierte nicht, wie gewohnt, am großen Kohlenherd. Was war los? Warum war der Arzt da? Ich spürte ungewohnte Spannung und hörte:

«Machen Sie sich keine Sorgen. Ihre Frau wird sich schnell erholen.»

«Soll ich lieber hier bleiben?» Opas Stimme klang nervös. Ich erschrak heftig. Was war mit Oma passiert? Wohin wollte mein Großvater? Ich versuchte, mich bemerkbar zu machen indem ich heftig an seinem Jackensaum zupfte. Vergeblich.

«Opa!» Niemand beachtete mich.

«Nein, nein, fahren Sie ruhig zu Ihrem Sohn», hörte ich den Arzt antworten. 

Opas Sohn? Mein Vater! Ich hüpfte von einem Bein auf das andere. Aber der war doch in Russland.

«Fahren wir nach Russland?», schrie ich aufgeregt. Mein Großvater beachtete mich noch immer nicht. Mit schriller Stimme frage ich noch einmal:

«Fahren wir zu Vati nach Russland?»

«Gleich, gleich.» Opa wedelte abwehrend mit der Hand während er Doktor Liebenau zur Haustür begleitete. Endlich schaute er mich an, zog mich in die Küche und sagte: 

»Mutti hat angerufen.»

 

Nur wenige Familien hatten damals Telefon. Meine Mutter war berufstätig und konnte von der bäuerlichen Genossenschaft, bei der sie alle dort anfallenden Büroarbeiten erledigte, Frau Heidecker in der Post unseres Dorfes anrufen. Die schickte dann ihre Tochter Eva los, den verlangten Gesprächspartner zu holen. Eine Viertelstunde später rief meine Mutter dann erneut an, ein Ritual, das im allgemeinen gut klappte.

 

Wegen ihrer Arthritis fiel meiner betagten Großmutter das Gehen schwer. Trotzdem war sie nach dem Telefonat an jenem Morgen so schnell es ihre Beine zuließen, den kurzen Weg nach Hause gelaufen. Kurzatmig und aufgeregt konnte sie das  Gespräch kaum in vernünftigen Sätzen wiedergeben. Während sie die für sie unfassbare Neuigkeit berichtete, steigerte sich ihre Erregung derart, dass sie eine Herzattacke erlitt. Aus diesem Grunde hatte der Arzt kommen müssen.

 

«Dein Vater ist aus der russischen Gefangenschaft entlassen und vor ein paar Stunden bei deiner Mutter angekommen. Morgen fahren wir beide dorthin.»  Erst nach und nach begriff ich die Folgen dieser Mitteilung. Mit meinen acht Jahren hörte ich noch keine Nachrichten im Radio und Fernsehen gab es damals bei uns noch nicht. Was die Erwachsenen seit ein paar Wochen von Adenauer und Spätheimkehrern nach der Lektüre des Wochenblättchens flüsterten, verstand ich sowieso nicht.

 

Meine Mutter, die man heute Alleinerziehende nennen würde, nahm nach dem Krieg ihren Tätigkeit in einer ländlichen Genossenschaft wieder auf. Während sie mich bei meinen Großeltern bestens aufgehoben wusste, lebte meine Schwester unter der Woche in einem Internat unweit ihres Wohnortes. So verbrachte unsere kleine Familie meist nur die Ferien gemeinsam in der elterlichen Wohnung.

 

Doch zurück zu den Ereignissen jenes Oktobers. Den Luxus eines Automobils konnten sich meine Großeltern nicht leisten. So fuhren mein Großvater und ich am Tag nach dem aufregenden Anruf mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu meinen Eltern. Das bedeutete Bus, Wartezeit, Zug und nach erneuter Wartezeit noch einmal Bus. Eine quälend lange Fahrt für uns beide. Meine Großmutter verabschiedete uns unter Tränen, traurig, nicht mitfahren zu können. Mein Großvater war, obwohl fast siebzig Jahre alt, selten aus seinem Dorf hinausgekommen. Und nun die ungewohnte Fahrt, die Sorge um die Gesundheit seiner Frau und eine Enkelin im Schlepptau, deren Mundwerk nicht eine Minute still stand. Dazu die Anspannung, nach fast zehn Jahren seinen Sohn wiederzusehen. Mein armer Großvater!

Ich hatte tausend Fragen und bekam nur wortkarge Antworten.

«Wie sieht Vati denn aus?»

«Ich weiß es nicht. Ich habe ihn auch jahrelang nicht gesehen.»

«Aber du hast ihn doch gekannt. Ich nicht.»

Mein Vater war Ende 1944 in russische Kriegsgefangenschaft geraten. Damals war meine Mutter im vierten oder fünften Monat schwanger.

