Von Irmi Feldman

Man fand ihn zwanzig Jahre später. Das heißt, nicht ihn, aber sein Skelett. Selbst das war nicht intakt, sondern lag verstreut am Ufer eines ausgetrockneten Seitenarmes des Rio Napo zwischen Brasilien und Peru.

Nur zufällig war der Prof. Dr. Hugo Herrlitz auf die Überreste von Dr. Robert Vinteck gestoßen. Und auch nur deshalb, weil der Professor alle Warnungen der Indios in den Wind geschlagen hatte. Überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein, war er, ebenso wie Dr. Vinteck zwanzig Jahre vor ihm, den falschen Seitenarm hinaufgefahren.

Prof. Dr. Herrlitz hatte auf dem rechten Seitenarm des Rio Napo bestanden. Die Indios auf dem Linken. Sie versuchten alles, um den Professor zu warnen. Rechts sei es gefährlich. Peligroso. Die magische Frucht, die der Herr Professor schon so lange suche, werde er finden, wenn er den linken Seitenarm hinaufführe. Dort wachse die Frucht im Übermaß. Er werde sehen.

Doch der Professor wollte nicht sehen, er wollte Recht haben. Intelligenter sei er. Kultivierter und weitaus gebildeter sei er als diese primitiven Indios, die noch nie eine Schule von innen gesehen haben. Seinen Berechnungen nach, und er zweifelte sehr, dass die Indios überhaupt Berechnungen anstellten, müsse die Frucht sich am rechten Seitenarm befinden. Auf gar keinen Fall am linken.

Die Indios weigerten sich, ihm zu folgen. Prof. Dr. Herrlitz nannte sie stets mi indios, obwohl sie ihm selbstverständlich nicht gehörten. Er hatte sie angeheuert, weil sie beteuert hatten, jenen Teil des Rio Napo besser als ihre Hosentaschen zu kennen. Nun ja, nicht im wörtlichen Sinne, denn Hosen trugen sie keine.

Nur einer, vor langer Zeit, sei nach rechts eingebogen. Nie wieder habe man von ihm gehört. Verschollen sei er. Wahrscheinlich an Gelbfieber gestorben, oder von Anakondas, Jaguaren oder Kannibalen gefressen worden, sagten die einen. Die anderen jedoch, und die waren in der Überzahl, bezeugten, dass dieser Teil des Seitenarms des Rio Napo den Dämonen gehöre, die es nicht zuließen, dass man in ihr Gebiet eindrang. Wer es dennoch tat, wäre für immer verloren.

Unsinn, rief Prof. Dr. Herrlitz. Dummer Aberglaube. Er kenne sich aus. Er wisse Bescheid. Er besitze die alte Karte von Emil Lautregen, der vor mehr als einhundert Jahren diese Frucht gefunden und die Karte angefertigt hatte. Ganz eindeutig zeigte die Karte nach rechts und nicht nach links.

Dieses dumme Geschwätz von den Dämonen sei nur eine alte Legende. Er hoffe doch sehr, dass die Indios nicht mehr an solchen Unfug glaubten. Dann bot er höhere Bezahlung an. Doch nicht einmal die Aussicht auf zuerst doppelten, dann dreifachen, zuletzt vierfachen Lohn, hatte die Indios umgestimmt.

Der Aberglaube dieser Indios, schrieb der Professor später in sein Tagebuch, sei weitaus tiefer verwurzelt, als er zunächst angenommen habe. Eine Kuriosität, der man nachgehen müsse.

Allein, begleitet nur von Mosquitoschwärmen, lenkte er das Boot nach rechts. Schulterzuckend schauten die Indios ihm nach. Sie würden hier bei der Gabelung auf ihn warten, versprachen sie ihm hoch und heilig. Tagelang. Ja, sogar wochenlang würden sie genau auf diesem Fleck ausharren. Sie werden sich nicht von der Stelle rühren. Nie. Sobald Prof. Dr. Herrlitz hinter der ersten Biegung im rechten Wasserlauf verschwunden war, fuhren die Indios den linken Wasserlauf hinauf.

