Von Sonja Gröhler
Ich erwartete den neuen Morgen, der die Dinge ins Rollen bringen würde.
Unruhig wälzte ich mich im Bett hin und her. Tausend Gedankenfetzen schossen mir durch den Kopf. Ich dachte an die zurückliegenden drei Jahre, die ich nun mit meiner Schwester Irmgard und ihren beiden Söhnen zusammen in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung wohnte.
Nach dem Krieg gab es für alleinstehende Frauen wie mich keine Wohnungen. Viele Stadtteile in Hamburg glichen bei Einzug der britischen Besatzer im Mai 1945 einem Trümmerfeld. Ein großer Teil der Wohnhäuser in Hamburg war bereits zwei Jahre zuvor durch die als Operation Gomorrha bekannten Luftanschläge in vielen Stadtteilen zerbombt. Viele Männer waren noch in Kriegsgefangenschaft oder galten als vermisst.
Mütter mit Kindern, deren Männer nicht aus dem Krieg zurückgekehrt waren, wurden bei der Vergabe von Wohnraum bevorzugt. Dazu gehörte auch meine sechs Jahre ältere Schwester Irmgard mit ihren zwei Söhnen. Nun war Frühjahr 1948, und ich war 23 Jahre alt und unverheiratet.
Es war damals naheliegend, dass ich aus der beengten Wohnung meiner Eltern auszog und zu meiner Schwester Irmgard zog. Durch Abgabe meiner Einkünfte trug ich zum Lebensunterhalt bei. So war auch Ihr geholfen, denn sie konnte sich und die beiden Söhne mit Einnahmen aus den Näharbeiten, die sie zuhause erledigte, kaum ernähren.
Ich hatte den Beruf der Haushälterin gelernt und arbeitete seit zwei Jahren in der Kaserne der britischen Besatzer in Hamburg. Das half uns besonders im kalten Hungerwinter 1946/1947 sehr, denn in der Kaserne steckten mir die britischen Soldaten, wohl aus Mitleid über mein abgemagertes Aussehen, öfter mal ein Lunchpaket oder eine Lebensmittelkarte zu. Zuhause freute ich mich sehr, den beiden Jungen zuzusehen, wie sie hungrig über die Extra-Ration herfielen.
Ich lauschte den ruhigen Atemzügen von Irmgard, die neben mir im Bett lag. So ähnlich wir uns äußerlich waren, so unterschiedlich waren wir im Wesen. Beide waren wir von hagerer Statur, blass und hatten rote lockige Haare, die bei der geringsten Luftfeuchtigkeit in alle Richtungen strebten und nicht zu bändigen waren. Irmgard hatte in ihrer Jugend vor Kriegsbeginn ausgehen, ins Kino gehen und tanzen gehen können. Sie war der Liebling unserer Mutter und erhielt damals immer wieder Geld zugesteckt.
Ich dagegen bekam von Mutter und Schwester zu spüren, dass ich lästig war. Als Kind war ich oft krank, war sehr schüchtern und errötete schnell. Mit Mühe und Not schaffte ich die achte Klasse. So wurde ich mit 14 Haushälterin, aber der Kriegsbeginn änderte unser Leben schon bald. Die Familie, bei der ich angestellt war, wollte in die Schweiz gehen. Sie bot an, mich mitzunehmen. Ich fühlte mich sehr wohl dort und wäre gerne mitgegangen, doch ich durfte nicht. Auf mein monatliches Einkommen wollte meine Mutter nicht verzichten.
Irmgard dagegen hatte zuhause alle Freiheiten, die sie wollte. Das Ausgehen sah Irmgard nur als Mittel zum Zweck, um einen Mann zum Heiraten kennenzulernen und einen eigenen Hausstand zu gründen. Gleichzeitig sah sie alle im Haushalt befindlichen Dinge als ihr Eigentum an. Ich hatte früher ein paarmal beobachtet, dass sie Schränke durchstöberte und sich nahm, was ihr gefiel. Unsere Mutter bemerkte es wohl, schaute aber großzügig darüber hinweg.
So war auch eines Tages der Ring, den ich von Großmutter geschenkt bekommen hatte, mein einziges Schmuckstück, fort. Doch sie stritt es heftig ab. Kurz nach meinem Einzug bei Irmgard hatte ich ihn eines Tages zufällig in einer Schublade entdeckt.
