Von Jola Horn
Das Badezimmer ist klein. Es passen gerade so eine schmale, ebenerdige Dusche, eine Toilette und ein Waschbecken in den Raum. Mit den dunklen Fliesen am Boden und den weißen Fliesen an den Wänden wirkt der Raum kalt. Das Einzige, was bunt ist, ist das Duschmittel, das in der Dusche steht. Durch die Flasche strahlt das Hellgrün vom Duschmittel und wirkt in dem kahlen Raum umso intensiver. An der Wand über den Waschbecken hängt ein Spiegel. In dem Spiegel sehe ich mich.
Ich bin total verschlafen. Meine Augen sind nur halb geöffnet, mein Gesichtsausdruck ist neutral. Müde nehme ich die Zahnbürste vom Waschbecken und quetsche den letzten Rest Zahnpasta aus der Tube. Mit wenig Elan putze ich mir die Zähne und suche bei Google mit der anderen Hand, wie das Wetter heute wird. Direkt warnt mein Handy mich vor extremer Hitze. Es sollen 34 Grad werden. Schlecht gelaunt über die Prognose lege ich mein Handy weg und spucke die Zahnpasta aus. Ich suche in einem kleinen Korb mit Krimskrams die Sonnencreme. Unter der Haarbürste und dem Nageletui finde ich sie. Ich mache die Tube auf und quetsche etwas Sonnencreme auf meine Hand.
Ich fange an, mich einzucremen. Meine blasse Haut erzählt eine Geschichte. Die erste Geschichte handelt von der Narbe an meinem Kinn. Ich erinnere mich noch gut an den Fahrradunfall, den ich mit 10 Jahren hatte. Ich bin über den Lenker meines roten Fahrrads gestürzt und mit dem Kinn auf dem Asphalt aufgekommen. Vier Stiche hat es gebraucht, um die Platzwunde zu verschließen. Die Narbe ist mittlerweile gut verheilt. Kaum jemand fällt sie auf. Die Spur auf meiner Haut.
Gedankenverloren creme ich meine Oberarme ein. Hier geht die Geschichte weiter. Die Narbe von einem Mückenstich, den ich immer wieder aufgekratzt habe. Da war ich mit 11 Jahren im Urlaub an der Nordsee. Es war ein schöner Urlaub, nur leider gab es viel zu viele Mücken. Die Narbe ist stark verblasst und fällt niemandem auf. Die Spur auf meiner Haut.
Ganz im Gegensatz zu den Narben darunter, am Unterarm. Mit zwölf Jahren hat mich dort eine kleine Katze gebissen. Die Wunde hatte sich damals schlimm entzündet. Die zwei länglichen Narben erinnern mich jeden Tag an den Krankenhausaufenthalt, an die Operation und an die Schmerzen. Die Schmerzen waren damals unerträglich. Die Narben, noch nicht ganz verblasst, creme ich extra dick mit Sonnencreme ein. Oft werde ich gefragt, woher sie stammen. Sie scheinen den Leuten gerade so ins Auge zu springen. Die zwei rötlichen, länglichen Narben. Die Spuren auf meiner Haut.
Die meisten Geschichten erzählt mein linker Unterarm. Warum der linke und nicht der rechte? Weil ich Rechtshänderin bin und dementsprechend mit rechts die Rasierklingen gehalten habe. Die Quernarben erzählen Geschichten aus meiner Zeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Sie erzählen, wie ich mit 13 Jahren heimlich Rasierklingen gekauft und in die Psychiatrie geschmuggelt habe, vorbei an den Kontrollen des Pflegepersonals. Jede Narbe stammt von Tagen, an denen ich dachte, ich bin am Tiefpunkt angekommen. An den Tagen fühlte ich mich leer. Die Schnitte waren der Versuch, etwas anderes als Leere zu spüren. Gleichzeitig waren sie der Versuch, zu zeigen, wie schlecht es mir ging. Es hat 21 Narben gebraucht, bis man die Rasierklingen fand und sie mir wegnahm. Jetzt bin ich froh, dass die Klingen gefunden wurden. Doch bin ich auch traurig, dass ich damals dachte, es wäre ein Weg, etwas zu spüren.
Nach sechs Monaten war ich zurück in der Schule. Mit deutlichen Spuren auf meiner Haut. 21 Narben prägten jetzt meinen Unterarm. Ich war stets bemüht, sie zu verstecken, mit Armbändern, mit Make-up und langen Pullovern. Diese Spuren auf meiner Haut sollte niemand sehen.