Acht Tage tuckerte der Professor den rechten Seitenarm hinauf, der immer schmäler wurde. Eifrig beschrieb er Flora und Fauna. Als sein Wasservorrat zu Ende ging, stellte er Töpfe auf, um das nachmittägliche Regenwasser aufzufangen. Mosquitos griffen von allen Seiten an und stachen in jedes noch so kleines Hautfleckchen, entblößt oder nicht. Flöhe, Piranhas, Kaimane, Schlangen und zahlreiche andere Kreaturen gaben ihm beinahe den Rest. Doch der Professor blieb standhaft und kämpfte sich voran. Für die Wissenschaft, sagte er sich. Er werde die magische Frucht finden, die nach Emil Lautregens Beschreibungen dieselben Eigenschaften besitze wie der Brunnen der ewigen Jugend

Hin und wieder war der Seitenarm so eng, dass er aussteigen und sein Boot ziehen musste. Als ihm der Treibstoff ausging, machte er sich ans Rudern, aber selbst das ging nach einer Weile nicht mehr. Der Fluss hatte sich zuerst in einen Bach, dann in ein Bächlein, danach in ein Rinnsal und zuletzt in Nichts verwandelt. Da war kein Wasser mehr.

Ermattet sank der Professor auf die Erde, zu erschöpft, um sich wegen krabbelnder Käfer oder anderem ekeligen Getiers Sorgen zu machen. Doch es war nicht Krabbeliges, auf das er sich niedergelassen hatte, sondern ein menschliches Becken.

„Noch so ein Glückspilz“, rief der Professor aus und wunderte sich über seinen Sarkasmus. Er blickte sich um.

Dann sah er es. Eine Ansammlung von Flusssteinen, aufgeschichtet zu einem Turm. Der Professor hatte von solchen Steintürmen gehört. Aber hier im Amazonasgebiet? Wer würde hier so einen Steinhaufen zusammentragen? Hier, wo es nicht einmal Steine gab. Die musste jemand von weiter unten aus dem Bach gezogen und hierhergeschleppt haben. Aber wer?

Nachdem er sich ein bisschen gestärkt hatte, ein paar Trockenkekse waren ihm immerhin noch geblieben, machte er sich daran, den Steinhaufen abzutragen. Ein Paket, eingewickelt in gewachstes Leder, kam zum Vorschein. Ungeduldig packte es der Professor aus. Es war ein Tagebuch, ähnlich dem seinen.  

Dr. Robert Vinteck, Naturforscher, stand da in geschnörkelter Schrift. Robert Vinteck? Ja, er hatte von ihm gehört. Das musste der Kerl sein, von dem die Indios erzählt hatten. Der, der auch nach rechts gefahren war. Neugierig las er weiter.

Dr. Vinteck beschrieb seine Reise auf dem Rio Napo. Er erzählte von den Indios, die ihn begleiteten. Unzählige Zeichnungen von ungewöhnlichen Wirbeltieren, Vögeln, Insekten und Pflanzen untermalten die Beschreibungen. Der Professor musste zugeben, dass Dr. Vinteck ein besserer Zeichner war, als er selbst. Er, Vinteck, war auch auf der Suche nach dieser magischen Frucht gewesen, die es nur in diesem Teil des Rio Napo geben solle. Hätte er sie gefunden, er hätte sie fructus vinteckus napo genannt.

Die letzte Eintragung war vom 12. August 1913. Dr. Vinteck beschrieb darin, wie die Indios ihn gewarnt hatten, nicht nach rechts zu fahren. Auf gar keinen Fall nach rechts. Dass er aber nicht auf sie gehört habe. Schließlich habe er die alte Karte von Emil Lautregen besessen, die eindeutig nach rechts gezeigt habe. Außerdem sei er intelligenter und weitaus kultivierter und gebildeter als diese primitiven Indios, die noch nie eine Schule von innen gesehen haben. Doch nun wisse er, dass er auf die Indios hätte hören sollen. Die Karte müsse falsch sein. Er bedaure sehr, dass diese Frucht jetzt nicht seinen Namen tragen würde.