Ich stellte sie zur Rede: „Ich habe diesen Ring gefunden. Das ist der Ring, den mir Oma geschenkt hat. Du hast ihn mir weggenommen!“ Doch sie stritt alles ab: „Nein. Das ist ja ungeheuerlich, was Du mir vorwirfst, Du undankbares Stück! Diesen Ring hat Oma mir geschenkt!“ Damit war das Thema für sie beendet.
„Wieso hast Du Geld für Dich behalten?“, fragte sie am letzten Wochenende. Ich antwortete: „Ich möchte endlich auch einmal etwas Schönes unternehmen und mit meiner Freundin ins Kino gehen. Schließlich habe ich dafür hart gearbeitet.“ „Kommt nicht in Frage!“, herrschte Irmgard mich an. „Davon kaufe ich Lebensmittel, und ich brauche auch Stoff für neue Hosen für die Jungs. Sie sind schon wieder gewachsen.“ Sie griff sich meine Tasche, und schon hatte sie meine Geldbörse in der Hand, öffnete sie und nahm das gesamte Kino-Geld heraus.
Mein Gesicht muss vor Wut fast die gleiche Röte wie mein Haar angenommen haben. Ich knallte die Wohnungstür hinter mir zu und ging hinaus, um mich zu beruhigen und nachzudenken. Einige Tage zuvor hatte meine Freundin Anni mich auf ein Plakat in der Kaserne aufmerksam gemacht: „Looking for workers“ – Arbeitskräfte gesucht. In England wurden Arbeitskräfte zur Unterstützung in Krankenhäusern und auf Bauernhöfen gesucht. „Stell Dir vor, Gerda,“ hatte Anni geschwärmt, „die bezahlen sogar die Überfahrt. Ich gehe nach England. Komm‘ doch mit!“
Anni und ich hatten uns in der Kaserne kennengelernt und auf Anhieb gut verstanden. Ich war unsicher. Sollte ich in ein fremdes Land gehen, dessen Sprache ich nicht sprach und das noch vor wenigen Jahren von deutscher Seite bebombt und bekriegt wurde? Wie würde man mit Deutschen dort umgehen? Spontan hatte ich diese Möglichkeit von mir geschoben und Anni geantwortet: „Nein, Anni, das ist nichts für mich.“ Aber nach dem Streit mit Irmgard ließ mich diese Idee nicht mehr los. Gemeinsam mit Anni in England neu anzufangen, vielleicht sogar am selben Ort – könnte es die Tür zu einem schöneren Leben für mich sein?
Mit Irmgard konnte das so nicht weitergehen. Ich liebte meine Neffen, aber im Haushalt meiner Schwester teilte ich das Schlafzimmer mit ihr und hatte kein eigenes Zimmer. Und auch Geld durfte ich nicht für mich behalten. Es gefiel ihr, Besorgungen machen zu lassen oder Hausarbeit aufzutragen und mir vorzuhalten: „Vergiss nicht, dass Du hier in meiner Wohnung bist. Ohne mich würdest Du verhungern oder erfrieren“. Oder: „Mach gefälligst, was ich Dir sage, und faulenze nicht!“ Nach Einkäufen kontrollierte sie genau, wieviel ich ausgegeben hatte und achtete darauf, dass ich Restgeld wieder an sie zurückgab. Ich fühlte mich als Leibeigene meiner Schwester.
Eine Auswanderung nach England würde mir Unabhängigkeit, Freiheit und eigenes Geld bringen. Und ein wenig Englisch hatte ich bei der Arbeit in der Kaserne bereits aufgeschnappt. Also hatte ich mich auf die Ausschreibung beworben. „Kommen Sie morgen früh in mein Büro, dann informiere ich Sie über alles Weitere, und wir können die Formalitäten regeln“, hatte der Bürovorsteher der Kaserne mir zum Ende des Bewerbungsgesprächs gesagt. Schon morgen würde ich alle Details erfahren, die Papiere unterschreiben und Irmgard mit der Neuigkeit überraschen. Leise seufzend und aufgeregt kuschelte ich mich in die Bettdecke.
Ich erwartete den neuen Morgen, der die Dinge ins Rollen bringen würde.
Ich würde ein neues, unabhängiges Leben in England beginnen, endlich mein eigenes Leben.
Version 2