Von Thomas Gärtner
Ich bin nicht verliebt. Ich weiß nur bestimmte Dinge und Menschen zu schätzen, die außergewöhnlich und deshalb erwähnenswert sind. Ein solcher Mensch ist Laura.
“Warum isst du denn nichts?” fragt sie. Ihr genialer Kater huscht mit einem Affenzahn über den Frühstückstisch, ohne auch nur ein einziges Marmeladenglas mit in die Tiefe zu reißen.
“Ich habe schon”, sage ich, obwohl ich noch nicht habe. An heißen Tagen vergeht mir oft der Appetit. Wie sollte außerdem essen können, wer die Gelegenheit erhält, bahnbrechende Beobachtungen zu machen?
Zum Beispiel, dass *essen* und *essen* zwei grundverschiedene Dinge sind. Laura fällt deutlich aus der Vorstellung heraus, die wir gewöhnlich mit dem Schema “Nahrungsaufnahme” verbinden. Nicht: Mund auf, abgebissen, Mund zu. Laura geht da anders vor. Begriffe wie *essen* und *trinken* greifen hier nicht mehr. Diese Frau isst nicht, sie tafelt.
Auch, wenn Laura etwas sagt, ist es anders, als wenn irgendwer was sagt. Nehmen wir ein einfaches Beispiel.
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“Gibst du mir bitte den Zucker?” |
Eine Banalität, die sich sicher viele am Frühstückstisch zuschulden kommen lassen. Nicht so Laura. Sie sagt:
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“Gibst du mir bitte den Zucker?” |
Jeder, der Laura *Gibst du mir bitte den Zucker?* sagen hört, erkennt sofort, wie sehr sich das Gesagte abhebt vom Alltagsgerede. Nicht durch die Wortwahl, das natürlich auch, sondern durch die Art und Weise, wie sie es sagt. Eigentlich sagt sie es auch nicht, sie singt es. Besonders das Wort “Zucker”. Man schmeckt ihn förmlich auf der Zunge. Das ist ein eher ungewöhnliches Phänomen.
Beachtenswert auch, wie sie ihren Tee süßt. Sie lässt die Zuckerwürfel nicht einfach nur dümmlich plumpsen – das machen die meisten Frauen falsch – sondern führt den Löffel mit einer sanft geschwungener Bewegung zur Teeoberfläche. Dort verweilt er überraschenderweise für den winzigen Bruchteil einer Sekunde, so winzig, dass ein ungeübter Beobachter es kaum wahrnimmt. Dann erst wird der Zucker seiner Bestimmung zugeführt. Ein winziger Moment des Zögerns – so als wolle sie damit sagen: “Sieh her, das verbindet sich gleich miteinander. Aber soll es das auch?”
Dieses aufreizende Spiel, etwas in Frage zu stellen, um im nächsten Moment zu dementieren, spielt Laura während des gesamten Frühstücks. Einen labilen Menschen könnte das in den Wahnsinn treiben, nicht aber mich. Ich finde es nur hochgradig bemerkenswert. So bemerkenswert wie auch die Zahl der Zuckerstücke. Nicht ein Würfel Zucker kommt ins Spiel. Einen kann jeder Depp in seinen Tee hinein hämmern. Nein, zwei sind es. Zwei. Wer erst einmal den Schlüssel zu Lauras eigentümlicher Gebärdensprache gefunden hat, für den ist alles sehr einfach.
Als sie das Fenster öffnet, um Sonnenstrahlen & Frühlingsgerüche hereinzulassen, komme ich, der ich mich neugierig von hinten genähert habe, versehentlich mit ihrem Haar in Konflikt. Seltsam: Ihre Haare riechen nach Strand und zwar alle, ohne Ausnahme. Riechen nach Spaziergang am frühen Morgen, Hand in Hand, der aufgehenden Sonne entgegen. Der Strand ist naturgemäß menschenleer, wer sollte da auch sein, am frühen Morgen, das Meer selbstverständlich türkisfarben, und im Hintergrund kreischen die Möwen. Dann gibt es da noch ein Boot, weit draußen, mit bloßem Auge kaum zu erkennen.