Hier hörte der Professor mit dem Lesen auf. Er kannte den Rest.

Ermattet ließ er das Tagebuch zu Boden gleiten. Wer hätte gedacht, dass eine einzige Entscheidung, nach rechts oder links zu fahren, tödliche Auswirkungen haben könne? Nun auch für ihn, denn er hatte keine Kraft mehr, sich auf den Rückweg zu machen.

Suchend schaute er sich um. Wo war denn nun der Rest von Dr. Vinteck?

Und so kam es, dass der ehrwürdige Prof. Dr. Hugo Herrlitz am 10. November 1933 einen Knochen nach dem anderen zusammentragend, Dr. Vinteck zusammensetzte, denn mit Anatomie kannte er sich aus. Nicht alle Knochen konnte er finden. Aber mehr oder weniger war Dr. Vinteck wieder intakt.

Nur der Kopf fehlte noch. Der Professor suchte wie von Sinnen. Den Kopf brauche man unbedingt. Der Kopf sei das Allerwichtigste. Ohne Kopf gehe es auf gar keinen Fall. Zuletzt fand er ihn hoch oben auf einem Baum.

Unzählige Steinwürfe später, alle missglückt, der Letzte erfolgreich, brachten Dr. Vintecks Totenkopf zurück zur Erde. Erschöpft ließ der Professor sich neben Dr. Vinteck nieder.

„Sie erlauben doch?“, sprach er ihn an. „In dieser heiklen Situation könnten wir uns vielleicht duzen? Was meinen Sie, Herr Kollege?“

Dr. Vinteck blieb stumm.

„Nun denn“, sagte der Professor etwas pikiert. Er meine ja nur. Er wolle ihm nicht zu nahetreten. Von ihm aus, können sie auch beim Sie bleiben.

Dr. Vinteck war das egal.

Die Hitze, die Erschöpfung, die Mosquitos, der Mangel an Wasser und Proviant, denn die letzten Trockenkekse waren nun aufgegessen, verwirrten den Professor zunehmend. Eine letzte Tagebucheintragung wollte er noch machen, um der Nachwelt von seinem Irrtum zu berichten.  

Weil sein Geist schon ziemlich verwirrt war, entschloss er sich, die Tagebucheintragungen von Dr. Vinteck Wort für Wort abzuschreiben. Eine Tat, die er zuhause angewidert verpönt hätte. Aber außergewöhnliche Situationen erforderten außergewöhnliche Maßnahmen, redete er sich ein. Nur bei der Fruchtbenennung bestand er auf seiner eigenen Formulierung. Davon ließ er sich nicht abbringen. Dr. Vinteck könne sagen, was er wolle, empörte sich der Professor. Fructus vinteckus napo hätte er die Frucht auf gar keinen Fall genannt. In großen Buchstaben schrieb er deshalb fructus herrlitzus napo.

„Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, Herr Kollege?“, fragte der Professor nun schon etwas versöhnlicher.

Dr. Vinteck hatte nichts dagegen.

Mit letzter Kraft verstaute der Professor beide Tagebücher im Steinhaufen, setzte die Steine wieder zu einem Turm zusammen und schlief dann erschöpft neben Dr. Vinteck ein. 

***

Während Prof. Dr. Hugo Herrlitz, derzeit noch lebend und Dr. Robert Vinteck, immer noch tot, reglos dalagen, frohlockten die Indios am erfrischenden Wasserfall, den sie nach nur drei Stunden auf dem linken Seitenarm des Rio Napo erreicht hatten. Es war ein regelrechtes Paradies. Umgeben von Bäumen, schwer beladen mit den magischen Früchten, genossen sie ihr Dasein. Sie ergötzten sich an den Früchten, die Dr. Vinteck fructus vinteckus napo und Prof. Dr. Herrlitz fructus herrlitzus napo genannt hätte, wenn sie sie denn gefunden hätten.

Die Indios jedoch nannten die Frucht schlichtweg fruta magica.

  

© Irmi Feldman, 2025; v1; 9919z