Die Narben verblassten und als ich 16 Jahre alt war, waren sie kaum noch zu sehen. Wieder war ich lange in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ich schmuggelte wieder Rasierklingen an dem Personal vorbei. Nur diesmal mit einem anderen Ziel. Die daraus entstandene Narbe ist meine auffälligste Narbe. Die Spur erzählt von dem Tag, an dem ich mein Leben beenden wollte. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich mit zittriger Hand die Rasierklingen in dem kleinen, dunklen Badezimmer auf der psychiatrischen Station hielt. Die Augen der Pflegerin, die mich fand, werde ich nie vergessen. Sie waren voller Panik, Überraschung und Entsetzen. Es hatte niemand damit gerechnet, dass ich „ES“ versuche. Niemand wusste, wie schlecht es mir wirklich ging.
Wieder versuchte ich, die Narbe mit Make-up und langen Pullovern zu verstecken. Aber an Tagen wie heute, an denen es so heiß ist, kann ich keinen Pullover tragen und Make-up zerfließt durch den Schweiß. Wenn ich sie nicht verstecke, werde ich oft gefragt, ob die Narbe von einer OP stammt. Was antwortet man auf so eine Frage? Wenn ich ehrlich zu den Leuten bin, sind sie oft sehr verlegen und betroffen. Das ist für mich immer sehr unangenehm.
Gedankenverloren versuche ich, den letzten Rest Sonnencreme aus der Tube zu drücken. Durch meine von der Sonnencreme benetzten Finger flutscht die Tube aus meiner Hand quer durchs Badezimmer in die Dusche. Genervt wasche ich mir die Sonnencreme von den Händen und nehme die Tube aus der Dusche. Nun gelingt es mir noch, etwas Creme aus der Verpackung zu drücken. Ich creme mich weiter ein.
Das beschriebene sind aber nur die Spuren, die jede Person sehen kann. Die inneren Verletzungen kann man nicht sehen. Niemand kann sie sehen. Niemand weiß, dass sie da sind. Niemand, bis auf meine Psychotherapeutin.
Die tiefste innere Spur erzählt eine Geschichte, in der ich sieben Jahre alt bin. Ich war in der zweiten Klasse der Grundschule. Meine Eltern freundeten sich mit dem Nachbarn an. Ein Rentner, ca. Mitte 60, mit grauem Bart und Glatze. Regelmäßig aßen meine Eltern und ich mit ihm zu Abend. Irgendwann bot er meinen Eltern an, dass ich nach der Schule zu ihm kommen könnte, wenn meine Eltern noch arbeiten. Meine Eltern, beide Vollzeit arbeitend, waren erleichtert über das Angebot. Sie dachten sich nichts weiter dabei. Für sie war er der nette, kinderliebe Nachbar. Immerhin hatte er selbst vier Enkelkinder, die er regelmäßig betreute. Alle mochten ihn, anfangs auch ich. Die ersten Male, als ich mit ihm allein war, waren schön. Wir haben gemacht, was ich wollte und es gab viele Süßigkeiten. Wir spielten oft in seinem Wohnzimmer mit den großen Fenstern, die den Raum hell erleuchteten. Ich freundete mich mit ihm an. Aber dann sollte sich alles ändern. Eines Tages fragte er mich, ob ich ein Geheimnis für mich behalten kann. Ich versprach ihm nichts zu sagen. Dann zeigte er mir etwas, was ich Geheim halten sollte. Anschließend fühlte ich mich sehr schlecht. Aber ich nahm mein Versprechen sehr ernst und sagte nichts. Das Geheimnis zerriss mich innerlich. Mich plagten die Albträume vier lange Jahre. Vier Jahre wachte ich fast jede Nacht schweißgebadet auf.
Heute weiß ich dank meiner Therapeutin, dass sein Verhalten falsch war und mich keine Schuld trifft. Ich war ein Kind und er war der Verantwortliche. Vorher gab ich mir Jahrelang die Schuld. Mich plagten Gedanken wie „habe ich das provoziert?“ und „Ich habe das verdient“ . Ich arbeite mit der Therapeutin meine Erfahrungen auf. Das hilft mir sehr.
Ich schäme mich für keine einzige meiner Narben. Nur fällt mir manchmal der Umgang mit ihnen schwer. Aber das liegt an der Reaktion der Menschen um mich herum. Für mich ist das Kapitel in meinem Leben abgeschlossen, in dem ich mich selbstverletze oder versuche, mich umzubringen. Meine Narben erzählen die Geschichte von diesem Kapitel. Doch die Menschen, die mich nach meinen Narben fragen, können nicht mit den Geschichten umgehen.
Gedankenverloren lege ich die nun fast leere Sonnencreme zurück in den Korb. Ich gucke in den Spiegel und sehe mich. Mich, die junge Frau, mit vielen Spuren auf ihrer Haut. Jede Spur erzählt eine Geschichte. Nur ist es meist keine gute. Trotzdem oder vor allem dem strahlt die junge Frau im Spiegel Selbstbewusstsein, Empathie, Warmherzigkeit und Optimismus aus.
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