So und nicht anders riecht Lauras Haar. Sie lässt es absichtlich so riechen, das ist gewiss, aber ich lasse mir nichts anmerken. Denn das hieße, mich fügen – fügen in ein leicht zu durchschauendes, eher abgegriffenes Szenario. Obwohl – die Nussschale, die verloren auf den Wellen schaukelt, stellt sicherlich ein nicht uninteressantes Detail dar. Warum sie das Boot in ihr Arrangement eingebaut hat, liegt völlig im Dunkeln, und das macht die Sache wiederum spannend und erforschenswert.
Zeit, sich zu verabschieden, sie muss noch jemanden besuchen, sagt sie. Ich will nicht aufdringlich erscheinen, und sie könnte es falsch verstehen, wenn ich ihr anböte, sie dorthin zu fahren, wo sie hinwill, wo immer das auch sein mag. Es interessiert mich zudem nicht wirklich, hat mich ja auch nicht zu interessieren, außerdem ist es nur eine Arbeitskollegin, von der sie ein Buch geliehen hat. An der Tür fällt auf, dass sie intensiv blaue Augen hat, wie sie nicht blauer sein könnten, hellblau, genauer gesagt, mit einer leichten Tendenz ins Dunkelblaue, insgesamt gesehen aber doch eher hellblau. Das ist hochinteressant. Sie selbst behauptet, sie habe grüne. Vielleicht verhält es sich so, dass Menschen bei Verabschiedungen zu blauer Augenfarbe neigen, ich werde in nächster Zeit ein Auge darauf haben.
Wir haben uns für morgen zu einem Mitternachtspicknick am Grunewaldsee verabredet. Nicht, dass falsche Irrtümer aufkommen. Es war ihre Idee, nicht meine. Und gar keine üble. Ich hatte das immer schon geplant, und zu zweit ist ein Picknick dieser Art sicherlich noch erfolgreicher. In Frühlingsnächten kommen nämlich die Wildschweine aus den Wäldern, um die Mülltonnen zu plündern, und da ist es immer vorteilhaft, wenn jemand dabei ist, der zu einem hält.
Falls etwas dazwischen komme, werde sie vorher noch einmal durchklingeln.
Warum ich denn ständig zum Spiegel laufe und mein Outfit überprüfe, fragt jetzt meine Schwester, die gerade zu Besuch ist. “Hast du etwa eine Freundin?” Das ist so typisch und dumm. Man kämmt sich mal die Haare, und schon ist man *der Verliebte*. Natürlich habe ich es nicht nötig, vor dem Spiegel zu stehen, ich bin schön genug. Aber man will ja auch nicht wie der letzte Waldschrat herumlaufen.
Meine Schwester will noch weitere Indizien ausfindig gemacht haben; das ist mir aber zu albern, so dass ich darauf verzichte, es hier auszubreiten. Nur eines noch: Was, bitte schön, soll denn daran “auffällig” sein, dass man bei einem Telefonklingeln auch mal zusammenzuckt? Bin ich etwa der einzige auf diesem gottverdammten Planeten, der sich nicht erschrecken darf, ohne dass dahinter gleich werweißwas vermutet wird? Und das Telefon klingelt die letzten Tage in der Tat sehr schrill und aggressiv, ich werde die Einstellung für den Klingelton überprüfen, und erledigt ist die Sache.
Ich freue mich schon auf das Picknick und lasse es mir nicht zerreden. Kopfzerbrechen bereitet mir allerdings die Zusammenstellung der Nahrung, ich hätte beim Frühstück besser aufpassen sollen, was sie isst und nicht, wie sie dabei zu Werke geht. Natürlich werde ich mich schärfstens davor hüten, mich zu verlieben. Denn sich verlieben hieße, den Boden unter den Füßen verlieren. Und das kann ich im Moment so sehr gebrauchen wie ein Loch im Kopf. Außerdem wäre es trivial.
Ich bin nicht verliebt. Ehrlich nicht.
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