«Wie sah er denn aus, als du ihn zuletzt gesehen hast?»

«Du kennst doch die Fotos. Genau so.»

«Wie erkenne ich denn, dass es wirklich mein Vater ist?» Großvater lächelte. 

«Das ist sicher kein Problem. Wart´s ab.» 

Ja, ich kannte nur Fotos von meinem Vater. Und die Geschichten, die meine Mutter und meine sieben Jahre ältere Schwester über ihn erzählten.

 

Am frühen Nachmittag erreichten wir unser Ziel. Zu Fuß gingen wir zu der alten – den ursprünglichen  Besitzern zwangsenteigneten – Villa, in der nun mehrere Familien zur Miete wohnten, unter anderem auch meine Mutter. Sie begrüßte uns hektisch mit heftigen Umarmungen und in aufgeregter Fröhlichkeit. Dann riss sie die Tür zum Wohnzimmer auf und schob mich hinein. Mein erster Eindruck: Alle Anwesenden schienen zu einem Standbild erstarrt. Jegliches Geräusch war verstummt. Es schien, als hielte die Welt den Atem an. Ich stand wie festgenagelt. Meine Schwester saß zwischen zwei Nachbarinnen auf dem roten Plüschsofa. Alle trugen Sonntagskleider. Als nächstes registrierte ich einen hochgewachsenen, hageren Mann. Regungslos stand er vor dem raumhohen Kachelofen, seine schmalen Hände an die grünen Fliesen gedrückt. Er trug eine viel zu weite schwarze Hose, einen grauen Rollkragenpullover und sah mich ganz ruhig an. Noch immer fiel kein Wort. Endlich löste dieser fremde Mann seine Hände von den Kacheln und streckte beide Arme nach mir aus. Ich lief die wenigen Schritte auf ihn zu, als würde ich auf Schienen gezogen. Ich kann bis heute nicht erklären, was in diesem Augenblick in mir vorging. Er hob mich hoch, bis sein Gesicht und meines auf einer Höhe waren. Wir schauten uns in die Augen. Ich legte meine Arme um seinen Hals und dann fiel der erste Satz, den mein Vater zu mir sagte:

«Du bist also meine kleine Tochter.» Pause. «Ich habe schon viel von dir gehört.» Pause. «Aber nichts Gutes.»

Ich verstand nicht, warum die Erwachsenen lachten. Später hieß es, dieser Nachsatz habe das Eis gebrochen. Mag sein. Für mich war nur wichtig, dass endlich, endlich mein Vater da war. Von Stund´ an blieb ich eine Vatertochter, bis zu seinem Tode.

 

Der Rest ist schnell erzählt. Mein Großvater und ich blieben nur einen Tag und eine Nacht. In dieser kurzen Zeit wich ich nicht von der Seite meines Vaters. Wir hatten so viele verlorene Jahre nachzuholen. Meiner Mutter und meiner Schwester ging es natürlich nicht anders. Doch das interessierte mich nicht. Ich beanspruchte meinen Vater nur für mich allein. Es war schon sehr spät, als man mich endlich überreden konnte, schlafen zu gehen. Meine Schwester erzählt heute noch gern, dass ich beim Gute-Nacht-Sagen ihr zugeflüstert hätte:

»Sag´ es ihm bitte nicht weiter. Aber ein bisschen anders habe ich mir Vati schon vorgestellt.«

Hätte ich geahnt, dass unsere Abreise am nächsten Tag wieder eine Trennung von Monaten bedeutete, ich weiß nicht, welches Theater ich veranstaltet hätte. 

 

Mein Vater fühlte sich in der DDR nicht wohl und beschloss deshalb, in die Bundesrepublik zu flüchten, eine Entscheidung, die für meine Mutter sehr schwer wog. Ich bekam von all dem – mal wieder – nichts mit. Ende November fuhren mein Vater und meine Schwester nach Potsdam angeblich, um unseren dort studierenden Cousin zu besuchen. Ihre Reise endete in Westberlin. Zwei Monate später hatte auch meine Mutter einen Fluchtweg gefunden. Ich war verzweifelt und fragte immer wieder, ob mich meine Eltern und meine große Schwester nicht mehr lieb hätten. Alle waren im Westen und damit unerreichbar für mich. So gern ich bei meinen Großeltern lebte, jetzt wollte ich auch in den Westen!

 

Am 12. April 1954 war es so weit. ´Im Zuge der Familienzusammenführung` durfte ich ausreisen. Wieder war es mein Großvater, der mich begleitete und wohlbehalten bei meinen Eltern ablieferte. Endlich war unsere kleine Familie wieder komplett und die Welt für mich in Ordnung.

 

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